Nationalismus, Patriotismus und Loyalität zur offenen Republik
Patriotismus als Gegengift des Nationalismus?
Der Nationalismus als Liebe zur Kulturnation war mitnichten ein rein deutsches Phänomen. Man findet ihn in unterschiedlichen Variationen in der Geschichte der meisten Nationalstaaten wieder. Allerdings hat sich der Patriotismus oft - jedoch nicht immer und nicht automatisch - in den modernen Republiken als Gegengift gegen das Gefährdungspotenzial des Nationalismus ausgewirkt.[18] Freilich wurde er immer wieder als Fassade für die Unterdrückung fremder Völker und für gewaltvolle Eroberungen missbraucht. Nicht von ungefähr hat der französische Schriftsteller Romain Gary den Nationalismus als "Krebsgeschwür des Patriotismus" bezeichnet.[19] Emanzipatorische Freiheitskämpfe wiederum wurden teilweise durch einen kulturalistischen Nationalismus angetrieben.[20] Dennoch hat die mit dem republikanischen Patriotismus verbundene Idee der politischen Staatsnation die Vermehrung von menschenabgrenzenden "völkischen" und von menschenverachtenden rassistischen Bewegungen gebremst.Auch wenn der Patriotismus sich nicht immer leicht vom Nationalismus unterscheiden lässt - Maurizio Viroli spricht zu Recht von einer "Nationalisierung des Patriotismus" im 19. Jahrhundert -,[21] hat er dafür gesorgt, dass die modernen Republiken nicht primär als kulturelle bzw. ethnische Einheiten verstanden wurden, sondern als nicht angestammte, politische "Gemeinschaften von Staatsbürgern".[22] Der "citoyen" bzw. der " citizen" ist in diesem Konzept kein konkreter, in ein besonderes kulturelles bzw. soziales Umfeld eingebetteter Mensch, sondern eine juristische und politische Abstraktion. Durch die Hervorhebung der abstrakten Figur des Staatsbürgers wollte man das Individuum vor den repressiven Tendenzen partikularer Kulturen und Traditionen schützen, die prinzipielle Gleichheit der Einzelnen betonen und das Denken in universalistischen Kategorien erst möglich machen. Der Staatsbürger kann sich zugleich als Weltbürger definieren, während dies für den Nationalisten unmöglich ist: "Das Abstrakte verbindet die Menschen, nicht das Konkrete! Die Kulturen trennen die Menschen, die Zivilisation vereint sie!"[23]
Virolis These vom Patriotismus als "Gegengift" des Nationalismus ist nicht unwidersprochen geblieben. So sieht Bernard Yack im heutigen Rekurs auf den Patriotismus die Entstehung eines neuen Mythos, der nicht weniger gefährlich sei als derjenige der ethnischen Nation. Auch wenn der Patriotismus möglicherweise in der Vergangenheit das alltägliche Engagement der Einzelnen für das Gemeinwesen gestärkt hat, wies er - wie der Nationalismus auch - in der politischen Alltagspraxis ein starkes Ab- und Ausgrenzungspotenzial auf.[24] So waren zum einen die Ausländer und Metöken in Athen von jeglicher Teilhabe an der Politik ausgeschlossen, und zum anderen war die Außenwirkung der attischen Polis vom imperialistischen Streben und von einer knallharten Machtpolitik geprägt, wie man im "Melierdialog" Thukydides' beeindruckend feststellen kann. Die republikanisch gesinnten Römer haben den Patriotismus zwar als Liebe zur Freiheit undzu den Gesetzen verstanden,[25] dies hat jedoch die Außenpolitik Roms kaum wenigeraggressiv gemacht, auch wenn die von den Römern eroberten Gebiete ein gewisses Selbstbestimmungsrecht erhielten. Während der Französischen Revolution wurde den Juden und Protestanten zwar die Staatsbürgerschaft gewährt, und am 22. Mai 1790 verabschiedete die Nationalversammlung sogar eine "Friedensdeklaration an die Welt", in der die französische Nation auf Eroberungskriege verzichtete. Allerdings wurden auch in diesen bewegten Zeiten die so genannten inneren "Feinde der Revolution" zu ausgegrenzten Nicht-Franzosen gemacht und Kriege mit missionarischem Eifer geführt.
Nach Nicholas Xenos lassen sich solche Ab- und Ausgrenzungen dadurch erklären, dass die Verfechter des Patriotismus sich nicht selten der Metapher der "Familie" bedienten, um auf die Tiefe ihrer Liebe zum "Vaterland" hinzuweisen. So bezeichnete der Republikaner Jean-Jacques Rousseau die Patria als "die gemeinschaftliche Mutter der Bürger".[26] Dadurch wurde die politische Sicht der Polis teilweise durch eine organisch-naturalistische ersetzt.[27] Die Aufladung der nationalen Zugehörigkeit mit familiären Zuneigungen führt Kommunitarier wie Alasdair MacIntyre heute dazu, die "liberale" Vorstellung, wonach der Patriot die Schranken, "die der neutrale moralische Standpunkt errichtet hat", nicht überschreiten darf, schroff abzulehnen.[28]
Der Patriotismus war ohnehin selten frei von jeglichem Nationalismus. Selbst bei den Aufklärern und Republikanern Rousseau und Kant lassen sich Äußerungen finden, die belegen, dass auch sie die Nation als vorpolitische Gemeinschaft gedacht haben. So plädierte Rousseau - wie später auch Herder - für den Erhalt der kulturellen Vielfalt der Nationen. "Es gibt", bedauert er, "heutzutage, was immer man auch sagen mag, keine Franzosen, keine Deutschen, keine Spanier, selbst keine Engländer mehr, es gibt nur noch Europäer."[29] Dadurch verlieren die einzelnen Nationen nicht nur an Eigenschaften, sondern auch an Kraft und Vitalität. "Gebt den Leidenschaften der Polen eine andre Richtung", verlangt Rousseau, "und ihr werdet ihren Seelen nationale Züge geben, die sie von andern Völkern unterscheiden werden, die sie hindern, sich mit ihnen zu vermengen, sich bei ihnen zu gefallen und sich mit ihnen zu verbrüdern, und ihr werdet ihnen eine Eigenkraft geben, die das mißbräuchliche Spiel leerer Vorschriften ersetzen und sie aus Lust und Liebe das tun lassen wird, was nicht gut genug getan wird, wenn es aus bloßer Pflicht oder aus Eigennutz geschieht. In solchen Seelen wird dann eine wohlangepaßte Gesetzgebung Fuß fassen."[30]
Immanuel Kant definiert seinerseits in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" das nationale Volk durch den Bezug auf eine angebliche Abstammung. Dabei handelt es sich seiner Ansicht nach um "die in einem Landstrich vereinigte Menge, in so fern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt."[31] Kant schließt sich hier einer objektivistischen Auffassung von Volk und Nation an. Allerdings vertritt er unmittelbar danach auch eine subjektivistische (politische) Sicht der Nation. Er ist nach altrömischer Art der Auffassung, dass zur Nation nur der Teil der ursprünglichen Menge gehört, der bereit ist, die gemeinsamen Gesetze anzuerkennen.