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Ethnischer Föderalismus in Äthiopien

Zemelak Ayele Julia Günther

/ 18 Minuten zu lesen

Die äthiopische Verfassung garantiert jeder ethnischen Gruppe im Land weitreichende Selbstverwaltungsrechte. Doch die derzeitige föderale Ausgestaltung scheint ethnische Konflikte eher zu befördern als sie zu befrieden.

Am 10. Dezember 2019 verlieh das norwegische Nobelkomitee dem äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed den Friedensnobelpreis. Bei der Zeremonie nannte die Vorsitzende des Komitees, Berit Reiss-Andersen, drei Gründe für die Entscheidung. Der erste ist die ausschlaggebende Rolle, die Abiy im Sommer 2018 beim historischen Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea gespielt hat. Seit dem Ende des Grenzkrieges von 1998 bis 2000 hatten sich beide Länder in einer Art "Kaltem Frieden" befunden. Der zweite Grund liegt in Abiys Engagement bei diversen Friedensbemühungen am Horn von Afrika, eine der wohl instabilsten Regionen des Kontinents. Der dritte Grund, auf dem der Fokus dieses Artikels liegt, bezieht sich auf die innenpolitischen und institutionellen Reformen, die seit Abiys Amtsantritt im April 2018 angestoßen wurden. Reiss-Andersen würdigte etwa die vermehrte Berufung von Frauen in höchste Ämter, die Beendigung des politischen Ausnahmezustands, die Freilassung politischer Gefangener sowie die Aufhebung repressiver Gesetze, unter denen Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen jahrzehntelang gelitten hatten. Sie erwähnte zudem, dass Abiy unter turbulenten politischen Umständen, die in erster Linie durch ethnische Konflikte verursacht waren, ins Amt gekommen war.

Tatsächlich sind die ethnischen Konfliktlinien nach wie vor die größte Herausforderung, vor der Äthiopien heute steht. Die rund 110 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes verteilen sich auf über 80 ethnische Gruppen, unter denen die Oromo, etwa ein Drittel der Bevölkerung, und die Amhara, etwa ein Viertel der Bevölkerung, die beiden größten sind. Obwohl das föderale System des Landes auf dem Prinzip ethnischer Selbstbestimmung beruht, hat die von 1991 bis 2019 unter dem Namen Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) regierende Parteienkoalition die Forderungen ethnischer Gruppen zumeist unterdrückt – offiziell, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben.

Heute, mit der politischen Öffnung, tragen Dutzende ethnische Gruppen ihre konkurrierenden Ansprüche auf Land, Ressourcen und politische Einflussmöglichkeiten vor und machen den Frustrationen der vergangenen Jahrzehnte Luft. Das Ergebnis ist ein Anstieg ethnischer Spannungen und Gewaltkonflikte in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß, was in Teilen des Landes zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung geführt hat. Der Global Peace Index, mit dem die Friedfertigkeit von Ländern und Regionen verglichen wird, verortet Äthiopien aktuell auf Platz 131 von 163. Die International Crisis Group nennt Äthiopien in ihrer Liste der zehn Konflikte, die es 2020 im Auge zu behalten gilt, an dritter Stelle. Ethnische Konflikte könnten demnach, ähnlich wie im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre, zu einer Zersplitterung des Landes führen.

Die genannten Aspekte werfen drei Fragen auf, denen wir im Folgenden nachgehen werden: Warum birgt das Thema Volkszugehörigkeit in Äthiopien so großes Konfliktpotenzial? Welche institutionellen Mechanismen sollen und können das im politischen System auffangen? Und was sind die Auswirkungen dieser institutionellen Antworten, insbesondere des ethnischen föderalen Systems, im Hinblick auf ethnische Konflikte?

"Museum" oder "Gefängnis der Völker"?

Der italienische Orientalist Carlo Conti Rossini schrieb in den 1930er Jahren von einem "museo di popoli", einem Museum der Völker, um die Diversität der in Äthiopien lebenden Volksgruppen zu beschreiben. So, wie er ihn nutzte, hatte der Begriff eine positive Konnotation und sollte wohl unterstreichen, wie vielfältig die Äthiopierinnen und Äthiopier seien. Ganz anders klingt es dagegen beim marxistischen Aktivisten Wallelign Mekonnen, dem die Charakterisierung Äthiopiens als "Gefängnis der Völker" zugeschrieben wird. Als Politikstudent stellte Wallelign 1969 erstmals offen die Frage nach den Nationalitäten in Äthiopien: In einem Artikel für die Zeitschrift "Struggle" verwarf er die Annahme, dass Äthiopien ein Nationalstaat sei und vertrat die Ansicht, das Land bestehe vielmehr aus verschiedensten Nationalitäten. Einen "äthiopischen Nationalismus" lehnte er ab, weil dieser nur die kulturelle Dominanz der Amharen und die Unterwerfung der anderen Nationalitäten befördere. Stattdessen forderte er einen "echten" Nationalstaat unter sozialistischen Vorzeichen, in dem "jede Nationalität gleiche Chancen hat, ihre Sprache, ihre Musik und ihre Geschichte zu pflegen und zu entwickeln".

In der Tat passt Conti Rossinis Ausdruck zu Äthiopien, dessen Bevölkerung im Hinblick auf Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen bemerkenswert divers ist. Ob das Land aber auch ein "Gefängnis der Völker" ist, bleibt bis heute eine umstrittene Frage. Klar ist jedoch, dass sich die EPRDF auf Walleligns Analyse stützte, als sie den äthiopischen Staat Anfang der 1990er Jahre umstrukturierte und damit das heutige föderale System schuf. Die Parteienkoalition, bestehend aus der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), der Oromo People’s Democratic Organization (OPDO), dem Amhara National Democratic Movement (ANDM) sowie der Southern Ethiopian People’s Democratic Front (SEPDF), hatte im Mai 1991 die fast zwei Jahrzehnte währende Militärdiktatur des Derg-Regimes beendet. Zur kurz darauf einberufenen "Peaceful and Democratic Transition Conference of Ethiopia" lud sie allerdings lediglich Vertreter ethnisch organisierter Bewegungen ein. Die Beteiligten einigten sich auf eine Übergangscharta, in der vor allem die historische politische und kulturelle Unterdrückung der verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes betont wurde. Zudem wurde das Selbstbestimmungsrecht jeder ethnischen Gruppe ausdrücklich anerkannt, was bis zum Recht zur Sezession reicht. Darüber hinaus wurden die Verwaltungsgrenzen entlang ethnischer Linien neu geordnet. Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung 1995 wurde dieses System des ethnischen Föderalismus schließlich festgeschrieben.

Das föderale System

Durch die Verfassung von 1995 wurde Ethnizität zum wichtigsten, wenn nicht einzigen Faktor staatlicher Organisation. Bereits in der Präambel, die mit den Worten "Wir, die Nationen, Nationalitäten und Völker" beginnt, wird die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien als eine "Föderation ethnischer Gruppen" konzeptualisiert. Demnach sei Äthiopien ein Staat, der von diesen Gruppen gegründet wurde und ihnen auch gehört. Das Recht auf Selbstbestimmung jeder ethnischen Gruppe ist daher ein grundlegendes Prinzip des föderalen Systems. Nur durch die Zugehörigkeit zu einer der ethnischen Gruppen des Landes wird man äthiopischer Staatsbürger oder äthiopische Staatsbürgerin.

Äthiopien 2020 (politisch) (© mr-kartographie, Gotha 2020)

Das Recht auf Selbstbestimmung findet in erster Linie Ausdruck im Recht auf territoriale Autonomie auf subnationaler, also regionaler und lokaler Ebene. So entstanden neun ethnisch definierte Regionalstaaten – Tigray, Afar, Amhara, Oromia, Somali, Benishangul-Gumuz, Gambela, Harar und die Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SNNP) – sowie die beiden Stadtstaaten Addis Abeba und Dire Dawa (siehe Karte). Die ersten vier Regionen werden jeweils als "Heimatland" derjenigen ethnischen Gruppe angesehen, deren Namen sie tragen, auch wenn weitere ethnische Minderheiten dort leben. Die anderen Regionen, insbesondere die SNNP, werden von mehreren ethnischen Gruppen geteilt, die aber auf lokaler Ebene ebenfalls Autonomie genießen. Auch ihnen steht laut Verfassung das Recht zu, sich abzuspalten und jeweils eigene Regionalstaaten zu gründen, ebenso wie das Recht, die Föderation vollständig zu verlassen. So haben etwa die Sidama, eine der Gruppen in der Südregion, in einem Referendum im November 2019 mit überwältigender Mehrheit für die Etablierung eines eigenen Regionalstaates gestimmt. Zehn weitere Gruppen haben offiziell angekündigt, sich von der Südregion abspalten zu wollen. In der Umsetzung bedeutet dieses föderale Prinzip letztlich, dass Äthiopien in mehr als 80 Regionalstaaten oder unabhängige Einzelstaaten zerfallen könnte.

Ein weiterer Aspekt des ethnischen Föderalismus betrifft die Vertretung in allen Institutionen auf Bundesebene. Die Verfassung erfordert etwa eine proportionale Repräsentation aller ethnischen Gruppen in beiden Kammern des Parlaments. Im Unterhaus (Volksrepräsentantenhaus) sollen mindestens 20 Sitze für Vertreter von Minderheiten reserviert sein. Im Oberhaus (Bundeshaus) sollen alle ethnischen Gruppen jeweils durch mindestens einen Abgeordneten vertreten sein und pro eine Million Angehörige einen weiteren Vertreter entsenden. Konstitutionell hat das Bundeshaus auch die Aufgabe, im Konfliktfall zwischen den ethnischen Gruppen zu vermitteln.

Vor- und Nachteile

Das föderale System hat denjenigen ethnischen Gruppen, die zuvor wirtschaftlich, kulturell und politisch marginalisiert waren, zahlreiche Vorteile gebracht. Es ermöglichte ihnen eigene Territorien, innerhalb derer sie ihre kulturellen Identitäten schützen und fördern können. Viele ethnische Gemeinschaften haben Selbstverwaltungen auf regionalstaatlicher oder lokaler Ebene errichtet, die von Politikern und Beamten geführt werden, die aus ihrer eigenen Gruppe stammen. Rechtsstreitigkeiten werden vor Gerichten gelöst, deren Richter der lokalen Gemeinschaft angehören. In den Schulen werden Kinder in ihren jeweiligen Muttersprachen unterrichtet, wo zuvor lediglich amharischer Unterricht stattfand. All das wirkt sich positiv auf die Ermächtigung vormals unterdrückter Gruppen aus, die auf diese Weise ihre Würde, ihre Bedeutung und Integrität wiederherstellen können. Auch finanziell hat sich der Föderalismus für viele Gruppen positiv ausgewirkt, da gerade diejenigen mit geringen eigenen Ressourcen durch Umverteilungsmechanismen von anderen Regionen profitieren.

Jedoch birgt das föderale System auch grundlegende Probleme. Viele Beobachter führen an, dass das Gründungsprinzip des ethnischen Föderalismus auf einem verkürzten Verständnis von Ethnizität beruht. Die den inneren Grenzziehungen zugrundeliegende Annahme, dass Identitäten starr und ethnische Gemeinschaften unveränderliche Kategorien seien, ignoriere die demografischen und kulturellen Realitäten des Landes, die durch Jahrhunderte der Migration und Interaktion zwischen verschiedenen Gemeinschaften gekennzeichnet sind. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens führt das Prinzip, dass jeder offiziell nur einer ethnischen Gruppe angehören kann, dazu, dass diejenigen, die in interethnische Familien geboren werden oder sich schlicht nicht über eine einzige ethnische Herkunft identifizieren wollen, in dieser Ordnung keinen Platz haben. Sie sind üblicherweise gezwungen, die Ethnie nur eines Elternteils, meistens die des Vaters, anzunehmen. Zweitens besitzen nur Gemeinschaften, die in einem bestimmten Gebiet als "beheimatet" gelten, das Recht auf Selbstbestimmung. Zugezogene werden nicht als Teilhabende angesehen; entsprechend begrenzt sind ihre politischen Partizipationsmöglichkeiten. Von politischen Ämtern werden sie meist ausgeschlossen, zum Beispiel aus sprachlichen Gründen.

Weiterhin wird am föderalen System kritisiert, dass es ethnische Gruppen voneinander trenne und eher ihre Differenzen als Gemeinsamkeiten betone. Dies schwäche den Zusammenhalt im Land insgesamt. Gleichzeitig bestehen in den einzelnen Territorien Spannungen fort, denn es gibt auf jeder Ebene Minderheiten, die sich von einer ethnischen Mehrheit in dem jeweiligen Regionalstaat oder der Verwaltungszone dominiert fühlen. Das föderale System stärkt dabei vor allem ethnopolitische "Unternehmer", also diejenigen Eliten, die aus Machtinteressen die ethnische Agenda vorantreiben: Mehr als 70 Prozent der politischen Parteien in Äthiopien sind entlang ethnischer Linien organisiert und erheben zum größten Teil die Forderung nach einem eigenen Regionalstaat oder einer lokalen Verwaltungseinheit. Diese Eliten mobilisieren ihre Unterstützer rund um dieses Thema, selbst dann, wenn es gegen die ökonomischen oder politischen Interessen der Gruppe spricht, die sie vertreten.

Auf diese Weise werden ethnische Identitäten nicht nur verstärkt, sie werden auch gegeneinander gewendet, und zwar zunehmend als Wettstreit um Ressourcen. Das gilt insbesondere für die Regionen im Tiefland, in denen nomadische Viehhalter leben, zum Beispiel in Afar, Gambela, Somali oder Teilen Oromias. Diese ziehen je nach Jahreszeit innerhalb bestimmter "natürlicher" Grenzen auf der Suche nach Weideflächen von einem Ort zum nächsten. Ihre traditionelle Lebensweise ist durch die internationalen Grenzen mit den Nachbarländern ohnehin schon eingeschränkt – die Schaffung ethnisch definierter regionaler und lokaler Gebietseinheiten schränkt ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich ein. So können Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Viehhirten und ansässigen Bauern um Weideland und Zugang zu Wasser zu regionalen und gleichzeitig ethnischen Konflikten zwischen benachbarten Gruppen werden.

Die Komplikationen rund um die Grenzziehung zwischen den Regionen Oromia und Somali verdeutlichen die Problematik: Beide Regionalregierungen haben wiederholt Territorium entlang der Grenze für sich beansprucht. Der Großteil der umstrittenen Orte wurde schließlich in einem Referendum 2004 Oromia zugesprochen, und viele Somali flohen aus den betroffenen Gebieten. In der Folge kam es zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Somali und Oromo. Eskalierend wirkte sich dabei der Einsatz regionaler paramilitärischer Spezialkräfte aus, die auf beiden Seiten brutal gegen Zivilisten vorgingen. 2017 und 2018 weitete sich der Konflikt zu einem Krieg aus.

Rolle der EPRDF

Ungeachtet dieser Vor- und Nachteile ist festzustellen, dass das föderale System nie in der Weise zum Tragen kam, wie es in der Verfassung von 1995 vorgesehen ist. Das liegt hauptsächlich an der Führung der EPRDF, die das Land fast drei Jahrzehnte lang zentralistisch und autoritär gelenkt hat. Derzeit befindet sich die Parteienkoalition in einem Transformationsprozess. Drei der vier Koalitionsparteien – alle außer der TPLF – haben sich im Dezember 2019 mit weiteren kleineren Parteien zur Prosperity Party (PP) zusammengeschlossen.

Bis dahin bildete die EPRDF das Zentrum äthiopischer Politik. Die Koalition bestand aus vier ethnisch organisierten Parteien, von denen jede gleichzeitig die Regierung in einem Regionalstaat innehatte: Die TPLF in Tigray, die ANDM in Amhara, die OPDO in Oromia und die SEPDF in der Südregion. Die weiteren fünf Regionen wurden von Satellitenparteien der EPRDF geführt. Doch auch wenn verschiedene ethnische Gruppen durch die EPRDF an der Regierung beteiligt waren, waren diese nie Partner auf Augenhöhe. Nach dem Sieg über das Derg-Regime war es die TPLF, die die Gründung politisch gleichgesinnter, ethnisch organisierter Parteien in den anderen Regionen Äthiopiens veranlasste. Was später die OPDO wurde, entstand durch ehemalige Kriegsgefangene der TPLF in Oromia. Eine vormals bundesweit aufgestellte Partei wurde auf Bestreben der TPLF zur Regionalpartei der Amharen, der ANDM, umstrukturiert. In den anderen Regionen ging die TPLF ähnlich vor und schuf sich so ethnisch organisierte Partnerorganisationen unter den Afar, den Somali, den Gambela und vielen weiteren Gruppen. Es entstand immer mehr der Eindruck, dass die TPLF, eigentlich die Vertreterin einer vergleichsweise kleinen ethnischen Minderheit von etwa sechs Prozent der Bevölkerung, die alleinige Regierungsmacht innehatte und alle politischen Entscheidungen bestimmte – verkörpert durch den mächtigen Ministerpräsidenten und Parteichef Meles Zenawi. Mindestens bis zu seinem Tod 2012 wurden die anderen Mitglieder der Koalition mehr oder weniger als Marionetten betrachtet.

Die EPRDF steuerte das föderale System zudem nach dem sozialistischen Prinzip des "demokratischen Zentralismus". Das heißt, dass die Partei trotz dezentraler Verwaltungsstrukturen im Grunde zentralistisch organisiert blieb; sie wurde von einem Zentralkomitee und einem Politbüro geleitet, die Entscheidungen bis in die kommunale Ebene durchsetzten. Partei- und Staatsstrukturen waren dabei eng miteinander verwoben. Die regionalen und lokalen Regierungen waren den Entscheidungen der Zentralregierung unterstellt und letztlich nur ausführende Organe.

Die Zentralisierung verschärfte sich noch, als in den frühen 2000er Jahren das Paradigma des "Developmental State" nach ostasiatischem Vorbild die äthiopische Wirtschaftspolitik bestimmte. Forderungen nach politischer Autonomie im Sinne der Selbstbestimmungsrechte in der Verfassung wurden als entwicklungsschädlich zurückgewiesen, etwa die Forderung der Sidama nach einem eigenen Regionalstaat. Im Zuge dessen brachte die Zentralregierung große Infrastrukturprojekte auf den Weg, wofür große Landflächen an Investoren verkauft wurden, ohne die lokale Bevölkerung in Entscheidungen einzubeziehen. Durch diese Bodenpolitik wurden einerseits die Selbstbestimmungsrechte der ethnischen Gruppen verletzt und andererseits ohnehin komplizierte Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen um Landbesitz verschärft.

Von den Protesten 2015 zur Ernennung Abiys

Es wird deutlich, dass das föderale System in Äthiopien formal zwar weitgehende Autonomie und Mitbestimmungsrechte für ethnische Gruppen vorsieht, dass diese in der politischen Realität aber kaum verwirklicht wurden. Vielmehr führten unerfüllte Erwartungen und der Eindruck, dass mit der TPLF eine Minderheit über die anderen ethnischen Gruppen bestimmte, zu Enttäuschungen und Frustrationen bei vielen Äthiopiern. Besonders deutlich äußerte sich das bei den Oromo und Amharen. In Verbindung mit repressiven Gesetzen, der systematischen Verletzung von Menschenrechten, wachsender Ungleichheit und der steigenden Wahrnehmung von Korruption führte dies schließlich dazu, dass sich die angestaute Wut ab 2015 öffentlich entlud.

Der Tod von Meles Zenawi und die Machtlücke, die er hinterließ, bereiteten den politischen Boden, um sich offen über Missstände äußern zu können. Hailemariam Desalegn, der Meles Zenawi als Vorsitzender der EPRDF und Ministerpräsident des Landes folgte, wurde nicht zugetraut, in gleicher Weise die politische Macht auf sich zu vereinen. Gleichzeitig verdeutlichte das Ergebnis der Parlamentswahl im Mai 2015, bei der die EPRDF nahezu einen 100-Prozent-Sieg errang und in der Folge alle Oppositionsparteien von der politischen Mitwirkung ausschloss, dass die Partei unverändert autoritär war. Wenige Monate nach der Wahl begannen massive Proteste.

Die Demonstrationen wurden zunächst durch den sogenannten Addis Abeba Masterplan ausgelöst. Dieser sah vor, die Hauptstadt auf Gebiete in Oromia auszudehnen. Viele ethnische Oromo sahen dadurch die territorialen Rechte von Oromia bedroht. Die Proteste weiteten sich rasch in andere Regionen aus, und konnten lange nicht befriedet werden – obwohl die Regierung den Plan 2016 zurückzog. Im Oktober desselben Jahres wurde ein Ausnahmezustand verhängt, woraufhin die Armee, deren Führung zumeist mit der TPLF assoziiert wird, die Proteste teils blutig niederschlug. Auf der Grundlage eines Antiterrorgesetzes von 2009 ging die Regierung gegen Demonstrierende, Oppositionelle und Medienvertreter vor.

Gleichzeitig begannen Machtkämpfe innerhalb der EPRDF: Die Koalitionspartner aus Oromia und Amhara forderten mehr Autonomie für ihre Regionalregierungen, der Parteienverbund drohte auseinanderzubrechen. Viele Institutionen auf Bundesebene sowie in den Regionen erwiesen sich in ihrer Verwicklung mit dem Parteiapparat als ungeeignet, mit den Herausforderungen durch die Massenproteste angemessen umzugehen. Im Februar 2018 kündigte Hailemariam Desalegn schließlich seinen Rücktritt an, und der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Abiy Ahmed wurde als sein Nachfolger bestimmt. Am 2. April 2018 wurde er als erster Oromo als Ministerpräsident vereidigt.

Zwischen Freiheit und Anarchie

Abiy hob den Notstand im Juni 2018 auf. In seinen ersten Monaten im Amt versuchte er, auf oppositionelle Gruppen zuzugehen und auch diejenigen einzubeziehen, die bis dahin als "terroristische Vereinigungen" geächtet waren, etwa die Oromo Liberation Front (OLF), die Ogaden National Liberation Front (ONLF) sowie die Gruppe "Ginbot 7". Fast alle politischen Gruppen kamen seinem Aufruf nach. Viele, die ins Exil gegangen waren, und sogar einige, die im Untergrund in Eritrea einen bewaffneten Kampf gegen die äthiopische Regierung vorbereitet hatten, kehrten zurück. Die politischen Verhandlungen, die daraufhin begannen, mündeten unter anderem in der Revision des Antiterrorgesetzes, woraufhin zahlreiche politische Gefangene freigelassen werden konnten.

Ein weiterer Schritt war die Aufhebung repressiver Mediengesetze, die zuvor den Zugang zu Social-Media-Netzwerken stark eingeschränkt und eine weitgehende Internetzensur ermöglicht hatten. Hunderte gesperrte Websites sind seitdem frei zugänglich, private Rundfunksender haben Lizenzen erhalten und senden verschiedene Programme, darunter unabhängige Nachrichten und politische Kommentare. In der internationalen Rangliste der Pressefreiheit stieg Äthiopien 2019 um 40 Plätze auf Rang 110.

Für die eingeleitete Liberalisierung bekommt Abiy zwar viel Anerkennung, in Äthiopien sind seine Reformen aber auch von Kritik begleitet. Ein Grund dafür ist, dass einige der Rückkehrer aus dem Exil eine ethnonationalistische Agenda verfolgen. Ein Beispiel dafür ist der Aktivist Jawar Mohammed, der seit Jahren über die von ihm gegründete Plattform "Oromia Media Network" von den USA aus großen Einfluss ausübt und als ein Organisator der Oromo-Proteste 2016 gilt. Mit seiner Reichweite über Social-Media-Kanäle ist er insbesondere für die große Gruppe der Qeerroo, einer Jugendbewegung in Oromia, eine Führungsfigur. Darüber hinaus werden auch einige Rundfunksender, die in der Hand von Regionalregierungen sind, zur Verbreitung ethnonationalistischer Inhalte genutzt.

Manche Kritiker deuten den Reformprozess zudem als Schwäche der Bundesregierung. Doch wie schon der Journalist und Politikwissenschaftler René Lefort mit Blick auf die Wahlen 2005 feststellte, wird in Äthiopien, wo politische Freiheit lange Zeit eher die Ausnahme als die Norm war, eine Regierung leicht für schwach gehalten, sobald sie den Menschen ein bisschen mehr Freiheit gewährt.

Ethnische und religiöse Konfliktlinien

Es gibt mehrere Konfliktlinien innerhalb des Landes, die derzeit besonders gefährlich erscheinen. Einerseits spielen sie sich auf der politischen Führungsebene ab: Die Rivalität zwischen der Regierung und Oppositionellen in der Region Oromia dürfte im Vorfeld der nächsten Parlamentswahlen, die aufgrund der Corona-Pandemie vom August 2020 auf unbestimmte Zeit verschoben wurden, noch zunehmen, ebenso können sich die Spannungen zwischen politischen Eliten in Oromia und Amhara verschärfen – auch mit Blick auf ihren politischen Einfluss in der Hauptstadt Addis Abeba. Weiterhin droht eine Verschärfung der Grenzkonflikte zwischen den Regionen Amhara und Tigray sowie der Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung und der politischen Führung in Tigray, die sich vom aktuellen Reformkurs bedroht fühlt. Hinzu kommt der politische Druck, mit dem mehrere ethnische Gruppen in der Südregion SNNP eigene Regionalstaaten fordern, etwa die Wolaytta, Gurage, Hadiya und Kaffa. Sie drohen der Regierung mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung für den Fall, dass ihre Forderungen nicht erfüllt werden.

Andererseits wird deutlich, dass sich die politischen Machtkämpfe auf der Führungsebene auch auf die Gewalt zwischen ethnischen Gruppen auswirken: Bewaffnete Gruppen kämpfen in verschiedenen Teilen des Landes, besonders im westlichen Oromia und in nordwestlichen Teilen Amharas. In den vergangenen Monaten wurden mehrere Menschen entführt, einige ermordet. Historisch gewachsene, ethnisch motivierte Rivalitäten, die von der EPRDF heruntergespielt wurden, brechen immer stärker auf und werden offen ausgetragen. In dieser Hinsicht sind die gewaltsamen Konflikte an der Grenze zwischen Oromia und Somali bislang am blutigsten verlaufen. Hunderte Menschen kamen dabei ums Leben, und mehr als eine Million Menschen wurden vertrieben.

In den vergangenen Jahren sind zunehmend auch religiöse Spannungen zu beobachten, die sich teilweise mit ethnischen Konfliktlinien überschneiden. In denjenigen südlichen Regionen zum Beispiel, in denen es eine muslimische Bevölkerungsmehrheit gibt, assoziieren viele die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche mit einer kulturellen Bevormundung durch den christlich geprägten Norden beziehungsweise durch Amharen und Tigriner. So wurden im Zuge ethnischer Konflikte in Oromia, den SNNP und Somali auch mehrere orthodoxe Kirchen niedergebrannt.

Die Gewaltbereitschaft wird durch Hetze und Hassbotschaften, die über Social-Media-Kanäle große Verbreitung finden, noch verstärkt. Ein Beispiel ist ein Facebook-Post des Oromo-Aktivisten Jawar Mohammed, der im Oktober 2019 zu Zusammenstößen ethnischer Gruppen führte: Er hatte darin staatliche Sicherheitskräfte beschuldigt, einen Anschlag auf ihn zu planen. In der Folge kam es in Addis Abeba sowie mehreren Städten in Oromia zu Gewalt zwischen seinen Unterstützern und anderen Gruppen, was mehr als 80 Menschen das Leben kostete. Im Zusammenhang mit dem Anstieg gewaltsamer Auseinandersetzungen muss auch die zunehmende Verbreitung von Schusswaffen gesehen werden. Im Januar 2020 verabschiedete die äthiopische Regierung ein neues Waffengesetz, um diese Entwicklung einzudämmen.

Folgen und Ausblick

Eine Folge der ethnisch aufgeladenen Konflikte sind Vertreibungen: 2018 zählte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mehr als drei Millionen Binnenvertriebene in Äthiopien. Die meisten von ihnen waren aufgrund ethnischer Gewalt auf der Flucht. Diese Zahl hat sich zwar verringert – unter anderem wegen eines Rückführungsprogramms der Regierung –, aber laut IOM gab es auch 2019 noch 1,6 Millionen Äthiopier, die innerhalb ihres Landes vertrieben worden sind. Verschärfend wirkt sich der Klimawandel aus: Auch wegen Dürren und anderer Umweltkatastrophen müssen viele Menschen ihre Wohnorte verlassen, was wiederum zu Konkurrenzkämpfen um Land und Ressourcen führt.

Die Vertreibungen sind einer der Gründe dafür, dass eine ursprünglich für 2017 geplante Volkszählung mehrfach verschoben werden musste. Die Zensusdaten wären aber eine wichtige Grundlage für eine faire Einteilung von Wahlkreisen. Beobachter befürchten gerade im Vorfeld der verschobenen Wahlen eine weitere Verschärfung der Konflikte durch politische Kampagnen. Während Abiy Ahmed einerseits dafür kritisiert wird, nicht genug gegen die Eskalation ethnischer Konflikte im Land zu unternehmen, wird ihm andererseits die Rückkehr zum autoritären Staat vorgeworfen. So wird etwa an einem Anfang Februar 2019 verabschiedeten Gesetz gegen Hassrede kritisiert, dass es die gerade erlangte Meinungsäußerungsfreiheit wieder einschränke.

Es wird immer deutlicher, dass ethnische Konflikte eine der größten politischen Herausforderungen für Äthiopien sind. Mit Blick auf das ethnische föderale System scheint die derzeitige Ausgestaltung eher zur Eskalation als zur Befriedung der aktuellen Situation beizutragen. Die Vorteile, die der ethnische Föderalismus für die Förderung und den Schutz kultureller Vielfalt bietet, werden von der Politisierung ethnischer Identitäten und den sich daraus ergebenden Konflikten überlagert. Denn zum einen weist die Verfassung grundsätzliche Widersprüche auf, etwa mit Blick auf das Sezessionsrecht einzelner Regionen oder Gruppen. Zum anderen wurden die darin zugesicherten Rechte auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung aller ethnischen Gruppen in fast drei Jahrzehnten nicht realisiert, was Enttäuschungen verursacht und bestehende Spannungen zwischen ethnischen Gruppen verschärft hat, die im Kern die heutigen Konflikte ausmachen.

Der politische Umgang mit der Situation entwickelt sich derzeit in zwei gegensätzliche Richtungen: Während die einen auf mehr Ethnonationalismus setzen und die Menschen auf der Grundlage ihrer Gruppenzugehörigkeit mobilisieren, versuchen andere, darunter Ministerpräsident Abiy Ahmed und diverse oppositionelle Gruppierungen, Politik und ethnische Fragen möglichst voneinander zu trennen, etwa durch eine Umstrukturierung der EPRDF. Derzeit ist vollkommen offen, welche dieser Strömungen sich bei den nächsten Parlamentswahlen durchsetzen wird.

ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Center for Federal and Governance Studies an der Universität Addis Abeba. E-Mail Link: zemelak.ayitenew@aau.edu.et

ist Politikwissenschaftlerin und Volontärin bei der Bundeszentrale für politische Bildung. E-Mail Link: julia.guenther@bpb.de