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Droge Alkohol Editorial Alkohol - der Kampf um die Attribute Alkoholsucht und Familie - Kinder in suchtbelasteten Familien Exzessiver Alkoholkonsum Jugendlicher - Auswege und Alternativen Neue Forschungsergebnisse zur Alkoholabhängigkeit Alkohol im Spannungsfeld von kultureller Prägung und Problemverhalten Alkoholismus Alkohol am Arbeitsplatz

Alkoholismus

Hasso Spode

/ 17 Minuten zu lesen

Der Begriff Alkoholismus zielte lange Zeit primär auf strikte Konsumbegrenzung. In der Nachkriegszeit setzte sich die Bedeutung einer spezifischen Erkrankung (Sucht) durch. Heute haben wir es mit einer Suchtinflation und einer Rückkehr zur Kontrollpolitik zu tun.

Einleitung

Der Begriff "Alkoholismus" hat in seiner kurzen Geschichte ganz unterschiedliche Bedeutungen gehabt und ist bis heute ein schillernder Begriff geblieben.



Diese Geschichte beginnt 1849 mit dem schwedischen Mediziner Magnus Huss: Als "alcoholismus chronicus" hatte er analog zur Bleivergiftung organische (Nerven-)Schädigungen durch starken Alkoholmissbrauch beschrieben. Ganz anders benutzte 1878 der Berliner Gefängnisarzt Abraham Baer das Wort: Für ihn war "Alcoholismus" die Summe der Alkoholfolgeschäden. Fortan galt "Alkoholismus" - nach der Brockhaus-Enzyklopädie 1894 - als "Inbegriff" der "körperlichen, geistigen und sittlichen Schäden und Nachteile" des Missbrauchs geistiger Getränke, dessen "unheilvolle Wirkungen" sich nicht nur auf das "einzelne Individuum", sondern auf die "ganze Gesellschaft" erstrecken.

Alkoholismus als Inbegriff der Folgeschäden

Eine breite soziale Bewegung - die Temperenz- bzw. Antialkoholbewegung - hatte eine globale Thematisierung der "Alkoholfrage" in Gang gesetzt. Unter heftigem Streit spaltete sie sich in einen "mäßigen" und einen "abstinenten" Flügel, dessen Vertreter für die Abschaffung des "Alkoholgifts" kämpften: "Der gefährlichste Feind des Menschen ist der Alkohol!"

In Kontinentaleuropa blieben die "Abstinenten" isoliert, doch in Skandinavien und den USA - in denen bereits etliche Bundesstaaten "trocken" waren - gaben sie den Ton an; ebenso in der entstehenden Alkoholforschung. In der Zwischenkriegszeit führten dann einige Staaten eine landesweite Prohibition (USA, Finnland etc.), andere prohibitionsartige Kontrollpolitiken (Schweden, Norwegen etc.) ein. Alkoholische Getränke waren damit zwar nicht abgeschafft, aber stark verteuert worden; der Pro-Kopf-Verbrauch sank. Dazu trug ebenso der verwissenschaftlichte Diskurs über den Alkoholismus bei, der den Konsum moralisch delegitimierte. Auch in Ländern mit einem liberalen Alkoholregime fiel er auf historische Tiefststände.

Das gravierendste Argument war die "Rassenverderbnis" bzw. der "racial suicide", den dieses "Keimgift" bewirke. Allerdings galt Alkoholkonsum nicht nur als Ursache von "Erbminderwertigkeit", sondern auch als ihre Erscheinungsform. Für diese Fälle war Prohibition wenig sinnvoll; es wurden Erbgesundheitsgesetze erlassen, die sich (unter anderem) gegen "Alkoholiker" richteten: zunächst in den USA, gefolgt von der Schweiz, Dänemark, dem "Dritten Reich", den nordischen und baltischen Ländern. Die "Ausmerze" des "minderwertigen Erbguts" sollte durch Heiratsverbot, Zwangseinweisung und Zwangssterilisierung erfolgen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kampf gegen den Alkoholismus sowohl durch die Rassenhygiene als auch durch das Fiasko der Prohibition in den USA 1933 gründlich diskreditiert. Auch in Deutschland standen die wenigen verbliebenen Aktivisten allein auf weiter Flur. Einzig in Skandinavien überlebte das Programm einer strikten Konsumkontrolle. Im Brockhaus von 1953 fehlt das Stichwort "Alkoholismus" - und wird durch "Alkoholgenuß" ersetzt, der "tief im Volksleben verwurzelt" sei.

Alkoholismus als Geisteskrankheit

In der 1966er Auflage des Brockhaus taucht das Stichwort "Alkoholismus" zwar wieder auf, aber nur als Hinweis auf sozial bedingten Missbrauch. 1975 indes, wird im Ergänzungsband eine entscheidende Revision vollzogen: "Heute gilt der Alkoholismus als Krankheit und wird als solche von den Krankenkassen (...) anerkannt." Dieses Leiden bestehe in der Unfähigkeit "mäßig zu trinken" und sei "ohne äußere Hilfe" unheilbar. Es hatte sich mithin jene Wortbedeutung durchgesetzt, die im Grunde bis heute gilt: eine Suchterkrankung. Vergessen war freilich, dass der Begriff schon längst neben der primärpräventiven Bedeutung eine psychiatrische hatte. Bereits um 1900 war von "Alkoholikern" die Rede: "(...) darin besteht eben ihre Krankheit, daß sie nicht mäßig trinken können".

Die Domestizierung und schließliche Pathologisierung des Trinkens ist ein Schlüsselphänomen der Moderne. Seit Jahrtausenden trank die Menschheit Alkoholika, ohne je die Vorstellung zu entwickeln, das "Saufen" sei eine Krankheit. Auch im Mittelalter galt es nur als ein Laster. Gemeint war damit die gemeinschaftliche Berauschung beim Gelage (wogegen dann die Reformatoren eine Kampagne entfachten) und keinesfalls der tägliche Trunk als Nahrungsmittel. Um 1500 konsumierten erwachsene Hamburger und Hamburgerinnen zweieinhalb Liter Bier am Tag, in den süddeutschen Städten war ein Liter Wein üblich. Damit wären diese Menschen nach derzeitigen Kriterien suchtkrank gewesen. Doch diese Kriterien gab es nicht.

Die Idee eines inneren Trinkzwangs taucht erstmals im 17. Jahrhundert - einer Zeit rückläufigen Konsums - auf, wird jedoch verworfen: Diese Menschen hätten dann wohl einen Igel im Magen, "welcher zu stechen pflegte, wenn er nicht schwimmen könte", mokierte sich 1745 Zedlers Universal-Lexicon über diesen "Einfall" einiger "Sitten-Lehrer". Doch um 1800 wird dieser "Einfall" erneut aufgegriffen. Der Volkserzieher Johann Kaspar Lavater vermerkte, die Trunkenheit hätte den Fehler, dass man "immer mehr trinken will, und fast ohne bedrunken zu seyn, nicht mehr leben kann" - der Trinker wird zum Opfer seines Getränks. Der amerikanische Arzt und Politiker Benjamin Rush sprach von einer "Krankheit des Willens", und Christoph Wilhelm Hufeland, Verfasser der "Makrobiotik", befand, der "Unglückliche", der sich mit Branntwein "angesteckt" habe, sei "ohne alle Rettung" verloren: "das wenige, was man täglich trinkt, (...) macht immer mehr nothwendig". In diesem Sinne wird 1819 die "Trunksucht" - analog zur grassierenden "Lesesucht" - durch den Moskauer Arzt Constantin v. Brühl-Cramer zu einem medizinischen Paradigma ausgebaut: Das heftige "Verlangen zum Genuß geistiger Getränke" gründe nicht in einer "Verletzung der Moralität, wie man gewöhnlich zu glauben geneigt ist", sondern sei eine aus "Gewöhnung" erwachsende Geisteskrankheit.

Die Fachwelt reagierte eher ablehnend, wurden doch die allermeisten, obschon an Alkoholika gewöhnt, keineswegs von jener Seelenkrankheit befallen. Diesen Erklärungsnotstand kannte das organische Modell von Huss nicht. Erst um 1900 setzte sich das Sucht-Paradigma durch, wobei freilich Symptomatologie, Nosologie und Ätiologie höchst umstritten blieben. Die Grenze zwischen normal und pathologisch war nebulös; die Sucht konnte ererbt oder erworben sein; sahen die einen ihre Ursache im Körper, so die anderen in der Droge; unterschieden die einen eine begrenzte Anzahl von "Suchten", so vermuteten andere eine potentiell unbegrenzte; wieder andere postulierten - was fast auf das Gleiche hinauslief - eine einzige "Süchtigkeit", die sich in unterschiedlichen Konsum- oder Verhaltensmustern "manifestiere".

In den 1940/50er Jahren gelang jedoch eine Vereinheitlichung des Sucht-Paradigmas. Sie erwuchs aus der Aufhebung der Prohibition in den USA. Der Drogenansatz passte schlecht zur Legalisierung von Alkoholika. Dem trugen die 1935 gegründeten "Alcoholics Anonymous" (AA) Rechnung: Anders als die traditionellen Rettungs- bzw. Temperenzvereine machten sie nicht den Alkohol ursächlich verantwortlich, sondern eine "Allergie", die nur bei einigen Menschen auftrete. Daran anknüpfend wird dieser Körperansatz durch eine Arbeitsgruppe um den Biostatistiker Elvin Morton Jellinek zum "disease concept of alcoholism" ausgebaut. Er unterschied fünf Trinkertypen, von denen drei Krankheitswert hätten: Alkoholiker litten an einem zunehmenden "Kontrollverlust" über ihr Trinkverhalten bzw. an der Unfähigkeit zur Abstinenz; ein Leitsymptom seien Entzugserscheinungen. Der Krankheitsverlauf vollziehe sich in drei Phasen; erst am "Tiefpunkt" werde der Erkrankte der Therapie zugänglich und müsse fortan strikte Abstinenz einhalten.

Kritik des Suchtkonzepts

Jellineks Konzept wurde durch die Weltgesundheitsorganisation, für die er zeitweise tätig war, kanonisiert und verbreitet: 1952 fand der "Alkoholismus" als eine Form der "Süchtigkeit" Eingang in die Internationale Klassifikation der Krankheiten. Längst ist diese Lesart des Alkoholismusbegriffs fest im Alltagswissen verankert. Selbsthilfe- und Therapieeinrichtungen arbeiten "nach Jellinek", und die großen Wochenmagazine bringen regelmäßig einschlägige Titelgeschichten mit "von Experten entwickelten" Selbsttests und Lebensberichten von Alkoholikern, deren "Karriere" die Betroffenen ermutigen und die anderen abschrecken soll.

Nimmt man allerdings heute die ICD zur Hand, so gibt es keine Sucht mehr: Sie wurden durch die "Alkoholabhängigkeit" ersetzt, in der derzeitigen Fassung durch ein "Abhängigkeitssyndrom". Es enthält zwar noch Elemente des "disease concepts", doch die Vereinheitlichung des Sucht-Paradigmas ist bereits wieder Geschichte. Was im Laienwissen und der Routinediagnostik hohe Evidenz erlangt hat, wurde in der Grundlagenforschung verworfen oder zumindest stark relativiert: der Kontrollverlust, die Notwendigkeit therapeutischer Intervention, das Abstinenzgebot, die "Karriere" bis zum Tiefpunkt. Vielmehr sei die Prognose meist gut und die Grenzziehung zwischen normalen und pathologischen Trinkmustern oft höchst willkürlich.

Hieran schließt sich der schwerwiegendste Einwand an: Der Alkoholismus sei ein bloßer "Mythos", dazu angetan, zahllose Menschen, die ihr Leben im Griff haben, zu medikalisieren und stigmatisieren. Die Dekonstruktion der Sucht entstammte der Wissenssoziologie einerseits (Michel Foucault, Peter L. Berger und Thomas Luckmann etc.) und der Medizinkritik anderseits (Irving Zola, Thomas Szasz etc.). Dabei gilt das Sucht-Paradigma häufig als Prototyp einer von Experten "erfundenen Krankheit" für die dann jene Experten ihre Zuständigkeit reklamieren können - getreu dem so genannten Thomas-Theorem: "If men define situations as real they are real in their consequences."

Kritik der Kritik

Erkenntnistheoretisch ist der konstruktivistische Ansatz nicht bestreitbar. Der naheliegende Einwand, Sucht lasse sich somatisch, z.B. neurophysiologisch, abbilden, geht an der Unabdingbarkeit einer historisch variablen Deutung solcher Befunde vorbei und vermag daher einen "objektiven" Alkoholismusbegriff nicht zu begründen. Hingegen lassen sich Folgeschäden chronischen Vieltrinkens mehr oder weniger kulturfrei erfassen, vom Organversagen bis zu schweren Psychosen.

Dies legt eine Rückkehr zum Alkoholismusbegriff eines Magnus Huss nahe. Vielen Betroffenen verhieße sie ein Ende der "Entmündigung" und Stigmatisierung, ist doch das Krankheitsetikett das ultimative Mittel der Herabwürdigung und Ausgrenzung in einer "rationalen" Leistungsgesellschaft. Anderen wäre damit freilich nicht gedient, und zwar jenen, die einen hohen "Leidensdruck" bekunden. Die "Krankenrolle" ist nun einmal ambivalent: Sie entlastet auch von Schuldzuweisungen und nur sie kann einen finanziellen Anspruch auf Therapie begründen.

Dies legt ein Festhalten am Sucht-Paradigma nahe. Die Rede von der "Erfindung" hat oft den Unterton einer Verschwörung, doch die Sucht ist tief in unserem Menschenbild verankert. Zudem wird damit kein Geheimnis verraten: Niemand anders als Jellinek betonte, eine Krankheit sei, was die Medizin als solche anerkenne. Neutraler ließe sich mit Michel Foucault und Paul K. Feyerabend von einem professionellen "Blick" sprechen, der "natürliche Interpretationen" exzessiven Trinkens aufgenommen, systematisiert, popularisiert und schließlich auf andere Bereiche übertragen hatte. Die Rede von der "Erfindung" wird auch der "Doppelnatur" der Sucht nicht gerecht: wie jedes andere Verhalten hat sie ihr Korrelat im Somatischen; die Physiologie zu ignorieren, gleicht der Behauptung, das Licht sei "in Wirklichkeit" eine Welle. Schwerstabhängigkeit als einen "way of life" zu betrachten ist ungewollt zynisch. Am Krankheitswert des Alkoholismus ist festzuhalten.

Inflation

Freilich ist die wissens- und interessensoziologische Analyse damit nicht hinfällig. Die Suchtforschung hat viel Unheil angerichtet. Dazu zählt nicht allein Historisches, wie Ausmerze und Prohibition, sondern auch Gegenwärtiges. Etikettierungprozesse können gemäß dem Thomas-Theorem als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken. Ein vage gehaltener Abhängigkeitsbegriff ist eine Lizenz zur Produktion von Therapiebedürftigkeit. Wovon wäre ein Mensch nicht abhängig? Aus diesen Gründen sollte definitorische Zurückhaltung walten, sollte das Krankheitsbild trennscharf als "Sucht" bestimmt sein und nicht ausufernd als "Abhängigkeitssyndrom".

Doch die Tendenz geht in die umgekehrte Richtung. Entgegen dem Verbrauchstrend stieg die Prävalenz des Alkoholismus seit den 1970er Jahren von unter einem auf mindestens drei Prozent. Parallel dazu ist ein Steigen der Gefährdetenquote und eine Expansion der Süchte auszumachen: Fernsehen, Internet, Zigaretten und selbst Karotten fungieren als "Suchtmittel". Theoriegeschichtlich kommt hier die vergessene "Süchtigkeit" wieder zu Ehren. Interessenpolitisch zeigt sich hier ein Kampf um Klientel. Indes bedarf es dazu auch der Nachfrage: Die Sucht erscheint uns evident - und wir brauchen sie. Moderne Gesellschaften tendieren phasenweise zu einer Verschärfung der Standards von Fremd- und Selbstkontrolle und damit zu einer Ausweitung des Pathologischen, das die Unordnung erklärt und bannt. Dies trifft besonders auf die heutige "Konkurrenzgesellschaft" zu. Niemand will zur "Fürsorgeklasse" gehören, kein TV-Bericht über Super-Nannies läuft ohne Zoom auf den Aschenbecher. Wachsende Statusängste lassen in den Mittelschichten wieder eine asketisch-frugale Moral zum zentralen Distinktionsmittel werden.

Rückkehr zur Kontrollpolitik

Die Alkoholforschung, eng verbunden mit politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, spiegelt diese jeweiligen Standards und beeinflusst sie zugleich. In der Nachkriegszeit war eine interdisziplinäre, theoretisch anspruchsvolle Forschung entstanden, die auch nach den funktionalen Aspekten des Alkoholkonsums fragte. Inzwischen ist sie auf eine medizinisch-epidemiologische "Alkoholfolgeschädenforschung" reduziert. Sie versorgt die bürgerliche "Selbstkontrollapparatur" (Norbert Elias) mit "empirischen" Argumenten. "Das organisierte Alkoholwissen", spottete ein ehemaliger Mitarbeiter Jellineks, gleicht "einer Kenntnis über Autos und deren Gebrauch, die auf Unfälle und Zusammenstöße beschränkt ist". Eine solche "moralische" Forschung fragt nicht danach, "wie es sich mit den Dingen verhält", sondern definiert "wie sich Personen verhalten sollen". Dabei vollzieht sie von Zeit zu Zeit abrupte Schwenks, deren Ursachen sie öffentlich nicht näher erläutert. Als politische Handlungswissenschaft kann sie Selbstzweifel nicht zulassen und benötigt einen hohen Wertekonsens der Beteiligten.

Dieser entstammt den protestantischen "Temperenzkulturen" (Harry G. Levine), die mehrfach die globale Thematisierung des Alkohols angestoßen hatten - so auch heute wieder. In den USA rückte man in den 1970er Jahren von der Risikogruppenstrategie ab, die dem "disease concept" entsprach, und stellte erneut die Gesamtbevölkerung in den Focus. Über die WHO wurde dieser primärpräventive Ansatz dann zur herrschenden Lehrmeinung. "Die empirischen Ergebnisse zeigen," heißt es, dass "es absurd erscheint, die Bevölkerung den Gesundheitsgefahren durch das extrem hohe Angebot an alkoholhaltigen Getränken auszusetzen, wie es heute in Deutschland Praxis ist." Die vielfältigen "Belastungen" seien lange unterschätzt worden, da sich die Forschung irrtümlich auf die "starken Konsumenten" konzentriert habe. Heute aber wisse man, "daß die meisten alkoholbedingten Probleme im Zusammenhang mit mäßigem Trinken auftreten", da die Mäßigen ja die Masse des Alkohols verbrauchen. Entsprechend müsse das Hauptziel sein, den Pro-Kopf-Verbrauch zu senken. Mittel der Wahl seien Steuererhöhungen, Werbeverbote und Verkaufsbeschränkungen, mithin eine Kontrollpolitik, die dem skandinavisch-amerikanischen Vorbild folgt.

Die Alkoholwirtschaft reagierte mit intensivierter Forschungs-, Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Dabei kam ihr der Zufall zu Hilfe: 1991 machte in den USA eine TV-Sendung über das geringe Infarktrisiko der weinliebenden Franzosen Furore. Das war eigentlich keine neue Erkenntnis, doch seither tobt ein epidemiologischer Datenkrieg, der an die Kontroversen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erinnert. Weithin unstrittig ist nun zwar, dass moderater Konsum die physische und wohl auch die psychische Gesundheit verbessert - aber beide Seiten definieren "moderat" höchst unterschiedlich; nicht zu reden von der grundsätzlichen Frage, wie weit "Gesundheit" hier als moralischer Kampfbegriff fungiert.

Wer sich auf dieses Forschungsfeld begibt, wird umgehend einem "Lager" zugeordnet. Nicht nur das Freund-Feind-Denken beim Streit um Grenzwerte oder die Zahl der "Alkoholtoten" erinnert an vergangene Zeiten, sondern auch die simple Tatsache, dass nun wieder die Substanz Ethanol im Zentrum der Prävention steht. Damit ist der alte Alkoholismusbegriff - ohne, dass er explizit verwendet würde - wieder in sein Recht gesetzt: der "Inbegriff" der gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden.

Somit können die in der Tat vernachlässigten Negativeffekte "alltäglichen" Konsums gezielter in Angriff genommen werden. Ohnehin sinkt der Verbrauch seit fast zwei Dekaden und dürfte künftig weiter sinken. Dies kann nur gut sein für die Krankenkassen. Allerdings zeigt sich hier ein Dilemma. Das Ziel einer Senkung des Pro-Kopf-Verbrauchs ist prinzipiell grenzenlos - damit ignoriert es die "lessons of history", wie der Nachfolger Jellineks, Mark Keller, mit Blick auf die Prohibition urteilte. Im Prinzip ist Kontrollpolitik unabdingbar. Wird jedoch der Bogen überspannt, kommt es zu einer Zerstörung sozial integrierter Trinkmuster. Jedes Lockern der Zügel kann dann die "alkoholbezogenen Schäden" hochschnellen lassen, wie in den den nordischen Ländern zu beobachten ist. Wenig spricht dafür, deren Modell auf ganz Europa auszudehnen. Doch genau dies empfiehlt uns die etablierte Alkoholforschung. Indem sie ihren Gegenstand lediglich als "legale Droge" und "Zellgift" wahrnimmt und sich in einen Kleinkrieg mit der "Alkoholindustrie" verzettelt, anstatt eine kluge Güterabwägung zu betreiben, hat sie zu ihren Anfängen um 1900 zurückgefunden. Damit ist sie erneut ein Teil jenes Problems geworden, zu dessen Lösung sie eigentlich berufen ist.

Nachsatz

Angesichts des "Komasaufens" fürchtet die Bundesdrogenbeauftragte, dass bei deutschen Jugendlichen eine "britische Trinkkultur" Einzug hält, und Experten wie Laien fordern, den "Zugang zum Alkohol" zu erschweren. Die steigende Behandlungsziffer akuter Alkoholvergiftungen ist beunruhigend. Noch beunruhigender sollte sein, dass sie mit einem tendenziellen Konsumrückgang einhergeht. Möglicherweise zeigen sich hier bereits jene nicht-intendierten Folgen der De-Normalierung des Konsums, wie sie für Temperenzkulturen typisch sind.

Paradoxerweise hat Drogenkontrollpolitik selbst ein "hohes Abhängigkeitspotential": Bleibt der Erfolg aus, wird "mehr desselben" eingefordert, anstatt einmal die Strategie zu überdenken. Doch der Ruf nach mehr Staat ist en vogue, wenn es um die wachsende gesellschaftliche Desintegration geht. Leider lässt sich unerwünschtes Verhalten in den wenigsten Fällen hinwegbefehlen. Bezüglich des Alkohols blockieren Verbot und Ächtung den Erwerb von "Risikokompetenz" und erhöhen stattdessen die Varianz des Konsums: In einigen Milieus wird weniger, in anderen umso exzessiver getrunken. Die in vielen US-Bundesstaaten durchgesetzte Kriminalisierung des Alkoholkonsums für Untereinundzwanzigjährige hat das "Binge Drinking", das zügige Trinken von mehr als fünf Getränken bei einem Trinkanlass, nicht abschaffen können - im Gegenteil: Jährlich kommen dabei Tausende zu Tode.

In den USA, wie in allen Temperenzkulturen, liegt der Pro-Kopf-Verbrauch deutlich niedriger als in der Bundesrepublik, die mit rund zehn Liter Reinalkohol immer noch zur Weltspitze zählt. Folgt man einer Klassifizierung der WHO, bildet Deutschland zusammen mit anderen "kerneuropäischen" Ländern aber zugleich jene Weltgegend, welche die relativ unschädlichsten Konsummuster aufweist. Auch in dieser Ländergruppe sind gezielte legislative und edukative Maßnahmen nötig. Es ist allerdings schwer nachvollziehbar, dass dabei just jene Länder die Richtung vorgeben sollen, die ein besonders problematisches Verhältnis zum Alkohol entwickelt haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 14. Aufl., Bd. 1, S. 410; als eine Untergruppe findet sich zugleich der "chronische Alkoholismus" i.S. von Huss. Vgl. Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit, Opladen 1993, Kap. V u. VII.

  2. Vgl. David Fahey, Temperance Internationalism, in: SHAD 20(2006), S. 247 - 275; Hasso Spode, Alkoholische Getränke, in: Thomas Hengartner/Christoph M. Merki (Hrsg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt/M.-Leipzig 2000; Jack S. Blocker u.a. (Hrsg.), Alcohol and Temperance in Modern History, Santa Barbara 2003.

  3. H. Spode (Anm. 1), S. 203.

  4. ... in Deutschland mit rund vier Litern Reinalkohol auf dasselbe Niveau wie in den USA (wo er in den urbanen Mittelschichten bald wieder die alte Höhe erreichte). Vgl. Heinrich Tappe, Alkoholkonsum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Die Revolution am Esstisch, Stuttgart 2004, S. 282 - 294.

  5. Nur im Nationalsozialismus beschritt man zudem den mörderischen Weg der "Euthanasie". Hier forderte auch die Zwangssterilisierung die meisten Opfer (ca. 300 000, davon ein Zehntel AlkoholikerInnen), am längsten praktiziert wurde sie in Schweden und Finnland (bis in den 1970er Jahre).

  6. Die Koordinierungsstelle in der BRD wurde wieder die 1921 gegründete, mehrfach umbenannte Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, so seit 2002); in der DDR fehlte eine solche Institution.

  7. 16. Aufl., Bd. 1, S. 179f.

  8. 17. Aufl., Bd. 1, S. 341f. und Bd. 20, S. 52. Das Bundessozialgericht hatte 1968 die Kassen zur Kostenübernahme verpflicht; freilich galt dies prinzipiell bereits seit 1911.

  9. Zit. n. H. Spode (Anm. 1), S. 259; wobei der Huss'sche Alkoholismusbegriff - der, um die Verwirrung komplett zu machen, auch Trunksucht` genannt wurde - weiterhin benutzt wurde, sodass um 1970 drei Bedeutungen zirkulierten: Summe der Folgeschäden, Suchterkrankung und neurologisch-somatisches Syndrom. Bis heute geraten die beiden letzteren durcheinander, wenn von "Alkoholkrankheit" die Rede ist.

  10. Vgl. Aldo Legnaro, Alkoholkonsum und Verhaltenskontrolle, in: Hans Gros (Hrsg.), Rausch und Realität I, Stuttgart u.a. 1996, S. 64 - 77; H. Spode (Anm. 1).

  11. Vgl. H. Spode (Anm. 2); kurz Manfred V. Singer/Stephan Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, Berlin u.a. 20052, Kap. 1.

  12. Bd. 45, Sp. 1300 (wohl zu Paolo Zacchia). Vgl. Hasso Spode, Was ist Alkoholismus?, in: Bernd Dollinger/Wolfgang Schneider (Hrsg.), Sucht als Prozess, Berlin 2005, S. 95ff., s. a. Karl Wassenberg, Der somatische Pietismus, in: Klaus Ederle (Red.), Elixiere des Teufels. Die "Erfindung" der Suchtkrankheit, Stuttgart 1997, S. 76ff.

  13. Zitate: Spode 1993 (Anm. 1), S. 124ff.; s.a. ders. 2005 (Anm. 12); Claudia Wiesemann, Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs, Stuttgart 2000 jeweils mit weiterer Literatur.

  14. Vgl. Hasso Spode, Fernseh-Sucht. Ein Beitrag zur Geschichte der Medienkritik, in: Eva Barlösius u.a. (Hrsg.), Distanzierte Verstrickungen, Berlin 1997, S. 295 - 314, hier S.305 ff.

  15. Vgl. David T. Courtwright, Mr. ATOD's Wilde Ride: What Do Alcohol, Tobacco, and Other Drugs Have in Common? sowie die Kommentare von H. Spode, I. Tyrrell und J. Mills in SHAD 20(2005), S. 105 - 140.

  16. Vgl. J. S. Blocker 2003 (Anm. 2), S. 338ff; Mariana Valverde, Diseases of the Will: Alcohol and the Dilemmas of Freedom, Cambridge 1998, S. 98ff.

  17. Einen "normalen" Konsum kennt das Modell nicht. Die Typen Alpha und Beta sind potentielle Vorstufen für Delta (kontinuierlicher Kontrollverlust) und für Gamma und Epsilon (diskontinuierlicher Kontrollverlust). Unschwer findet sich hier Brühl-Cramers Unterteilung in "periodische" vs. "anhaltende" Trunksucht (bzw. "Quartalsäufer" vs. "Spiegeltrinker") wieder; auch der progrediente Verlauf und das Abstinenzgebot waren gängiges Wissen. Neu war die konsistente Bündelung vorhandener Ansätze bei gleichzeitigem Verzicht auf ätiologische Spekulationen ("X-Faktor").

  18. Vgl. ICD 6: Code-Nr. 362.

  19. Vgl. zum Beispiel Focus, (2007) 31, S. 54: "Als gefährdet gilt" etwa, wer zweimal pro Woche drei Glas Bier trinkt. Vgl. Urs Keller, Bilder vom Alkohol. Ein "kulturelles Lebensmittel" im Spiegel populärer Zeitschriften, in: Vokus, 13 (2003), S. 46 - 84.

  20. ICD 10: Code-Nr. 10.2 Vgl. M.V. Singer/St. Thyssen 2005 (Anm. 11), Kap. 4 u. 12; Wilhelm Feuerlein u.a., Alkoholismus. Mißbrauch und Abhängigkeit, Stuttgart-New York 19985; Kap. 1.3 u. 7.3.

  21. Wegweisend George E. Vaillant, The Natural History of Alcoholism, Cambridge/Mass. 1983; radikaler: Herbert Fingarette, Heavy Drinking. The Myth of Alcoholism as a Disease, Berkeley 1989; vgl. H. Spode (Anm. 12); W. Feuerlein 1998 (Anm. 20).

  22. Was als "regelwidrig" klassifiziert wird, erschließt sich nur im Rahmen "natürlicher Interpretationen"; vgl. allg. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt/M. 1976.

  23. ... sofern der Patient an seiner Heilung mitwirkt; vgl. Talcott Parsons, Social Structure and Personality, London 1964. S. 257 - 291.

  24. So wie umgekehrt die biologistische Sicht der Behauptung gleicht, das Licht bestehe "in Wirklichkeit" aus Photonen.

  25. Vgl. H. Fingarette (Anm. 21), S. 99ff.

  26. Vgl. H. Spode (Anm. 12), S. 111 ff; s. a. ders. (Anm. 14); D. T. Courtwright (Anm. 15); Michael Schetsche, Sucht in wissenschaftssoziologischer Perspektive, in: Bernd Dollinger/Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Wiesbaden 2007, S.113-130.

  27. ... der in den 1980er Jahren offen ausbrach, als die Experten für die "neuen", stoffungebundenen Süchte gegen jene für die "alten" Süchte aufbegehrten. Stoffungebundene Süchte wurden gar für den Holocaust verantwortlich gemacht: Vgl. Rolf Harten, Sucht, Begierde, Leidenschaft, München 1991, S. 295.

  28. Vgl. Joseph R. Gusfield, Alcohol in America: The Entangled Frames of Health and Moralty, in: Allan M. Brandt/Paul Rozin (eds.), Moralty and Health, New York-London 1997, S. 201 - 230.

  29. Vgl. Hasso Spode, Übersichtsvortrag, in: Gerhard Bühringer (Hrsg.), Strategien und Projekte zur Reduktion alkoholbezogener Störungen, Lengerich u.a. 2002, S. 32 - 60; ders., Der Europäische Aktionsplan Alkohol und eine Vorläufer. Wissenschaft als moralischer Interessenverband, in: H.-J. Teuteberg 2004 (Anm. 4), S. 263 - 281; Johanna Rolshoven, Der Rausch. Kulturwissenschaftliche Blicke auf die Normalität, in: Zeitschrift für Volkskunde, 96 (2000), S. 29 - 49; Pekka Sulkunen u.a. (Hrsg.), Broken Spirits. Power and Ideas in Nordic Alcohol Control, Helsinki 2000.

  30. Selden D. Bacon: Alcohol Issues and Social Science, in: Journal of Drug Issues 14 (1984), S. 22. Für die Breite der älteren Forschung vgl. Klaus Antons/Wolfgang Schulz, Normales Trinken und Suchtentwicklung, Göttingen 1976; für die Enge der heutigen Griffith Edwards (Hrsg.), Alkoholkonsum und Gemeinwohl, Stuttgart 1997.

  31. Jürgen Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hrsg.), Moral im sozialen Kontext, Frankfurt/M. 2000, S. 36.

  32. Vgl. Rüdiger Fikentscher (Hrsg.), Trinkkulturen in Europa, Magdeburg 2008 (i. E.).

  33. Vgl. die Angaben in Anm. 29; s. a. J. S. Blocker (Anm. 2), S. 689ff.; Robin Room, Alcohol and the WHO, in: Nordic Studies on Alcohl and Drugs 22 (2005), S. 146 - 162.

  34. Ulrich John u.a., Übersichtsvortrag, in: G. Bühringer (Anm. 29), S. 72.

  35. So die WHO 1993 im ersten Europäischen Aktionsplan Alkohol; vgl. H. Spode (Anm. 29).

  36. Das "Hamburger Abendblatt" meldete am 26.7. 2002: "Jährlich 42 000 Alkoholtote", am 28.3. 2007: "16 000", am 2.6. 2007: "74 000" (www.abendblatt.de s.v. Alkoholtote); andere Studien wiederum ermitteln ein Nullsummenspiel, da Alkoholkonsum ungefähr so viele Todesfälle bedinge wie verhindere (aufgrund der Senkung des Infarktrisikos); zu solchen "Zahlenspielen" vgl. u.a. U. Keller (Anm. 18).

  37. Zit. n. Hasso Spode, Die Zyklik des Sozialen Problems Alkohol, in: Fachverband Drogen und Rauschmittel (Hrsg.), Dokumentation des 18. Bundesdrogenkongresses, Geesthacht 1997, S. 143.

  38. Tagesspiegel Nr. 19900 (2008), S. 18.

  39. Vgl. Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, München-Zürich 1983, S. 27ff. So wurden 2004 präventive Maßnahmen gegen Alkopops getroffen. Nun trinken die Kids den Wodka pur - was weitere Maßnahmen erfordert.

  40. Vgl. Robin Room, The Impossible Dream, in: Journal of Substance Abuse, 4 (1992), S. 91 - 106; Gundula Barsch, Was ist dran am Binge Drinking?, in: B. Dollinger/W. Schneider (Anm. 12), S. 239 - 265.

  41. In Europa haben besonders Großbritannien, Skandinavien und Osteuropa problematische Trinkkulturen: Global Alcohol Data Base n. Dag Rekve, Alcohol in a global perspective, in: www.dhs.de/makeit/cms/cmsupload/dhs/
    rekve-dag.pdf (Vortrag auf DHS-Symposium 2007). Vgl. Dimitra Gefou-Madianou: Alcohol, diet, and European Culture, Kopenhagen 1995.

PD Dr. phil. habil., M.A., geb. 1951; Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus (HAT) am Scharnow-Institut der FU Berlin, Malterserstr. 74, 12249 Berlin.
Internet: Externer Link: www.fu-tourismus.de