Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Tagebuch 1968 | Prag 1968 | bpb.de

Prag 1968 Editorial Verratene Ideale - Essay Der "Prager Frühling" - Moskaus Entscheid zur Invasion Der Riss durch die Partei Tschechische Untergrundkultur Tagebuch 1968 Das andere deutsche "68"

Tagebuch 1968

Hartmut Zwahr

/ 18 Minuten zu lesen

Die Tagebuchnotizen eines Zeitzeugen schildern, wie der "Prager Frühling" in der DDR verfolgt wurde. Mit dem gewaltsamen Ende des Reformversuchs wurde die Selbstzerstörung der DDR erkennbar.

Einleitung

Wer Tagebuch schreibt, bleibt seinen Irrtümern verbunden. Kein noch so dünner Schleier erinnernden Abstandnehmens hängt zwischen dem Leser und ihm. Das Tagebuch zeigt das Räderwerk, in dem die Hoffnung des "Prager Frühlings" verschwand.


Leipzig, 11. März: Beeindruckt von den Ereignissen in der CSSR, setze ich die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1960 fort. Die Lage ist wenig verändert. Den Bau des "Schutzwalles" erlebte ich in Prag. Am Bußtag 1966 erfolgte meine Übernahme, als Kandidat, in die Partei. Es war der letzte Bußtag, der als offizieller Feiertag begangen wurde. Die Grundorganisation tagte von zehn Uhr bis spät am Nachmittag. An der Baufachschule fiel der Strauß Chrysanthemen noch am selben Abend in die stinkende Pleiße. Am Bußtag 1967 wurde ich Mitglied. (...)

Etwa 1958 war ich zum ersten Male geworben worden, dann wiederholt. Gerhard Bender erzwang ihn [den Eintritt] mit der offiziellen Mitteilung in der Parteigruppe, ich wolle nunmehr eintreten. Gereizte Anfragen der Gruppe um Walburga Parthey, weshalb ich noch immer außerhalb der Partei stehe, es werde immer von Gründen gesprochen, was seien denn das für Gründe, waren vorausgegangen. Wissend, dass von den Verhandlungen der Parteigruppe wenig geheim bleibt, hatte Bender abgedrückt. Das war Tells Geschoss kommentierte Karl. Ich ergab mich. Händeschütteln von allen Seiten, Chrysanthemen (...).

In der CSSR wurden in Kladno die Parteileitungen erstmals wieder in geheimer Wahl gewählt, bei uns werden die Gewerkschaftskandidaten von der Partei nominiert, von der AbteilungsGewerkschaftsLeitung beraten, von den Mitgliedern in bekannter Weise gewählt. Jeder darf einen Zettel mit allen Namen der von der Partei Nominierten in die Urne stecken. (...)

Ein ganzes, besser, ein halbes Volk sieht West, hört West. Die Partei konstatiert, dass sich die sozialistische Menschengemeinschaft in der Phase des entwickelten gesellschaftlichen Systems weiter gefestigt hat. (...) Die Ereignisse in der CSSR sind schon seit Wochen in rascher Bewegung. Gestern wurde bekannt gegeben, dass NovotnÝ sich zur Kur begeben will. Vorspiel des Rücktritts? Die wenigen tschechischen und slowakischen Zeitungen, Rudé právo, Práce, Praca, Mláda fronta, sind auf dem Hauptbahnhof gegen elf Uhr verkauft. Haben Sie noch von gestern, alte? - Die werden nicht alt. Messetrubel. Ich lege im Messetrubel im Hauptbahnhof die "Geschichte der KPdSU" und das alte, dogmatische Lehrbuch "Grundlagen der Marxistisch-Leninistischen Philosophie" in einem Papierkorb ab.

Die Ketzer schweigen

Das Neue Deutschland gab erstmals am 10. März eine nichtssagende Meldung. HendrÝch, der Chefideologe, musste gehen. Das ND schweigt. Heute erscheint ein Bericht, der den Eindruck zu erwecken sucht, als bewege sich das Parteileben in den alten Gleisen fort. Goldstückers Rede, dass zum Sozialismus die Demokratie gehöre, muss eindrucksvoll gewesen sein. Inzwischen sind die Partei- und Gewerkschaftszeitungen Forum der ins offizielle politische Leben drängenden Intelligenz, auch der Masse des Volkes. Hochinteressante Diskussionen, sachliche, ungeschminkte Beiträge, unbequeme Anfragen, ungeduldige, die Empörung verratende Stellungnahmen über die Notwendigkeit, den ganzen Sumpf auszuräumen. (...)

Die Schubkraft der nationalen Tradition und der nationalen Würde, über die Tschechen und Slowaken verfügen, wirkt bei uns nicht. Der Krieg hat Ideale zu Staub zerbrannt. (...) Veränderungen kommen wohl nur von außen. Wir gehen seit Jahren in eine immer größere Isolierung. (...) Die Anthologie des Slawischen Instituts zum 50. Jahrestag, zum Roten Oktober, zog eine Serie Parteiverfahren nach sich und warum? Weil der späte Ehrenburg, Solschenizyn und die anderen für uns nicht existieren dürfen. Die Partei denkt für uns. Der eigene Kopf soll sich nur mit der Ausführung dessen beschäftigen, was "vorgegeben" ist. Über Beschlüsse wird nicht diskutiert, höchstens über Empfehlungen. Ist das ein Beschluss? So fragen die Vorsichtigen, bevor sie diskutieren. Es geht immer wieder um das Festhalten von Verhaltensweisen, die den deformierten Menschen in unserem entwickelten gesellschaftlichen System zeigen. Hierin erblicke ich eine Aufgabe als Historiker.

14. März: Gestern haben die Studenten auf einer Versammlung in Prag den Rücktritt von Staatspräsident NovotnÝ gefordert. Er soll hauptverantwortlich für die Säuberungen während der Stalinzeit sein. Heute Vietnamdemonstration angesagt, anschließend Zug zur Prager Burg.

Die Pravda, das Organ der slowakischen kommunistischen Partei (KSS), bringt in Nr. 67A vom Freitag, dem 8. März 1968, einen ganzseitigen Beitrag Cisté ruky [Saubere Hände], Material aus den Bauernprozessen der 50er Jahre. Dazu gibt es Parallelen aus dem "sozialistischen Frühling" [der DDR]. Die Anklage, die Breite des Materials, die Vielzahl der Fälle sind erschütternd.

20. März: Kurze Information über die Vorgänge in der CSSR; Polen: vom Gegner ausgelöste Krawalle. Ziel: Trennung der Intelligenz, insbesondere der Jugend von der Partei. Die Partei beherrscht die Lage. Zur Lage in der CSSR wird gesagt: Rechte Elemente in der Parteiführung bekämpfen dort die Partei überhaupt. (...) Die Wahl Dubceks wurde bestimmt durch rechte Kräfte in der Partei. Dubcek hat sich als Internationalist bewährt. Gebietskonferenzen werden auf Anraten Walter Ulbrichts durchgeführt. Polen/CSSR: gleiche Losungen, gleiche Stoßrichtung: Durchsetzung der bürgerlichen Ideologie. Damit verbunden im Westen die Hetze gegen die SED. "Mit NovotnÝ ist der vorletzte Mann der alten Garde gefallen." Auch bei uns Versuch, Erlaubnis für Straßendemonstrationen für Vietnam zu erhalten. Notwendig, offensiv zu diskutieren, aber Diskussion nicht in Partei und Studenten hineintragen, sondern Lehren ziehen und weiter nach vorn drängen. Umgehende Meldung von Diskussionen an Parteileitung. Dienstweg muss nicht eingehalten werden. Schnellsten Weg wählen. Man muss mit Aktivitäten rechnen. Wandzeitung mit Verfassungsdiskussion wurde beschmiert. Extremisten in CSSR wollen vor 1948 zurück.

23. März: Ich habe wiederholt gesagt, schon vor Jahren, dass wir in eine zunehmende Isolierung hineingehen, und daran dürfen wir unsere Hoffnungen knüpfen. Dieser Vorgang beschleunigt sich gegenwärtig. Gestern trat NovotnÝ zurück. Heute sagte das Reisebüro sämtliche Dreitagereisen nach Prag ab. Der herrschende Parteiflügel um Walter Ulbricht, E. Honecker, H. Axen, hierzu gehörte auch der verstorbene G. Eisler, Norden und Hager sichert sich ab. Diese Politik ist für die DDR selbstmörderisch. Sie vertieft die Widersprüche zwischen der proklamierten sozialistischen Menschengemeinschaft in der besten aller Welten und der täglichen Praxis, der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in die siebzehn Millionen mit tausenden Fäden verknüpft sind. (...) Die Berichterstattung im ND über die Ereignisse in der CSSR zeigt, wie angespannt die Lage ist. Karl sagte: "Wenn sie nichts schreiben, ist die Lage immer gespannt." Ich sage: Das ist schon der nackte Kampf um die Aufrechterhaltung der persönlichen Macht.

27. März: [Parteiversammlung] Dank der Kreisleitung an die GrundOrganisation Geschichte (...). S. verweist auf erhöhte Diversionstätigkeit des Gegners. Kommentare mit dem Ziel, konterrevolutionäre Aktionen auszulösen, Ereignisse in Polen und CSSR auf uns zu übertragen. Gegner konzentriert den Kampf nicht auf die Partei, sondern auf führende Genossen, insbesondere Walter Ulbricht. Ein Teil der Genossen wird als Stalinisten und Dogmatiker bezeichnet. Früher: Partei/Parteilose. Jetzt: Die Beseitigung sozialistischer Positionen nicht gegen die SED, sondern mit ihr durchsetzen. Entscheidende Trennungslinie verläuft innerhalb der Partei.

Scharf geschnittenes Gesicht. Scharf artikulierend, stilistisch klar, Blick... Sagt: Das so genannte Beispiel CSSR ... Große Augen, braun, gelbe Höfe. Schlägt vor, zu bekunden, dass wir einmütig hinter dem ZentralKomitee stehen (Beifall), unmissverständlich erklären, wer Walter Ulbricht angreift, greift die Partei an! Schreit: Die Partei ist Walter Ulbricht, Walter Ulbricht ist die Partei! Verzerrtes Gesicht. Hat das Wort "entscheidend" herausgeschleudert.

30. März: VT [Veteranentreffen] im "Goldenen Löwen". Philipp: In der CSSR ist der Klassengegner eingebrochen. Die Partei habe sich seit langem dem Westen geöffnet und sich aufweichen lassen. Tatsachen und Einzelheiten interessieren mich überhaupt nicht. Er trägt als einziger ... [das Abzeichen]. Max kündigt seinen Eintritt [in die SED] an. Pflichtet ihm bei. Bezieht Informationen aus der Humanité. Helmut: Ich habe dazu nichts zu sagen. Mein Standpunkt ist der des ND. Als Parteiloser ist das für mich die Parteiorientierung. Bei Maxens Eintritt will er den Vorsitz abgeben. Philipp: Entscheidende Änderung im Kräfteverhältnis! Helmut: Selbstverständlich, ich weiche dem Führungsanspruch der Partei... Philipp zu Klaus: Du bist CDU, da musst du die Schnauze halten. Sagt es grinsend und mit Handbewegungen. Klaus: Ich bin weder noch... Philipp: Du verstehst mich doch...

Klaus redet vom Generationsproblem. Sei dafür im Pädagogischen Rat voriges Jahr oder vor zwei Jahren, bei den Gammlerunruhen, schwer kritisiert worden. Heute: In den Klassen: Hippies! Hipppies!!! Helmut: Die steigende Zahl von kriminellen Delikten in Berufsschulen, die steigende Zahl von Bestrafungen wegen unvorsichtiger, unbedachter politischer Äußerungen. Klaus: Das Generationsproblem. Jetzt ist es bei uns. In zwanzig Jahren kriegst du Recht. Da wirst du rehabilitiert.

Unterschwellig bekannt: Geheime Wahlen in CSSR. Ist verschiedentlich durchgedrungen. Als die Frage sehr heftig diskutiert wird, ob einmal Jürgen eingeladen werden soll, da Philipp, als Antragsteller, mit ihm Verbindung hat... Max ergänzt: Müller auch... Ich: Gotlinde... Helmut: Ich hatte mit ihnen keine Verbindung während des Studiums, ich will sie auch heute nicht sehen. Für und wider. Gegenvariante. Drei Einwände. Wortmeldungen? Jeder sagt reihum seine Meinung. Plötzlich: Geheime Abstimmung! Max sagt: Quatsch, seid wohl blöde, hat doch jeder seine Meinung gesagt. Außer Helmut, der strikt ablehnt, sind alle Varianten vertreten. Ich bereite Zettel vor. Klaus fängt an zu lachen. Streit über den Modus. Philipp: Wer fängt an? Helmut: Ich. Philipp: Quatsch! Und einen Bleistift, dasselbe Zeichen, viermal falten. Es geht hin und her, um jede Enthüllung zu vermeiden. Ich: Ihr wisst wohl nicht mehr, was Demokratie ist? Helmut: Du musst doch wissen, was innerparteiliche Demokratie ist, du bist doch drin. Nochmals wird das Verfahren erläutert. Helmut schreibt auf die Zettel: M für Müller, J für Jürgen, G für Gotlinde, X für den, der zugezogen wird. Klaus: Ich lach mich tot, da kommt ganz was andres raus. Nur ich höre ihm zu und zwinkere. Philipp: Ausgucken! Jeder guckt auf die Tischplatte und blickt auf das Kommando "ausgucken!" einen an. Wo sich die meisten Blicke hinrichten, der beginnt.

Gut. Philipp beginnt. Rundum. Jeder schreibt unterm Tisch. Die Auszählung. Helmut schüttelt erst noch im Untersatz vom Ragou fin. Ergebnis: Erster Zettel (alle drei angekreuzt), zweiter Zettel (nichts angekreuzt), dritter Zettel (nichts), vierter Zettel (nichts), fünfter Zettel (nichts). Lachen, Prusten. Philipp: Ich werd verrückt. Ich hatte nichts angekreuzt, er offenbar alle drei. Helmut: Das Ergebnis dürfte klar sein: Wir bleiben unter uns. Erst mal an Demokratie gesättigt, sagt Klaus, der die Brille putzt, die vor Lachen angelaufen ist. Philipp: Da muss ich erst mal schiffen gehn. (...)

Witzfeuerwerk. Am Ende, nach einem anderen Gespräch, werden von mir mühsam die besten Witze zusammengesucht, die aufgeblitzt waren. Mao fragt Kossygin, um welche Zeit die Feierlichkeiten zum Roten Oktober auf dem Roten Platz beginnen. - Sonntag, Punkt 10 Uhr. - Und wenn wir euch da überfallen? - Da fangen wir eine halbe Stunde später an.

9. April: Hier erzählte man, dass Knobloch (Staatliche Beteiligung), Bleistiftfabrik in Wolmsdorf [Oberlausitz], in Handschellen abgeführt worden ist. Er soll geäußert haben: "Warum machen wir das nicht wie in der CSSR? Da würde der Spitzbart sehen, wo er bleibt."

"Nach Chause, wenn Tschechen bravv sind"

Anfang Juni: Mit F. auf der Straße. Ahornblüte. Voll von Energien. Er: So ist es in der CSSR.

16. Juli: Psychologische Vorbereitung auf die Auseinandersetzung: Warschau, 14./15. Juli: 5:4 (...). Die Deutschen können nicht aus ihrer Tradition, sagen die kleinen Völker. Druck von außen führt zu noch festerem Zusammenschluss. Zwiespalt zwischen Tschechen und Slowaken in der Frage der Föderation schien ein Verhängnis zu werden. (...) Die Kernfrage ist, siegt die Konzeption des demokratischen Sozialismus in der CSSR? Wann ziehen SU/Polen/DDR nach? Deshalb dieser Druck auf die CSSR, den die Prace als psychologische Blockade bezeichnet. In den Betrieben, so Volker, offenbar Thema Nr. 1.

17. Juli: D. B. sagt: Gefahr des weißen Terrors besteht, damit droht der Bürgerkrieg. Die konterrevolutionären Kräfte drohen mit dem Bürgerkrieg.

18. Juli: Als ich in Dresden am Platz der Einheit auf einer Parkbank saß, die Sonntagsnummer vom 15. Juli [des Rudé právo] ausgebreitet, kamen vier hohe sowjetische Offiziere vorbei, einer blieb nach einigen Schritten stehen, drehte sich um und sah mich kurz an, dann drehten sich die anderen um, Beweis für erhöhte Alarmbereitschaft in den Garnisonen. Im Januar/Februar hätte das gar nicht passieren können. Zu Hause Hubschrauberflüge über das Tal. Auf dem Berg noch ein transportabler Funkturm, der über die Bäume ragt. Ob Besatzung, weiß ich nicht, am 7. Juli war sie noch oben.

19. Juli, früh: Die tschechischen Nachrichten und der Deutschland-Funk berichten über das Kräfteverhältnis. Dubcek in bereits mehrmals erwiesener Ruhe: Ungarn wiederholt sich nicht!

21. Juli: Die Politik der persönlichen Macht und der Administration führt dazu, dass ein Teil der Intelligenz und der Arbeiter und Angestellten in inniger Umarmung mit der Macht hochkommt, die anderen sich vor der Partei immer weiter zurückziehen. Diese Entwicklung ist so sehr gefährlich, weil den Menschen das Bild des Sozialismus allmählich überhaupt entschwindet, es löst sich in abstoßende Einzelbilder auf, in das Bild der Parteigärten, in die Frauenbeförderung, in das importierte Edelwild, auf das hohe Funktionäre draufknallen, in den vierstöckigen Riesenkomplex der Staatssicherheit am Schauspielhaus mit den beiden großen Funkantennen auf dem Dachfirst. "Die haben sich richtig eingemauert", sagt einer, auf die Antennen zeigend.

Der Barak-Prozess enthüllt dieses System in entscheidender Stunde. Das ist der Trunk, von dem jeder nüchtern wird, der noch schwarz von weiß unterscheiden kann, und wieder weht das rote Tuch vor den Augen derer, die "Konterrevolution", "Konterrevolution" schreien und "kreuzige", "kreuzige" schreien möchten (...). Die sowjetischen Truppen haben die CSSR noch immer nicht verlassen. 18.7.68, Rudé právo: Presuny sovetskích vojsk prekracuji. Die sowjetischen Truppenverschiebungen dauern an. Ich müsste in den Zeitungen nachsehen, wann die Manöver beendet waren. Tägliche Meldungen über Truppenverschiebungen im Rudé právo, aber nur Verschiebungen und teilweiser Abzug. So etwas ist geradezu unfassbar. Aber die Welt wird aufschreien, wenn dort die ersten Schüsse fallen, und die, die gegrinst haben, als die Universitätskirche [die am 30. 5. 1968 in Leipzig gesprengte Paulinerkirche] in die Luft flog, die werden auch dieses Mal grinsen, und mit ihnen arbeite ich täglich zusammen, das macht den Menschen langsam fertig.

23. Juli: Seit Warschau schießt sich die Parteispitze auf den revisionistischen Gegner in Prag ein. Heute schoß das ND Trommelfeuer gegen die "Reformer" ab. Manfred glaubt nicht an Sieg Ulbrichts. Sie ziehen ab, das ist der Gradmesser.

27. Juli: Unter der Oberfläche rollt eine Welle der Sympathie, bangt ein großer Teil der Jugend mit den Tschechen. Wie es in anderen Kreisen steht, ist schwer zu beurteilen. Nachts um halbzwölf habe ich Helmut vor den erleuchteten Schaufenstern des Möbelhauses gegenüber dem Liebknecht-Haus ["Thälmann-Haus"] aus dem Rudé právo übersetzt. Es war weit und breit niemand zu sehen. (...) Die Fernsehrede Dubceks vom Donnerstag vergangener Woche gelesen. Dubcek ist schon heute eine historische Figur der neueren tschechischen und slowakischen Geschichte.

28. Juli: Kommt es in der CSSR zu einer Tragödie? Partei und Gewerkschaft haben für morgen zu einem fünf Minuten dauernden Warnstreik aufgerufen. Die Moskauer Prawda erklärt, die Lage spitze sich weiter zu, rasches Eingreifen der Fünf tue not.

30. Juli: Unhörbar und unsichtbar für die Ohren und Augen der Parteibonzen rollt eine Welle der Sympathie. Schwerpunkt an der KarlMarxUniversität offenbar die Naturwissenschaften. Die Demagogie mit Konterrevolution wird durchschaut. (...) Die Sorben dienen offenbar überall als Übersetzer. In den Literarni listy habe ein Schriftsteller geschrieben, das den Slowaken unter NovotnÝ vorbestimmte Schicksal sei mit den Lausitzer Sorben in dem "supersozialistischen Nachbarstaat" vergleichbar.

16. August: Unerträglich. Noch tausend Jahre so. Sie reden noch wie zu Stalins Zeiten, die uns führen. "Wie wir das gemacht haben." Ganz einfach: Mit Maulhalten. (...) Nur unser Charakter schrumpft zusammen wie ein Backpflaume. Viele resignieren und werden grau, und sie traben auf die Versammlungen und Anleitungen, wo über die Entfaltung von Sozialismus und Demokratie geredet wird.

20. August: Frau J. am Bahnschalter hat zu den Maschinenpistolen tragenden Russen im Ort und der Umgebung naturgemäß manche Verbindung. Auf die Frage, wann sie abziehen, antwortete ein Russe: "Nach Chause, wenn Tschechen bravv sind."

Der Einmarsch

21. August: Früh sechs Uhr. Rundfunkmeldung: Der Einmarsch in die CSSR ist erfolgt. Die Folgen sind unausdenkbar. Kein Schuss ist gefallen. Jetzt kommt Hager ganz groß raus, jetzt geht es uns schlecht. "Die sowjetischen, bulgarischen, polnischen und DDR-Truppen geben ein leuchtendes Beispiel proletarischen Internationalismus." "Sozialdemokratische Losung eines demokratischen Sozialismus." Erklärung im Radio an alle Bürger der DDR: "Die Völker der CSSR sind von prinzipienlosen Politikern in große Gefahr gebracht worden. Der Einmarsch erfolgte auf Wunsch der dem Sozialismus treu ergebenen Menschen in Partei und Gesellschaft der CSSR." (...)

Der Zerfall des sozialistischen Lagers in seiner gegenwärtigen Gestalt nimmt seinen Fortgang. Die Verfasser des Briefes können das tschechoslowakische Experiment abbrechen. Seine Wirkung war und ist viel größer als seine Lebensdauer. Es werden einige Jahre vergehen, und dieser Vorgang wird sich wiederholen, es sei denn, die Briefschreiber leiten die Reformen selbst ein. (...) Was wird von dem bleiben, was die Tschechen hatten? Welche Leute werden bleiben? (...)

Die Panzer nähern sich! Mit dieser Meldung wird das bevorstehende Ende der Sendungen des Rundfunks angekündigt. Aufruf zu passiver Resistenz. Es ist das unser Land! Nicht provozieren lassen! Pausenzeichen (Harfentöne). Die Sendungen gehen weiter. Der tapfere Sprecher setzt, sich ab und zu versprechend, seine Sendung fort und verliest Solidaritätserklärungen für die legale Regierung, kaum dass er Luft holt. Jetzt eine neue Stimme, ein Slowake, immer wieder: Solidaritätsbekundungen. Wieder die Pausenzeichen. "Wir haben einen vzkaz von Dubcek aus dem Gebäude des ZentralKomitees: Ruhe bewahren!! Noch ist der Rundfunk w pravÝch rukách, in den richtigen Händen. Einige Telegramme, die die unverzügliche Einberufung des außerordentlichen Parteitages verlangen, werden verlesen. In der Nähe des Rundfunks sowjetische Panzer und Soldaten, mit denen die Bürger diskutieren. (...) Eine Frauenstimme meldet, dass das Gebäude des Rundfunks kurz vor der Besetzung steht. Hoffnung, dass die Regierung zurückkehrt. "Dieses Land ist unser Land." Musik. Smetana. (...) Musik bricht plötzlich ab. Nichts mehr. Aus. 7.30. Es kommt nichts mehr. Aus. (...)

Die Sendungen im Prager Sender gehen weiter. Wer sendet? Ich kann es nicht sogleich erkennen. Offenbar noch Sprecher der legalen Regierung. (...) Die Okkupationstruppen haben noch keinen Zutritt. Rundfunkgebäude mit Autos verbarrikadiert, mit Lastwagen. Leute rufen: Dubcek, wir schließen uns an! Letzte Worte, die Sie von uns hören. Sie dringen ein. Ihr hört die Schüsse. (...) Eine Frauenstimme: Chceme socialismus, ale'bo lidskÝ socialismus! Wir wollen Sozialismus, aber einen menschlichen Sozialismus. Die Wahrheit wird siegen. Es ertönt die Hymne, erst die tschechische, jetzt die slowakische. Ende. Pausenzeichen. (...)

21.20. Seit 19 Uhr Sendungen von Banská Bystrica, Bratislava. Die Regionalprogramme strahlen aus. Dazu das Auslandsprogramm in russischer und deutscher Sprache, auch Englisch. Verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht: SmrkovskÝ, Kriegel, Spacek, Dubcek, Cerník. (...) Geschlossene Front der Bevölkerung. Der Widerstand formiert sich. (...) Meldung, daß hier der legale tschechische Sender spricht. Das Eingreifen bringt der internationalen kommunistischen Bewegung unermesslichen Schaden. Gibt es noch eine Möglichkeit? Welche Taktik schlägt man ein? Die Flugeinheiten werden aufgefordert, jegliche Unterstützung den Okkupanten zu versagen. Die Okkupanten dürften keinerlei Unterstützung gefunden haben, sonst wäre ein solcher Widerstand undenkbar. (...) 22.25. Es spricht Präsident Svoboda über den illegalen Sender. Offenbar Tonband. Er berichtet über seine heutigen Verhandlungen (...). Svoboda wird zu einer Schlüsselfigur. Das ist eine kaum erwartete Variante.

22. August: Das Recht und die moralische Stärke stehen auf der Seite derer, die allmählich an die Wand gedrückt werden. Sie werden wiederkommen und sollte es wieder zehn bis fünfzehn Jahre dauern. Ulbricht wird nicht jünger, auch Breschnew nicht, auch Gomulka nicht. Es vollzieht sich ein Generationswechsel, der auch einen Wechsel der Auffassungen bringt. Den Schwalben sind die Flügel erfroren im Anhauch der Eisgrauen, stalinistischer Kälte. Der Sender schweigt. (...)

27. August: Als ich Günter am Sonntag Einzelheiten vom Widerstand der Bevölkerung erzählte, sagte er nur immer wieder: Bei uns undenkbar. Stell dir vor, da reißt einer ein Straßenschild ab, da stellen sich doch gleich zweie daneben, die es beschützen, während dich der dritte anzeigt. (...) 8 Uhr. Svoboda, Cerník, SmrkovskÝ, Dubcek, Kriegel, Spacek sind heute früh von Moskau nach Prag zurückgekehrt. Am Präsidentenpalais wurde wieder die blauweißrote Flagge aufgezogen. Tschechoslowakische Polizei und Armeestreitkräfte übernahmen wieder die Wache. Das Kompromiss liegt irgendwo zwischen Sieg und Niederlage. Sie sind noch da, wieder da, das wird viele unserer Genossen umwerfen. Es hat sich kein Kádár gefunden. Darin besteht Walter Ulbrichts größte Niederlage. (...)

18.30. Noch Dienstag: Es wiederholt der Sender Prag die improvisierte Rede Dubceks, die er heute auf der Prager Burg gehalten hat. Große Pausen zwischen den Sätzen, viele Versprecher. Der Schwächeanfall vom Vormittag ist zu spüren. Und doch: Es sind die moralischen Sieger, die hier sprechen. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob es verhängnisvolle Festlegungen gibt oder ob die Delegation um Svoboda und Dubcek sich bewusst war, dass die sowjetische Seite zumindest ebenso daran interessiert war, wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Die Lage der Sowjetführung war unhaltbar geworden, mit jedem Tag mehr. Grundlinie: Konsolidierung und Besonnenheit. Dubcek entschuldigt sich für seine Versprecher, aber er könne nicht anders. Dann versagte ihm die Stimme. (...)

5. Oktober: Dass Dubcek und seine Mannschaft bleibt, ist trotz der Stationierung sowjetischer Truppen in der CSSR etwas ganz Unerhörtes, ein bei einem solchen Aufwand an Gewalt noch vor zwei Monaten unvorstellbarer Vorgang. Sind das die Schwalben, die den Sommer melden, die ankündigen, dass eines Tages der Sommer kommt, oder die Schwalben, die noch keinen Sommer machen? Gestern wurde der Grundstein für das neue Universitätsgebäude gelegt. Ich war nicht dort. Viel Blauhemden auf dem Weg zur Baugrube, wo die Universitätskirche stand.

22. Oktober: Ich gehöre nicht zu denen, die es vielleicht gar nicht gibt, die die Tatsache der Besetzung unterschätzen, und doch besteht die Doppelherrschaft weiter. Die Tschechen sind nicht an Händen und Füßen gefesselt, sie hängen an einer Kette. Wie lang diese ist, ist von hier nicht zu sehen. An dieser Kette hängend, laufen und klirren sie durch ihr Haus, vom Keller bis zum Boden.

Das entwickelte System

29. Januar 1969: Ich sage, was sich in der CSSR ereignet hat, war ein europäisches Ereignis, es war auch ein Ereignis für uns Deutsche. Deshalb baun wir ja solche hohen chinesischen Mauern auf.

17. Februar: K. kommt auf die Berufslenkung zu sprechen. Das 4. Studienjahr Marxismus/Leninismus muss gelenkt werden. Sie studieren verkürzt, weil der Bedarf groß ist, aber einige hätten schon ihre Fühler ausgestreckt und ihre Stelle so gut wie fest, "im Parteiapparat", sagt K., "einige bei der Staatssicherheit und im Staatsapparat". Obwohl keine Namen fallen, ein aufschlussreiches Detail. Die Parthey ist drin, die Margot usw. usw., es wird immer schwerer zu sagen, der und der sind nicht drin. Wir sind alle umstellt, und die uns umstellen, umstellen sich gegenseitig. (...) Ich träume oft, wenn es sich in die Länge zieht und ich nicht gerade zuständig bin, aber im Unterbewusstsein bin ich wachsam. Ich bleibe ihnen auf der Spur. Nur nichts vergessen, der Kopf wird müde mit der Zeit, durch das große Sieb, dessen Löcher mit den Jahren noch größer werden, fällt so vieles durch, nur nicht vergessen! Wenn die Margot am Stock mit Gummizwinge geht, wird sie sich an nichts mehr erinnern können. Nur nicht vergessen! Sie verekeln einem die Freude an der Arbeit. Sie sind die Partei, der ich mich anzugehören schämen muss. Aber weil sie die Partei sind, müssen wir die Partei werden, die wir jetzt mitlatschen müssen, aber ich habe mir geschworen, ihre armseligen Heldentaten nicht noch zu beklatschen, wie das einige tun, und wie genau sie das spüren, und ich spüre, was sie spüren, wenn ich mir eine Blöße gebe, wie heute, eine unverdiente. Das ist so ein Lindenblatt, wo einem keine Hornhaut wächst, das ist ganz unvermeidlich. (...) Im Gespräch mit M. fragte ich ihn, der vieles weiß: "Hast du etwas über mich gehört? Reden sie?" Er sagt: "Du bist nicht in der Diskussion! Und ich?" Ich sage: "Nichts gehört." "Na, wunderbar", meint er.

18. April, Freitag: Vor ein paar Tagen sagte der Kunsthistoriker: "Ein Funke ist geblieben. Ich merke es an den Künstlern. Ein Gebläse wird die Fahnen im Saale knattern lassen, aber in dem Monsterrahmen des entwickelten Systems am 20. Jahrestag werden kleinere und mittlere Bilder und Bildchen hängen, die Leipziger neue Sachlichkeit mit Landschaften, Porträts, und so wird der Inhalt die Form entlarven, hier ist das Wort am Platz, denn unser Sozialismus ist eine Larve, eine Teufelsmaske, in der wir täglich reichere menschliche Züge zu entdecken haben und in unseren Diskussionsbeiträgen entdecken."

11. September: Ein Jahr ist vergangen. Die böse Tat hatte ihre Ursachen. Wir sind einmarschiert, weil die Sympathie für Dubcek in einen Sturm umzuschlagen drohte, der das Politbüro der Partei auseinandergeblasen hätte.

6. Dezember: Die Partei fürchtet die Jugend, das Produkt ihrer 25-jährigen Erziehung. Sie fürchtet die Kinder der Republik. Sie zeigt äußerstes Misstrauen. (...) Ihre ganze Lebensart ist ein massiver Protest gegen das totale Verplantwerden, die totale Erfassung, gegen Lenkung und Verwurstung. (...) Die Partei zwingt die FDJ ins Blauhemd, immer wieder, sie verschenkt Anoraks und lässt die Jugend Gelöbnisse sprechen, damit die Jugend nicht aus den Fesseln und der Partei an den Hals springt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die hier zusammengestellten, unveränderten Tagebuchauszüge aus der Zeit vom 11. März 1968 bis zum 6. Dezember 1969 stammen aus: Hartmut Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und "Prager Frühling". Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970, Bonn 2007, 434 S.; unveränderte Taschenbuchausgabe (Verlag J.H.W. Dietz), Bonn 2008. Kursivierungen sind Ergänzungen der Originalniederschrift; Hinzufügungen in eckigen Klammern dienen dem Verständnis.

  2. Antonin NovotnÝ (1904 - 1975), von 1953 bis zum 4. 1. 1968 1. Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei; abgelöst durch den Slowaken Alexander Dubcek (1921 - 1992). Von 1957 bis zum März 1968 war NovotnÝ Staatspräsident; Nachfolger wurde Ludvík Svoboda (1895 - 1979).

  3. An der so genannten "Warschauer Beratung" nahmen fünf von acht Paktstaaten (UdSSR, Bulgarien, Polen, Ungarn, DDR) teil, drei nicht (CSSR, Rumänien, Albanien). Die Zahl 4 schließt Jugoslawien (Nichtmitglied) ein.

  4. Rudolf Barak, im Mai 1968 freigelassen, von 1959 bis 1962 stellvertretender Ministerpräsident, hatte unter NovotnÝ die Rehabilitierung aller unschuldig Verurteilten gefordert und war wegen "Sabotage" zu 15 Jahren Haft verurteilt worden.

  5. Vgl. Hartmut Zwahr, Erinnern erfordert Wissen, in: Matthias Middell/Charlotte Schubert/Pirmin Stekeler-Weithofer (Hrsg.), Erinnerungsort Leipziger Paulinerkirche. Eine Debatte, Leipzig 2003, S. 55 - 68.

  6. Die Streitkräfte der DDR kamen auf dem Territorium der CSSR nicht zum Einsatz.

Dr. phil., geb. 1936; em. Professor der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig.
E-Mail: E-Mail Link: woehner@uni-leipzig.de