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"Wir schaffen das!" | "Wir schaffen das" | bpb.de

"Wir schaffen das" Editorial Habe ich es geschafft? "Wir schaffen das!" Vom Entstehen und Nachleben eines Topos "Die Geschehnisse des Septembers 2015". Oder: Sprachkämpfe um die Flüchtlingskrise "Wir schaffen das" oder "revolutionäres Bewusstsein"? Überlegungen zur Willkommenskultur 2015 Vor dem 5. September. Die "Flüchtlingskrise" 2015 im historischen Kontext Die Asylkrise 2015 als Verwaltungsproblem Kommunen in der Pflicht? Fluchtzuwanderung als Innovationsmotor für kommunale Integrationspolitik

"Wir schaffen das!" Vom Entstehen und Nachleben eines Topos

René Schlott

/ 16 Minuten zu lesen

"Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun – zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen –, um genau das durchzusetzen."

Zum zehnten Mal in ihrer Amtszeit stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015 in einer sogenannten Sommerpressekonferenz den Fragen der versammelten Hauptstadtpresse, als die entscheidenden Worte fielen, die schon heute als die Signatur ihrer Kanzlerschaft gelten: "Wir schaffen das!" Dabei wird die zitierte, aus rund 70 Worten bestehende Redepassage auf die heute berühmten drei Worte reduziert. Ob sie spontan fielen oder auf dem vor ihr liegenden Sprechzettel notiert waren, ist ungeklärt. Jedenfalls hat Merkel sie nicht direkt abgelesen, wie in der Fernsehaufnahme zu sehen ist.

Mitte Juli hatte die Kanzlerin auf einer Dialogveranstaltung in einer Rostocker Schule noch erklärt: "Wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen, Ihr könnt alle aus Afrika kommen, und Ihr könnt alle kommen‘ – das können wir auch nicht schaffen", und damit das palästinensische Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil zum Weinen gebracht. "Dem vermeintlichen Kernsatz der Flüchtlingskanzlerin (…) geht also nur einen Monat zuvor die Feststellung des Gegenteils voraus", hielt der Journalist Robin Alexander später fest. Viel wurde inzwischen spekuliert und küchenpsychologisiert, wie sehr das Zusammentreffen mit der damals 15-jährigen Schülerin die Haltung der Kanzlerin verändert habe. Jedenfalls dauerte es keine sechs Wochen vom Rostocker "Das können wir nicht schaffen" bis zum Berliner "Wir schaffen das".

Die Sommerpressekonferenz am Montag bildete den Auftakt zu einer ereignisreichen Woche. Am Mittwoch wurde der Leichnam von Alan Kurdi an die türkische Küste gespült. Das Bild des zweijährigen syrischen Jungen löste weltweit Entsetzen aus. Unterdessen verschärfte sich die humanitäre Situation der Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof so sehr, dass sich am Freitag Hunderte zu Fuß über die Autobahn auf den Weg Richtung Österreich machten, um nach Deutschland zu gelangen. In der Nacht von Freitag auf Samstag (4./5. September) entschied die Bundeskanzlerin nach Rücksprache mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann, die Menschen nicht gewaltsam aufzuhalten, sondern in Deutschland aufzunehmen. Merkels "Wir schaffen das" ging diesen Schlüsselereignissen also voraus. Doch im Rückblick wirken diese drei Worte wie das Grundrauschen des deutschen Herbstes 2015. Zusammen mit Selfies, die Merkel mit Flüchtlingen zeigen, wurden sie oft als Einladung nach Deutschland missinterpretiert. Dabei musste sich niemand, der vor Not und Elend, Krieg und Gewalt flüchten musste, "einladen" lassen. So wurde dem Satz im Nachhinein eine Bedeutung zugeschrieben, die er ursprünglich gar nicht hatte.

Obwohl – oder möglicherweise gerade weil – der Satz der Kanzlerin maximal unkonkret formuliert war, entfaltete er eine solche Wirkung. Zugleich warf er Fragen auf: Was ist mit der Haltung "Wir schaffen das" politisch verbunden? Wer ist "wir"? Was genau ist "das"? Und was ist mit denjenigen, die "das" gar nicht schaffen wollen?

Wer ist "wir", und was ist "das"?

Interessant ist, dass Merkel in ihrem gesamten Statement das Personalpronomen "ich" nahezu mied und stattdessen von "wir" und "uns" sprach. Rhetorisch lief also von Beginn an alles auf ein großes "Wir" hinaus. Zunächst war der Satz wohl nach innen gerichtet: Vom "Wir" durfte sich jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin angesprochen fühlen – oder auch nicht. Denn die Pressekonferenz stand noch ganz unter dem Eindruck von Merkels Besuch einer Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau in der Vorwoche, bei dem sie aus einer hasserfüllten Menschenmenge heraus beleidigt und beschimpft worden war. Auch im Lichte dieses Ereignisses erklärte Merkel, dass vom "Wir" all die ausgeschlossen sind, "die die Würde anderer Menschen in Frage stellen": Hassprediger, Gewalttäter, Brandstifter, Hetzer, Fremdenfeinde. Explizit eingeschlossen waren dagegen Bund, Länder und Kommunen sowie die vielen Helfenden aus der Zivilgesellschaft.

Ein Jahr später führte Merkel auf die Frage nach dem "Wir" aus: "Ich meinte mich als Bundeskanzlerin, dazu alle Politiker, die den Anspruch haben, diese Aufgabe zu bewältigen, und natürlich meinte ich auch die vielen Ehrenamtlichen, die Hilfsorganisationen, die Wirtschaft und die übrige Gesellschaft, letztlich uns alle (…). Das Wir geht aber über Deutschland hinaus: Wir Europäer müssen es schaffen, die EU-Außengrenzen zu sichern und gleichzeitig die Freizügigkeit im Inneren des Schengenraums zu erhalten. Und wenn Sie es noch weiter denken wollen, sind auch all die in das Wir einbezogen, aus deren Regionen die Flüchtlinge kommen. Also all jene, die mit dazu beitragen können und müssen, wenn es um die Bewältigung von Flüchtlingskrisen geht."

Zum "Das", was zu schaffen sei, lassen sich ähnliche Überlegungen anstellen. In ihrem Statement auf der Pressekonferenz bezeichnete Merkel die Flüchtlingsbewegung Richtung Europa noch recht abstrakt als "zentrale" und "riesige Herausforderung", als "große nationale Aufgabe" und "Kraftanstrengung". Um die Größe der Aufgabe und Deutschlands Fähigkeit, diese zu bewältigen, zu verdeutlichen, erinnerte die Kanzlerin an die Deutsche Einheit, an die Bankenrettung zwei Jahre zuvor, an den Atomausstieg nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 sowie an Naturkatastrophen, "denen wir (…) immer entschlossen und geschlossen begegnet sind". Etwas konkreter wurde sie dann, als sie eine Beschleunigung der Asylverfahren und eine faire Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen ankündigte sowie vermehrte Integrationsanstrengungen und langfristige Wohn- und Arbeitsperspektiven versprach.

Vorläufer

Merkels "Wir schaffen das" war im Grunde nichts Neues; ähnliche Phrasen hatte sie unter anderem im Zusammenhang mit der Finanzkrise schon öfter verwendet. Der Publizist Roger Willemsen monierte bereits nach Merkels Neujahrsansprache 2012/13: "Immer wieder habe ich sagen hören, ‚gemeinsam‘ könnten wir ‚es‘ schaffen. Aber was ist dieses ‚es‘, wo ist der Schauplatz für dieses ‚gemeinsam‘, und wie belastbar ist diese Rhetorik?"

Ausgerechnet der damalige Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte sich im August 2015 schon einige Tage vor Merkel in einem Videopodcast derselben Worte bedient: "Frieden, Menschlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit: Das zählt zu den europäischen Werten. Jetzt müssen wir sie unter Beweis stellen. Ich bin sicher, wir schaffen das." Ein Jahr später, als die Presse genau darauf aufmerksam machte, gehörte er allerdings schon zu den Kritikern des Satzes, womit er freilich nicht auf sich selbst, sondern auf die Kanzlerin zielte.

Und noch ein weiterer Spitzenpolitiker wurde mit dem Dreiklang vor Merkel zitiert. Am 30. August 2015, einen Tag vor der Pressekonferenz der Kanzlerin, sprach sich der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zusammen mit weiteren Prominenten in der "Bild am Sonntag" für die Aufnahme von Flüchtlingen aus: "Ich bin überzeugt: Wir schaffen das."

Doch letztlich ist es egal, wer das Copyright für den bis dato alltagssprachlichen Drei-Worte-Satz beanspruchen kann: Mit der größten Wirkmächtigkeit hat ihn Angela Merkel ausgesprochen, und die meisten Menschen dieses Landes verbinden ihn (nur) mit ihr. Wer ihn heute im Berliner Politikbetrieb nutzt, stellt sich bewusst in einen Kontext, ob er den Inhalt des Satzes nun ablehnt oder ihm zustimmt. Mit anderen Worten: Der einst gewöhnliche Satz hat seine Unschuld verloren.

Ein historischer Vorläufer ließe sich vielleicht im SPD-Wahlkampfslogan von 1969 erkennen: "Wir schaffen das moderne Deutschland!" Darüber hinaus sind verschiedene Drei-Worte-Phrasen in die deutsche Geschichte eingegangen, etwa "Mehr Demokratie wagen" (Willy Brandt, 1969), "Freiheit statt Sozialismus" (CDU, 1976) oder "Sie kennen mich" (Merkel, 2013). Die größte Ähnlichkeit weist Merkels Satz aber mit dem wohl berühmtesten Drei-Worte-Satz der Zeitgeschichte auf, dem Wahlkampfslogan des späteren US-Präsidenten Barack Obama: "Yes we can" (2008). Wie Obama setzte Merkel damit auf die optimistische und zupackende Ausstrahlung eines Satzes, der für manche wie ein "auf die deutsche Innenpolitik gemünzte[s]" "No pasarán" (Spanisch: "Sie kommen nicht durch") klang, um allen Zweiflern und Kritikern mit Entschlossenheit entgegenzutreten.

Der Journalist Alfons Kaiser vermutete in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" indes eine Zeichentrickfigur als Inspiration für das Kanzlerinnenmotto: Mit einem Augenzwinkern wies er darauf hin, dass im Refrain der Titelmelodie von "Bob, der Baumeister" "Yo, wir schaffen das!" gesungen wird. Von anderen Beobachtern wurde hingegen ein Zusammenhang mit Merkels Herkunft aus einem protestantischen Pastorenhaushalt hergestellt, etwa indem ihr Satz mit einem berühmten Zitat Martin Luthers vermischt wurde: "Wir schaffen das, ich kann nicht anders."

Resonanzen

Merkels Satz war also in keiner Weise unkonventionell, und so fiel er den auf der Pressekonferenz anwesenden Korrespondentinnen und Korrespondenten zunächst gar nicht weiter auf – weder gab es merkliches Erstaunen noch irgendwelche Nachfragen, wer oder was genau gemeint sein könnte. Auch in der abendlichen "Tagesschau" spielten die Worte keine Rolle. In den "Tagesthemen" desselben Tages hingegen erkannte Kommentator Robin Lautenbach in dem Satz bereits den Teil einer Merkel’schen Vision: "Ihre Vision ist ein Bild von Deutschland. Ausgestattet mit den Werten des Grundgesetzes kann dieses Land auch schwere Krisen meistern. Von Wiedervereinigung bis Flüchtlingsfrage – wir schaffen das. Das ist die Ansage."

Die Schlagzeilen des folgenden Tages ließen die spätere Bedeutung des Satzes ebenfalls noch nicht erkennen, stattdessen wurden andere Teile von Merkels Statement zitiert. Die "Süddeutsche Zeitung" etwa titelte "Deutschland ist ein Land der Hoffnung", die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" machte auf mit "Merkel: Verantwortung für Flüchtlinge teilen". Allerdings war der Leitartikel in der FAZ mit "Wir schaffen das" überschrieben. Sein Autor, Jasper von Altenbockum, kritisierte Merkel für den Satz, und unterstellte, sie habe mit der Phrase "eine schier grenzenlose Aufnahmewilligkeit Deutschlands betont", zugleich aber den europäischen Zusammenhalt gefährdet. Merkels Vorlage nutzte er für seinen eigenen Schlusssatz, den er aus der Perspektive anderer europäischer Staaten, wie Ungarn und Großbritannien, gegenüber Deutschland umformulierte: "Ihr schafft das, wir nicht."

Andere Beobachter sahen den Zweck des Merkel-Satzes vor allem als Motivation: "Die Kanzlerin hat vielmehr den Menschen hierzulande Mut machen, hysterische Deutungen entdramatisieren und den Hasskappisten entgegentreten wollen." Denn zum Zeitpunkt der Pressekonferenz rechneten die Behörden intern bereits damit, dass Deutschland über das ganze Jahr 2015 gerechnet die damals noch unvorstellbare Zahl von 800.000 Menschen aufnehmen würde.

Im Oktober 2015 erklärte der Kolumnist Georg Diez Merkels Satz auf "Spiegel Online" zum "Schlüssel zu einer guten Gesellschaft". Zugleich beklagte der Autor: "[E]s ist traurig und auch beschämend, wie dieser Satz manipuliert und wissentlich verdreht und schließlich in der Berliner Politikmaschine zerschreddert wird." Denn der Satz war für ihn sowohl eine "Brücke" zwischen Kanzlerin und Bürgerinnen und Bürgern als auch ein "Bruch", weil er nichts mit Parteipolitik zu tun habe. Er sei Merkels "zivilgesellschaftliches Credo" und angesichts der Willkommensszenen vom Münchener Hauptbahnhof eine "zivilgesellschaftliche Realität". Der FAZ-Redakteur Christian Geyer hingegen kritisierte "Wir schaffen das" als einen "Glaubenssatz wie beim neurolinguistischen Programmieren (NLP)". Joachim Frank vom "Kölner Stadtanzeiger" bezeichnete den Satz der rhetorisch sonst eher nüchternen Kanzlern noch ein Jahr später als "eine stürmische Ansage", während Robin Alexander von der "Welt" in ihm zwar die "Parole der deutschen Willkommenskultur" sah, ihn aber zugleich als "Paradebeispiel emotions- und geistloser Sprache" bewertete.

Merkels Satz machte es ihren Gegnern leicht, denn man musste nur ein einzelnes Wort an sein Ende setzen, um den positiv gemeinten Ausspruch in sein Gegenteil zu verkehren: "Wir schaffen das nicht" oder "niemals", hieß es dann. Eine weitere Abwandlung und Umkehrung war das "Wir wollen das gar nicht schaffen", wie es der AfD-Politiker Alexander Gauland schon im Oktober 2015 verkündete. Die Deutungshoheit über den Satz ist Merkel also schnell entglitten. Und auch ein Alleinnutzungsrecht blieb ihr selbstverständlich verwehrt.

Denn selbst ausländische Politiker verwendeten den Satz fortan in seiner Originalsprache, etwa der damalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, der im Dezember 2015 im Zusammenhang mit einem stärkeren Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union auf Deutsch bekräftigte: "Wir schaffen das". Und in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2016 beendete die Schriftstellerin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger ihre Rede in Anwesenheit der Bundeskanzlerin mit einer kleinen Hommage: Deutschlands Großherzigkeit bei der Flüchtlingsaufnahme sei der Hauptgrund, weshalb sie mit Freude zugesagt habe, über "die früheren Untaten" zu sprechen, "hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und (…) entsteht, mit dem schlichten und dabei heroischen Slogan ‚Wir schaffen das‘".

Der damalige österreichische Außenminister und heutige Bundeskanzler Sebastian Kurz nutzte im Februar 2016 auf einer Wiener Westbalkankonferenz, zu der Deutschland nicht eingeladen war, ebenfalls einen Drei-Worte-Satz, um auch rhetorisch bewusst eine Gegenposition zu Merkels Ausspruch einzunehmen: "Österreich ist überfordert", deklamierte er. Dennoch hätte Merkel wohl kaum erwartet, dass auch der britische Premierminister Boris Johnson bei seinem Antrittsbesuch im August 2019 erklärte: "Wir schaffen das". Ein Satz, den er ablas und einstudiert haben musste, denn Johnson spricht kein Deutsch. So war er nichts anderes als ein rhetorischer Seitenhieb auf die Kanzlerin, die in der Frage eines Austrittsvertrages zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union eine harte Haltung vertrat. Die neben dem britischen Premier stehende Kanzlerin musste sich auf der live übertragenen Pressekonferenz also anhören, wie ihr eigener Satz gegen sie verwendet wurde.

Vom Mantra zum Roten Tuch

Im Verlauf des Jahres 2015 geriet der Satz zu Merkels Mantra, wurde "der banale Motivationssatz zur politischen Botschaft", ja zu einer "Beschwörungsformel", die die Kanzlerin selbst immer wieder zitierte. Hatte der Satz in der Sommerpressekonferenz noch eine Nebenrolle gespielt, stellte sie ihn in den kommenden Monaten rhetorisch deutlicher heraus und setzte ihn etwa an das Ende von Reden, um seinen proklamierenden Charakter noch zu verstärken. So erklärte Merkel etwa im September auf der Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann: "Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen und wir schaffen das." Und in der Sendung "Anne Will" drei Wochen später ging sie geradezu inflationär mit der Phrase um: "Wir schaffen das, davon bin ich ganz, ganz fest überzeugt. (…) Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass wir es schaffen. (…) Wir müssen es schaffen. (…) Und das können wir auch schaffen. (…) Menschen, die zum Teil über sich hinauswachsen, zeigen auch, dass sie es mit mir schaffen wollen."

Auch in ihrer Rede auf dem CDU-Bundesparteitag im Dezember 2015 und ihrer Neujahrsansprache 2016 ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Appell zu platzieren, freilich mit dem Zusatz "denn Deutschland ist ein starkes Land". Zeitweise sollen ihre Beraterinnen und Berater sogar erwogen haben, den Satz als Motto für den Bundestagswahlkampf 2017 einzusetzen. Auch auf der Sommerpressekonferenz 2016 sprach Merkel erneut von einer historischen Aufgabe, der man gerecht werden müsse und könne, und wiederholte: "Wir schaffen das."

Doch die Stimmung hatte sich längst gedreht. Zwischen den beiden Sommerpressekonferenzen lagen unter anderem die Kölner Silvesternacht, das Wiedererstarken der AfD, Meldungen von überforderten Kommunen und harte politische Auseinandersetzungen über die deutsche Asylpolitik. Nach einer YouGov-Umfrage aus dem Juli 2016 stimmten zu diesem Zeitpunkt nur noch 27 Prozent der Deutschen Merkels Ausspruch zu, 66 Prozent der Befragten dagegen erklärten, ihm eher nicht oder überhaupt nicht zuzustimmen. Zeitgleich bekräftigte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, er könne sich den Satz "beim besten Willen nicht zu eigen machen". Er wurde mehr und mehr zum Kristallisationspunkt einer hitzigen Debatte um den richtigen Kurs in der Flüchtlingspolitik und von vielen offenbar zunehmend als Provokation empfunden – auch wenn das von Merkel wohl nicht beabsichtigt war.

Im September 2016 erklärte die Kanzlerin schließlich auf parteiinternen Druck hin, sie habe den Satz zu oft benutzt, sodass er mit einer Bedeutung aufgeladen worden sei, die ihm gar nicht zukomme. Durch Missinterpretationen sei er "fast zu einer Leerformel geworden", die sie "am liebsten kaum noch wiederholen mag". Nachdem die CDU kurze Zeit später bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus herbe Verluste hinnehmen musste, fiel die Distanzierung noch deutlicher aus. Der Satz habe sich zu einer "unergiebigen Endlosschleife entwickelt", so Merkel.

Danach ist die Kanzlerin nur noch einmal "rückfällig" geworden – und zwar auf dem Politischen Aschermittwoch ihrer Partei 2018 im vorpommerschen Demmin, als sie am Ende ihrer Rede erneut erklärte: "Ich bin überzeugt: Wir schaffen das." Der Journalist Stefan Braun berichtete damals: "Merkel lächelt auch an dieser Stelle. So umstritten der Satz längst ist – er soll ihr gehören. Sollen die anderen schimpfen und dagegen wettern. Sie hat ihn wieder entdeckt und in Besitz genommen." Er ließ sich aber genauso auch weiterhin gegen sie verwenden, etwa als der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018 auf "Wir schaffen das" zurückführte.

Nachleben

Seit Januar 2016 hat "Wir schaffen das!" einen eigenen Wikipedia-Eintrag und damit die höheren Weihen eines Online-Lexikonartikels erreicht. Von dem Eintrag liegen inzwischen Sprachversionen in Englisch ("we can manage this; we can do it; we can do this"), Französisch ("Nous y arriverons!") und Niederländisch ("Het lukt ons wel") vor. Zur Historisierung tragen auch filmisch-fiktionale Verarbeitungen bei: Im Dokudrama "Die Getriebenen", das im Frühjahr 2020 von der ARD ausgestrahlt wurde, steht Merkels Satz im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung im Hause Merkel-Sauer. Die Szene: Das Ehepaar sitzt auf der Couch vor dem Fernseher, es laufen die "Tagesthemen". Alles atmet die gutbürgerliche Friedfertigkeit des Feierabends. Doch dann reagiert die Film-Merkel pikiert, als ihr Partner von einer "guten Karikatur" zur Flüchtlingskrise erzählt. Es entwickelt sich eine heftige Diskussion, in deren Verlauf der Erdnussflips futternde Kanzlergatte seiner Frau schließlich Versagen im Management der Flüchtlingskrise vorwirft, während sie betont, dass "Wir schaffen das" eben ein "Satz im Präsens" sei. Doch der Film-Sauer krittelt weiter: Der Satz enthalte keine Handlung, er werde nicht von selbst wahr. Derartige mediale Adaptionen verstärken und steigern die Wirkung des Satzes noch, auch wenn Merkel selbst sich längst von ihm distanziert hat. Und obwohl sich der Satz häufig gegen die Kanzlerin gewendet hat, bleibt er doch mit ihr verbunden – vermutlich auch dann, wenn sie nicht mehr Regierungschefin dieses Landes sein wird.

In seinem im Frühjahr 2019 erschienenen Buch "Widerworte" widmete der Journalist Alexander Kissler "Wir schaffen das" ein ganzes, durch und durch kritisches Kapitel und bezeichnete den Satz als "Fahnenappell", "Klagelied" und "autoritären Verzweiflungsruf". Der Historiker Jan Plamper dagegen nutzte das bei Merkel unbestimmte "Wir", um im Titel seiner vielgelobten deutschen Migrationsgeschichte vom "neuen Wir" zu sprechen, zu dem auch die Migrantinnen und Migranten gehören, die sich selbst auch als Newcomer*innen bezeichnen, um die mit dem Wort "Flüchtling" verbundene soziale Diskriminierung zu meiden. Der Journalist Deniz Yücel erklärte die Worte der Kanzlerin im Februar 2020 gar "zum schönste[n] Kanzlersatz seit Willy Brandts ‚Mehr Demokratie wagen‘". In einer Art vorzeitigem Nachruf auf Merkels Amtszeit schrieb Yücel über den Herbst 2015: "Merkels Entscheidung war nicht alternativlos. Es war aber die bestmögliche. Ein Akt von Großherzigkeit, gespeist aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte, auch ihrer DDR-Biographie und getragen von einem kurzen Sommer der Anteilnahme." Der Satz sei deshalb das "Vermächtnis" von Merkels Kanzlerschaft. "Und: Klar schaffen wir das und alles andere. Es wird nur nicht leichter ohne Angela Merkel." Auch der Historiker Edgar Wolfrum erklärte den Satz jüngst zum "zentralen Leitsatz" der Kanzlerin.

Trotz dieser "Vorschusslorbeeren" hat Angela Merkel in den zurückliegenden Krisenmonaten einen weiten rhetorischen Bogen um "Wir schaffen das" gemacht – obwohl die Pandemie-Zeiten eine Wiederholung des Mut machenden Mottos durchaus zugelassen hätten. Vielmehr gelangte zuletzt ein anderer Drei-Worte-Satz aus ihrem Statement vom 31. August 2015 zu ungeahnter Aktualität, mit dem sie seinerzeit die Bürgerinnen und Bürger mahnte, sich von hasserfüllten Parolen und Demonstrationen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen zu distanzieren: "Halten Sie Abstand!"

ist Zeithistoriker und Publizist in Berlin und lehrt an der Universität Potsdam. E-Mail Link: rschlott@uni-potsdam.de