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"Die Geschehnisse des Septembers 2015" | "Wir schaffen das" | bpb.de

"Wir schaffen das" Editorial Habe ich es geschafft? "Wir schaffen das!" Vom Entstehen und Nachleben eines Topos "Die Geschehnisse des Septembers 2015". Oder: Sprachkämpfe um die Flüchtlingskrise "Wir schaffen das" oder "revolutionäres Bewusstsein"? Überlegungen zur Willkommenskultur 2015 Vor dem 5. September. Die "Flüchtlingskrise" 2015 im historischen Kontext Die Asylkrise 2015 als Verwaltungsproblem Kommunen in der Pflicht? Fluchtzuwanderung als Innovationsmotor für kommunale Integrationspolitik

"Die Geschehnisse des Septembers 2015" Oder: Sprachkämpfe um die Flüchtlingskrise

Robin Alexander

/ 15 Minuten zu lesen

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag, den 31. August 2015, um 13.30 Uhr, ihre alljährliche Sommerpressekonferenz beginnt, steht die wichtigste Botschaft bereits fest. Der Auftritt der Kanzlerin vor der Weltpresse hat wegen einer Krisensitzung des EU-Rates verschoben werden müssen – aber nicht wegen der sogenannten Flüchtlingskrise, für die das Jahr 2015 in der historischen Rückschau steht. Unmittelbar vor ihrem Sommerurlaub hat Merkel in einer dramatischen Brüsseler Nachtsitzung den "Grexit", den Rauswurf Griechenlands aus dem gemeinsamen Währungsraum, abgewendet – zum Ärger ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble, der meinte, mit Athen sei die Währungsunion nicht mehr zu retten. Bis zur Jahresmitte galt 2015 noch als Schicksalsjahr der Eurozone.

Erst ab dem Sommer bestimmte eine neue Krise die Schlagzeilen: Immer mehr Migranten waren auf dem Weg nach Zentraleuropa. Noch überwogen Mazedonier, Albaner, Kosovaren und Montenegriner, doch auch immer mehr Syrer nutzten die "Balkanroute". Sie waren vor allem aus überfüllten Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon aufgebrochen, weil der Krieg in Syrien immer mehr Menschen vertrieb. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden so viele Asylanträge gestellt, dass die Behörde die Anträge nicht mehr zeitnah bearbeiten konnte und dazu übergegangen war, Syrern nur auf Grundlage von Dokumenten und ohne Gespräch mit einem deutschen Beamten Asyl zu gewähren. Auch die Kommunen konnten die vielen Ankommenden nur noch provisorisch unterbringen.

In dieser Lage lautete Merkels wichtigste Botschaft: "Deutschlands Gründlichkeit ist super. Aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht." Die Kanzlerin rang in diesen Tagen um die Zustimmung des Bundesrates zu einem "Standardabweichungsgesetz", das es ermöglichen sollte, Asylbewerber künftig auch in aufgegebenen alliierten Kasernen und anderen leerstehenden Immobilien unterzubringen, die nicht alle aktuellen baulichen Vorschriften erfüllten. Merkel sprach die Worte genauso, wie sie es sich zuvor mit ihren engsten Mitarbeitern überlegt hatte – und wie beabsichtigt, prägte der Satz die Berichterstattung am gleichen und am folgenden Tag.

Erinnert werden heute jedoch andere Worte: "Wir schaffen das!" Dieser Satz gilt mittlerweile als Merkels zentrale Aussage in der damaligen Krise. Tatsächlich sagte die Kanzlerin: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden." Auch dies stand schon im Manuskript von Merkels Eingangsstatement. Aber weder die Kanzlerin noch ihre Mitarbeiter hatten den Satz als historisches Zitat geplant. Es handelte sich im Gegenteil um einen "Merkel-Standard", den die Kanzlerin schon oft bemüht hatte. In ihrer Neujahrsansprache 2009 hatte sie etwa zur Weltfinanzkrise gesagt: "Wir wollen stärker aus ihr herausgehen, als wir hineingekommen sind. Das geht, das können wir gemeinsam schaffen!" Auch in der Eurokrise hat Merkel die Formel benutzt und bei zahlreichen anderen Gelegenheiten.

So erregte Merkels "Wir schaffen das" auf der Pressekonferenz auch kaum Aufmerksamkeit. Es gab keine einzige Nachfrage, was sie genau damit meinte – stattdessen fragten die Journalisten über eine Stunde lang nach allen möglichen Details ihrer Flüchtlingspolitik. Der Satz wurde erst nachträglich mit enormer Bedeutung aufgeladen. Das hat er übrigens mit der zentralen visuellen Botschaft Merkels gemein: Auch die gemeinsamen Selfies mit den Flüchtlingen, die zehn Tage später bei einem Besuch in einer Erstaufnahmestelle in Berlin-Spandau entstanden, verbreiteten sich entgegen landläufiger Behauptung zunächst nur mäßig, und welthistorische Relevanz wurde ihnen erst später zugeschrieben – von Kritikern und Unterstützern gleichermaßen.

"Wir schaffen das" steht dabei weniger für eine bestimmte Politik als für eine Haltung: Viele Menschen, die im Herbst 2015 begannen, Kleiderspenden zu sammeln, behelfsmäßigen Deutschunterricht zu geben oder Asylbewerber auf Behördengänge zu begleiten, fassten ihr Engagement unter dieser Parole. Obwohl die Bundesregierung schon bald scharfe Kehren in ihrer realen Migrationspolitik einlegte – was im März 2016 in den "EU-Türkei-Deal" mündete –, blieb es offiziell beim "Wir schaffen das". Das Beharren auf verbaler Kontinuität trotz veränderter Politik löste jedoch auch größte Anfeindungen aus: Die rechtspopulistische AfD, die in der zunächst außerparlamentarischen Opposition gegen Merkels Flüchtlingspolitik einen enormen Auftrieb erfuhr, arbeitete sich wieder und wieder, oft in sarkastischer oder polemischer Form, daran ab. Und als im Frühjahr 2017 mit Erika Steinbach eine langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete aus Protest gegen die Migrationspolitik die Partei verließ, begründete sie das explizit mit: "Der Satz ‚Wir schaffen das‘ hat sich bisher noch nicht erfüllt."

Merkel selbst leistete zur Aufladung der früheren Leerformel einen entscheidenden Beitrag, als sie ihre Worte zwei Wochen später in anderem Zusammenhang wiederholte: Am 15. September trat sie mit dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann vor die Presse und wehrte sich überraschend emotional gegen die erste Welle heftiger Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Und sie fügte hinzu: "Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen und wir schaffen das." Gerade, weil die Gegner der Flüchtlingspolitik gegen den Satz anrannten, verteidigte die Kanzlerin ihn zäh und mochte lange nicht einsehen, wie erfolgreich damit gegen ihre Politik mobilisiert wurde. Auch zum ersten Jahrestag der Äußerung, am 31. August 2016, erklärte sie in einem Interview: "Gesagt habe ich ‚Wir schaffen das‘ aus tiefer Überzeugung, und zwar in dem Bewusstsein, dass wir es mit einer nicht einfachen und großen Aufgabe zu tun haben." Der Satz sei "das richtige Motiv für diese Aufgabe – Ziel und Haltung".

Doch damit drang Merkel nicht mehr durch. Anfang September 2016 schnitt die AfD in Mecklenburg-Vorpommern zum ersten Mal bei einer Landtagswahl stärker ab als die CDU. Als dann auch bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September eine Niederlage drohte, gab die Kanzlerin die unhaltbar gewordene Position schließlich auf: Ihr Ausspruch sei "zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel" geworden, die sie "am liebsten kaum noch wiederholen" möge. Nach der Berlin-Wahl räumte die Kanzlerin eine Teilschuld am schlechten Abschneiden ein und erkannte zum ersten Mal an, dass die von ihr bekämpfte Schließung der Balkanroute auch zum Sinken der Flüchtlingszahlen beigetragen habe. Merkel wollte den Satz jetzt aus der Welt schaffen – aber das sollte ihr nicht mehr gelingen. Er hatte sich verselbstständigt. Ein Teil der Öffentlichkeit wollte sich das Bild von der sich durch "Haltung" auszeichnenden deutschen Kanzlerin nicht mehr nehmen lassen, nicht einmal mehr von der Kanzlerin selbst.

Zur Quellenlage

In den Jahren nach der Flüchtlingskrise hält das Ringen um ihre politische Bewertung an. Dabei fällt auf, dass bei diesem Ringen nicht die historischen Abläufe im Zentrum stehen, sondern ihre Interpretation. Ja, es ist sogar ein nicht enden wollender Streit um ihre Benennung entbrannt. Bevor ich diesen Streit um die Semantik nachzeichne, möchte ich jedoch noch einen kurzen Exkurs in die Aufarbeitung der Ereignisgeschichte unternehmen, genauer: in die Quellenlage. Denn ich möchte die These zur Diskussion stellen, dass die Konzentration der Debatte auf Begriffe auch damit zu tun hat, dass der Öffentlichkeit wesentliche Quellen bis heute nicht zugänglich sind.

Die Abläufe der Ereignisse von 2015 wurden journalistisch aufgearbeitet, wobei sich die Recherchen auf interne Dokumente und vor allem auf Gespräche mit den Akteuren stützen. Einige dieser Akteure, etwa der damalige Innenminister Thomas de Maizière, haben mittlerweile selbst über ihre Entscheidungen in der Flüchtlingskrise geschrieben. Andere, wie sein Nachfolger Horst Seehofer, haben dies angekündigt. Versuche, das vorhandene Bild anhand von Akten und Dokumenten aus den beteiligten Behörden zu vervollständigen, sind hingegen überwiegend gescheitert. Dies ist erstaunlich, gibt doch das Informationsfreiheitsgesetz (IFG), das seit 2006 in Kraft ist, eine gute Handhabe, auf amtliche Informationen zurückzugreifen, die früheren Generationen von Reportern und Historikern nicht zur Verfügung stand. Nach dem IFG kann jeder "amtliche Informationen" beantragen. Als solche versteht das Gesetz "jede amtlichen Zwecken dienende Aufzeichnung, unabhängig von der Art ihrer Speicherung".

Bevor das IFG in Kraft trat, hatten Skeptiker argumentiert, diese Transparenz sei zu radikal, sie greife in das "Arkanum der Exekutive" ein. Indem nicht nur Entscheidungen, sondern auch Teile der Entscheidungsfindung dokumentiert werden müssen, werde quasi die freie Meinungsbildung innerhalb der Regierung behindert. Die Aufarbeitung der Flüchtlingskrise war hierfür ein Testfall – mit erstaunlichem Ergebnis: Die politischen Akteure scheinen vorgebaut zu haben, denn wesentliche Elemente der Entscheidungsfindung sind nicht aktenkundig gemacht worden. So hat die Redaktion von "Welt" und "Welt am Sonntag" 2019 und 2020 unter Federführung des Investigativjournalisten Manuel Bewarder zahlreiche Anträge nach dem IFG gestellt, um Regierungshandeln in der Flüchtlingskrise nachvollziehen zu können. Konkret hatte die Redaktion Zugang zu E-Mails oder Ausarbeitungen beantragt. Doch vor allem das Kanzleramt lieferte nicht. In mehreren Fällen wurden IFG-Anträge abgelehnt, weil "keine Informationen im Sinne der Anfrage" vorlägen. Dies betrifft etwa die Entscheidung von Anfang September 2015, die syrischen Flüchtlinge von der ungarischen Autobahn aufzunehmen. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung, den kurzzeitig diskutierten Familiennachzug für syrische Flüchtlinge doch nicht einzuschränken. Dazu sind keine amtlichen Dokumente vorhanden, es gibt keinen schriftlichen Austausch zwischen Kanzleramt und Innenministerium oder dem BAMF. Auch zu wichtigen öffentlichen Auftritten der Kanzlerin, etwa zu ihrem Einzelinterview in der Sendung "Anne Will" oder zu ihrer Neujahrsansprache 2016, gibt es keine schriftlichen Gesprächsvorbereitungen im Sinne des IFG.

Als die Bundesregierung im Oktober 2015 ihre Arbeitsstruktur veränderte und einen Flüchtlingskoordinator einsetzte, musste dies im Bundeskabinett beschlossen werden. Eine Kabinettsvorlage gibt es selbstverständlich, sie wird nach IFG auch herausgegeben, lag Journalisten aber bereits vorher vor. Der schriftliche Vorschlag von Innenminister de Maizière, der vom später gefassten Beschluss entscheidend abwich, ist im Kanzleramt jedoch nicht mehr vorhanden. Auch andere zentrale politische Entscheidungen, etwa über die Einrichtung von Registrierzentren, haben keine Spuren im Sinne des IFG hinterlassen. Gleiches gilt für die Vorbereitungen des EU-Türkei-Deals durch den Stab Flüchtlingspolitik: Zwar gibt es vier Ausarbeitungen zu "Strategiefragen der internationalen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik Türkei", doch diese werden ebenfalls nicht herausgegeben, weil das Kanzleramt "nachteilige Auswirkungen auf internationale Beziehungen" fürchtet – ein Standardargument, um IFG-Anträge abzuwehren. So muss die interne Entscheidungsfindung vor allem mit Dokumenten rekonstruiert werden, die bei der Kommunikation mit Dritten entstanden, etwa mit der EU-Kommission, der das deutsche Innenministerium immer wieder zu den Grenzkontrollen berichtete. Ebenfalls herausgegeben wurden aufschlussreiche Protokolle zum Bund-Länder-Koordinierungsstab und zum Lenkungsausschuss "Bewältigung der Flüchtlingslage" im Innenministerium.

Bewarder kommt zu einem bemerkenswerten Fazit: "Das wohl wichtigste Ergebnis der Recherche ist (…), dass die Regierung offensichtlich immer wieder darauf achtete, dass ihre Arbeit nicht offiziell dokumentiert wurde, also nicht nachvollzogen werden kann. (…) So wurde die Rechtsauffassung, wonach das Zurückweisen von Asylbewerbern rechtlich zulässig ist, nur als sogenanntes Non Paper verfasst – so nennt man ein Papier, das nie offiziell veraktet wird. Im Grunde existiert es damit nicht – obwohl es Beamte ausgearbeitet haben. Das IFG ist hier zahnlos. Entwürfe oder Notizen fallen nicht unter das Gesetz. Wo keine Akte, da keine Auskunft."

Sprachkämpfe

Vielleicht trägt der politisch gewollte Mangel an Primärquellen dazu bei, dass sich die mediale Aufarbeitung der Flüchtlingskrise vor allem auf semantische Fragen konzentriert. Lange nachdem im März 2016 mit der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal die politischen Leitentscheidungen zur Beendigung der Krise getroffen wurden, toben in Deutschland noch heute Sprachkämpfe. Die Diskussion über die Bewertung politischer Entscheidungen verschiebt sich in einen Streit um ihre Benennung.

Das beginnt mit der in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 getroffene Entscheidung Merkels, Migranten aus Ungarn nach Deutschland zu holen. Wer dies mit dem naheliegenden Begriff "Grenzöffnung" bezeichnet, löst Stürme der Empörung aus. Das Argument lautet: Da die deutsch-österreichische Grenze als europäische Binnengrenze im "Schengen-System" vorher nicht geschlossen war, hätte sie denklogisch auch nicht geöffnet werden können. Das Gegenargument geht so: Die Bundesregierung legte zuvor gegenüber der ungarischen Regierung großen Wert darauf, dass diese Migranten laut der "Dublin-Vereinbarung" nicht nach Deutschland kommen durften – und änderte dann ihre Meinung. Für diese Migranten und die Hunderttausenden, die ihnen folgten, öffneten sich die Grenzen also sehr wohl.

Im Kern ist das eine Wortklauberei, aber eine, von der weder eingeschworene Gegner noch minder entschlossene Befürworter von Merkels Flüchtlingspolitik lassen wollen. Den politischen Journalismus bringt dieser Streit an seine Grenzen. Denn die Abbildung der Entscheidungen des Jahres 2015 kann in der politisch korrekten Terminologie späterer Jahre nicht gelingen. Um im Beispiel zu bleiben: Die zentralen politischen Akteure sprachen damals selbst ständig von einer "Grenzöffnung". Wenige Tage vor der Entscheidung plädierte etwa die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, im Innenausschuss des Bundestages angesichts der "menschenunwürdigen Bedingungen in Ungarn dafür, die deutschen Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen". Laut Protokoll antwortete Bundesinnenminister de Maizière darauf: "Eine Öffnung der deutschen Grenze für die Flüchtlinge entspreche weder der geltenden Rechtslage, noch halte er dies für vernünftig, da es zu Zugangszahlen führen würde, die auch ein reiches und gut organisiertes Land wie Deutschland an die Grenze dessen bringen würden, was geleistet werden könne." Nicht nur dem zuständigen Minister war damals bewusst, dass die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn eben keine Selbstverständlichkeit des Schengen-Systems war, sondern vielmehr eine Aussetzung der Dublin-Regeln bedeutete. Auch die Kanzlerin bestätigte dies auf einer Pressekonferenz: "Wir haben sogar noch die rechtlichen Implikationen überprüft: Kann man einen Notfall charakterisieren, ohne das Dublin-System aufzugeben?"

Unerbittliche politische Korrektheit gibt es von links wie von rechts, teilweise werden dabei die gleichen Begriffe kritisiert, nur mit anderer Stoßrichtung. So zieht jeder Bericht über "Flüchtlinge" vorhersagbar zahlreiche Leserbriefe nach sich. Ein Teil der schreibenden Leser verlangt, dass dieser Terminus nur für bereits anerkannte Asylbewerber verwendet wird und suggeriert damit, dass das Gros der Anträge unbegründet sei. Ein anderer Teil klagt hingegen die im Herbst 2015 aufgekommene Formulierung "Geflüchtete" ein, da die Schutzsuchenden ansonsten auf ihren Status reduziert, gar "entmenschlicht" würden. Zeitungsredaktionen stellt dies vor Herausforderungen. Wer in längeren Texten, auch um ständige Wiederholungen zu vermeiden, die Worte "Flüchtlinge" und "Migranten" abwechselnd wie Synonyme verwendet, bekommt noch mehr Ärger von beiden Seiten: Während die einen postulieren, auch eine wirtschaftliche Migration sei unter den Bedingungen einer ungerechten Weltordnung als "Flucht" zu werten, wollen andere überhaupt keinem Asylbewerber mehr Fluchtgründe im Sinne des Grundgesetzes oder der Genfer Flüchtlingskonvention zugestehen.

Auch die Bundesregierung begann ab Oktober 2015, sich an der semantischen Front zu verkämpfen: So lehnte die Kanzlerin monatelang die Einrichtung eines "Krisenstabs" im Innenministerium ab, da der Eindruck vermieden werden sollte, das Land sei in einer Krise. Der Begriff "Krise" durfte in keinem offiziellen Dokument auftauchen. Als im Oktober dann nicht nur auf der Arbeitsebene des Ministeriums, sondern sogar im Kabinett Zuständigkeiten zusammengefasst wurden, war der entsprechende Beschluss überschrieben mit: "Bewältigung der Flüchtlingslage". Jetzt wurde ein Krisenstab geschaffen, der so groß war, dass gegenüber dem Kanzleramt sogar eigene Büros angemietet werden mussten. Offiziell hieß er aber "Koordinierungsstab Flüchtlingspolitik".

Die semantischen Kämpfe überdauern die politischen hier ebenfalls: Der "Koordinierungsstab" ist längst wieder aufgelöst, die Flüchtlingskrise schon Geschichte, als die Opposition noch immer nichts von ihr wissen will. Als der Autor dieses Textes im September 2018 in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" zum dritten Jahrestag des Beginns der Flüchtlingskrise befragt wird, unterbricht die ebenfalls in die Runde geladene ehemalige Verbraucherschutzministerin und Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, schon die Frage. Es habe niemals eine Flüchtlingskrise gegeben, insistiert sie. Als der Moderator ersatzweise den Begriff "Migrationskrise" vorschlägt, widerspricht Künast ebenfalls. Schon das Wort "Krise" habe einen negativen Beigeschmack. Wer es benutze, betreibe "das Geschäft der AfD". Da Künast selbst keinen Vorschlag für einen vermeintlich neutralen Begriff machen will, einigt sich die Runde darauf, fortan nur noch von "den Geschehnissen des Septembers 2015" zu sprechen. Doch in dieser Terminologie ist ein für durchschnittliche Zuschauer verständliches Gespräch kaum mehr möglich. Vor der Ausstrahlung wird dieser Teil der Talksendung deshalb herausgeschnitten.

Ein besonderes Merkmal der semantischen Konflikte um die Flüchtlingspolitik scheint zu sein, dass es sie so nur in der deutschen Sprache gibt. So ist es in englischsprachigen Medien – unabhängig vom politischen Standpunkt – bis heute üblich und vollkommen unumstritten, von einer "refugee crisis" zu schreiben oder zu sprechen. Auch die Grenzöffnung hat es in dieser Sprache ganz selbstverständlich gegeben. Linksliberale Medien wie der "Guardian" lobten Merkels Entscheidung "die Grenzen zu öffnen", und als sie im Mai 2019 bei der Graduiertenfeier der Harvard-Universität sprach, wurde sie dort nicht nur für den Atomausstieg und die Ehe für Homosexuelle gepriesen, sondern auch mit den Worten angekündigt: "Sie öffnete ihr Land für über eine Millionen Flüchtlinge aus den Kriegen des Nahen Ostens."

Sogar aus dem Englischen entlehnte, technische Begriffe werden im Deutschen mit einer Bedeutung aufgeladen, die angeblich schon den politischen Standort des Sprechers oder Schreibers verrät. Ein Beispiel hierfür ist der EU-Türkei-Deal, der die Akutphase der deutschen Flüchtlingskrise beendete. Auch hier sind die Fakten unumstritten: Am 18. März 2016 einigten sich der Europäische Rat und die Europäische Kommission mit dem Ministerpräsidenten der Türkei, Ahmet Davotoğlu, auf eine Reihe von Maßnahmen, um die Zuwanderung von Asylbewerbern aus diversen Herkunftsstaaten über das Gebiet der Türkei nach Europa zu reduzieren. Der Kern der Vereinbarung ist die Bereitschaft der Türkei, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die von seiner Küste nach Europa aufgebrochen sind, und im Gegenzug Kontingente von ausgewählten Migranten nach Europa zu schicken. Damit sollte das Ziel erreicht werden, das Merkel in jenen Tagen wieder und wieder formulierte, "illegale Migration durch legale Migration zu ersetzen". De facto beendete allerdings vor allem ein entschlossenes Vorgehen der türkischen Polizei die vorher geduldete massenhafte Überquerung der Ägäis. Die wichtigste Komponente des EU-Türkei-Deals ist eine finanzielle: Die EU sagte die Zahlung von sechs Milliarden Euro zu, womit die Lage syrischer Flüchtlinge in der Türkei verbessert werden sollte. Und der Türkei wurde noch mehr versprochen: So sollten die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige im Schengen-Raum aufgehoben und weitere Kapitel der stockenden EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet werden.

Da zumindest ein Teil der Gegenleistungen der EU an die Türkei erkennbar nichts mit Migration zu tun hatte, also sachfremd war, sprach man in Brüssel vom EU-Turkey-Deal. Diesen Terminus benutzten auch deutsche Regierungsvertreter – allerdings nur, wenn sie Englisch sprachen. Dem deutschen Publikum soll der Begriff hingegen nicht zugemutet werden. Auch Journalisten wurden vom Bundespresseamt wiederholt aufgefordert, stattdessen vom "EU-Türkei-Abkommen" zu sprechen. Die Begründung: Der Begriff "Deal" sei im englischen neutral, klinge im Deutschen aber pejorativ. Wer vom "EU-Türkei-Deal" spreche oder schreibe, wolle einen "schmutzigen Deal" suggerieren. So kam es ein paar Monate lang auch bei der Berichterstattung über die äußerst unvollständige Umsetzung des Abkommens zum ständig wiederkehrenden semantischen Kleinkrieg um die Begriffe "Deal" oder "Abkommen".

Dieser war allerdings besonders absurd. Denn nicht nur streng genommen gab es kein Abkommen: Es gab überhaupt keine schriftliche Vereinbarung. Weder der EU-Rat noch die EU-Kommission noch Vertreter der Türkei hatten irgendwelche Dokumente unterzeichnet, und schon gar nicht hatte das EU-Parlament oder ein nationales Parlament der damals noch 28 Mitgliedstaaten irgendetwas ratifiziert. Völkerrechtlich reduzierte sich das vermeintliche "EU-Türkei-Abkommen" auf zwei Pressemitteilungen. In einer von ihnen wird allerdings auf einen "Aktionsplan zur Begrenzung der Zuwanderung über die Türkei" rekurriert, der jedoch schon aus dem November 2015 stammt, und auf ein "Rücknahmeabkommen" der EU mit der Türkei von 2013. In beiden Dokumenten tauchen die wesentlichen Vereinbarungen von 2016 aber nicht auf. Anders als der Streit um die Begriffe "Grenzöffnung" oder "Offenhaltung der Grenzen" wurde der semantische Kleinkrieg um "Deal" oder "Abkommen" höchstrichterlich entschieden. Denn im Februar 2017 klagten drei Flüchtlinge beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gegen das "EU-Türkei-Abkommen". Die höchsten Richter der EU lehnten jedoch schon die Befassung damit ab. Ihr Argument: Im völkerrechtlichen Sinne existiere kein Abkommen, folglich könne dies auch nicht beklagt werden. Erst danach lenkten die Sprachwächter teilweise ein. Zumindest in offiziellen Stellungnahmen spricht die Bundesregierung jetzt nicht mehr vom "EU-Türkei-Abkommen", sondern nutzt den Begriff "EU-Türkei-Erklärung".

Schluss

Vielleicht sollten auch heutige Beobachter diesem Beispiel folgen und künftig Begriffe verwenden, die noch keine politische Wertung vorwegnehmen. Die Zeit dafür scheint günstig: Fünf Jahre nach Angela Merkels "Wir schaffen das" ist die Flüchtlingskrise aus dem Zentrum der politischen Auseinandersetzung verschwunden. Dies hat vor allem mit einer neuen Krise zu tun: der Corona-Pandemie. Wie Deutschland aus dieser hervorgeht, ist im Sommer 2020 noch völlig offen. Allerdings kann als ein erster Trend beobachtet werden, dass die Bundesregierung durch entschlossenes Handeln vorher verlorenes Vertrauen zumindest teilweise zurückgewinnen konnte. Die Parteien der Mitte scheinen ihre Anhängerschaft wieder verbreitern zu können, die politischen Ränder verlieren an Vertrauen und radikalisieren sich weiter. Vielleicht bietet sich jetzt auch Journalisten und Historikern die Chance, die Schützengräben der erstarrten Front eines semantischen Stellungskrieges zu verlassen und sich den Ereignissen mit neuer Unvoreingenommenheit zu nähern.

ist stellvertretender Chefredakteur von der "Welt" und der "Welt am Sonntag" und unter anderem Autor des Buches "Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik" (2017). E-Mail Link: robin.alexander@welt.de