Bürgerlichkeit ohne Bürgertum?
Parallele Entbürgerlichung in DDR und Bundesrepublik
In der "alten" Bundesrepublik hat diese Entwicklung ihren prägnanten Ausdruck in Helmut Schelskys Modellmetapher der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" gefunden. Als Resultante verschiedener Prozesse - etwa des Aufstiegs der Arbeiterschaft und der Verarmung bürgerlicher Flüchtlinge - habe sich, so Schelsky, "eine breite, verhältnismäßig einheitliche Gesellschaftsschicht" herausgebildet, welche die Tendenz zur "Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen" aufweise.[22]Namhafte Sozialwissenschafter konstatierten in der, durch die vollzogene Westbindung initiierten, bundesdeutschen Erfolgsgeschichte die vermeintliche Auflösung der einstmals klassentypischen Gegensätze und ersetzten das Klassenmodell durch Schichtungstheorien. "Ein solch kleinteiliges Schichtungsmodell", formuliert der Soziologe und Ethnologe Rolf Linder, "legte intra- und vor allem intergenerationale Aufstiegsaspirationen als realistisch und realisierbar nahe, etwa von der Oberen Unterschicht zur Unteren Mittelschicht oder von der Unteren Mittelschicht zur Oberen Mittelschicht."[23]
Als Leitbild der expandierenden und auf gesellschaftlichen Erfolg gestellten mittleren Lagen erschien die in den 1960er Jahren von Karl Martin Bolte entworfene dickbäuchige "Bolte-Zwiebel". In dieser Visualisierung der bundesdeutschen Sozialstruktur spiegelte sich der vermeintlich ungeheure Zuwachs der Mittelschicht, zu der damals die Majorität der Gesellschaft gerechnet wurde. Im Zuge dieser vorschnellen Abkehr von Klassenunterschieden, wurden, wie Jens Hacke formuliert, die "feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu) eingeebnet, "denn eine uniforme Kultur des Konsums, des Profitdenkens und des marktgesteuerten bzw. staatlich abgefederten Wohlfahrtsstrebens schritt unaufhaltsam voran. Der "außengeleitete Mensch" (David Riesman) hatte kein Verlangen mehr nach bürgerlicher Innerlichkeit und den lange kultivierten Distinktionsmodi der Status- und Bildungsrepräsentation."[24]
In der DDR vollzogen sich die Auflösung des alten Bürgertums sowie eine radikale Entbürgerlichung in machtgesteuerten diktatorischen Bahnen. Während das Besitz- und Wirtschaftsbürgertum weitgehend enteignet wurde,[25] ergaben sich für bildungsbürgerliche Professionen - vor allem für Ärzte, Hochschullehrer und "Kulturschaffende" -, zunächst mit Privilegien beworbene Sonderräume, so dass die bildungsbürgerlichen Refugien zu Sozialisationsbiotopen einer in der DDR auf spezifische Weise überwinternden Bürgerlichkeit zu werden vermochten.
Nach dem Mauerbau 1961, der die in der DDR verbliebenen Eliten räumlich von einer alternativen Lebensplanung im Westen abschnitt, erwuchs aus der systemtreuen "neuen sozialistischen Intelligenz" eine "staatstragende" Mittelschicht. Diese auftrumpfende, aus proletarischen Bildungsaufsteigern rekrutierte staatssozialistische Funktionselite zeichnete sich auch quantitativ durch eine starke Dynamik aus - hatten zur ihr am Beginn der 1950er Jahre allenfalls vier Prozent der berufstätigen Bevölkerung gezählt,[26] so umfasste dieses Milieu zum Ende des DDR-Systems 15 Prozent der Sozialstruktur mit fast 1,3 Millionen Menschen.[27]
Trotz der repressiven Eindämmung existierten diese bürgerlichen Sonderräume nach 1961 in der DDR jedoch als soziokulturelle Alternativen in der "Kleine-Leute-Gesellschaft" (Dietrich Mühlberg). Sie tradierten jenseits des kommunistischen Erziehungsdogmas plurale Werte und bürgerliche Kulturmuster. Dieser alternative Handlungs- und Sozialisationsrahmen war dabei freilich vielmehr auf kulturelle Leitmodi des 19. Jahrhunderts als auf zeitgenössische Muster der westlichen Zivilgesellschaft gerichtet. Jene für die gesamte "Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geiste"[28] überaus typische, retrospektiv geleitete Stil- und Rollenfixierung hatte nicht nur mit der von allen Fremdeinflüssen abgeschotteten Situation im ostdeutschen Teilstaat zu tun, sondern ebenso mit einem ausgeprägten Faible für historistisches Ressentiment in den von bürgerlicher Zeitgenossenschaft abgeschnittenen Milieus.