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Rückzug des Politischen? | Corona-Krise | bpb.de

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Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie

Evelyn Moser EVELYN MOSER

/ 15 Minuten zu lesen

Die Corona-Pandemie setzt die Politik unter Zugzwang: Sie bedroht global und massenhaft Menschenleben. Damit gefährdet sie liberale Demokratien in einigen ihrer obersten Ziele, dem Wohlergehen ihrer Bürger*innen und Schutz menschlichen Lebens, die gemeinsam die Grundlage individueller Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten bilden. Das Ausmaß der Herausforderung spiegelt sich in der Radikalität der politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wider. Auch in demokratischen Staaten wurden individuelle Freiheitsrechte abrupt außer Kraft gesetzt, tief in das Privatleben der Bürger*innen eingegriffen und drastische Einschränkungen in allen Gesellschaftsbereichen vorgenommen.

Dass derartige massive Interventionen weder an der Gesellschaft noch an der Demokratie selbst spurlos vorübergehen werden, ist anzunehmen, und es mehren sich nachdenkliche, kritische und auch verärgerte Stimmen, die die Pandemie nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Bedrohung demokratischer Ordnung betrachten. Die Debatten kreisen um zwei Argumente: Bedenken richten sich erstens auf die Beobachtung, dass bei der Gestaltung der Pandemiepolitik vielerorts demokratische Verfahren umgangen oder auf ein Minimum reduziert wurden. Zweitens wird ein (weiterer) globaler Reputationsverlust demokratischer Ordnung und ein Prestigegewinn autokratischer Regime befürchtet. Beide Argumente sind berechtigt.

Der vorliegende Beitrag ergänzt sie um eine dritte Beobachtung und blickt dazu über die formalpolitischen Institutionen hinaus auf das Wechselverhältnis von Politik und Gesellschaft. Speziell das Beispiel der deutschen Krisenpolitik zeigt, dass ein demokratischer Staat zwar zu einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung fähig ist, die liberale Demokratie dabei jedoch in verschiedener Hinsicht über ihre eigenen Prinzipien stolpert. Diese Feststellung schmälert nicht die Erfolge, stimmt aber nachdenklich mit Blick auf die Nachhaltigkeit des Vorgehens. So betrachtet, ist das Verständnis der demokratischen Stolpersteine, die im Zuge der Pandemiepolitik sichtbar werden, ein wichtiger Schritt, um Demokratien für künftige, ähnlich gelagerte Probleme zu wappnen.

Überwältigende Expertise

In Reaktion auf erste Corona-Fälle in Nordrhein-Westfalen und Bayern im Februar 2020 beziehungsweise auf die Erkenntnis, dass eine massenhafte Verbreitung des Virus (auch) in Deutschland ein wahrscheinliches Szenario war, schien die Politik auf einmal omnipräsent. Ununterbrochen und auf allen politischen Ebenen fielen Entscheidungen mit kollektiver Bindungswirkung, die tief in den individuellen Alltag eingriffen und das öffentliche Leben über Wochen nahezu stilllegten: Die Regierungen von Bund, Ländern und Gemeinden erließen Kontaktverbote, beschlossen Quarantänen, beschränkten individuelle Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten, hierarchisierten ganze Gesellschaftsbereiche nach dem Kriterium der "Systemrelevanz" und vieles andere mehr. Formal getroffen, öffentlich verkündet und mit Sanktionen versehen, wurden diese Entscheidungen von demokratisch legitimierten Institutionen, den Parlamenten und Regierungen. Ihr sachlicher Gehalt, so schien es, folgte allerdings nahezu ungebrochen der zu Handlungsempfehlungen kondensierten Expertise des Robert Koch-Instituts, einer medizinisch-gesundheitswissenschaftlichen Forschungseinrichtung des Bundes, und einer Handvoll weiterer Akteur*innen aus der medizinischen Forschung wie dem Virologen Christian Drosten. Und mehr noch: Was diese öffentlich äußerten, hatte in seiner Rezeption und Wirkung auf Öffentlichkeit und Politik nicht formal, wohl aber faktisch beinahe Gesetzeskraft. Ob zur Effektivität von Gesichtsmasken, zur Dauer von Kontaktverboten oder zur Notwendigkeit digitaler Überwachung – was relevante Forschungsinstitute als Standpunkt mitteilten, setzte die politischen Entscheidungsträger*innen direkt unter Zugzwang und wurde von den Massenmedien meist so berichtet und kommentiert, als habe es bereits formale Bindungswirkung. Ignorieren, kritisches Diskutieren oder gar Zuwiderhandeln war gleichsam undenkbar. Und sobald eine Regulierungsentscheidung gefallen war, ließ sich medizinische Expertise als Letztkriterium ins Feld führen und der Verweis auf "die Virologen" wurde zur Routinelegitimation.

Angesichts der überwältigenden Problemlage folgten die demokratischen Institutionen wissenschaftlicher Expertise und deren Organisationen. Dies geschah mehrheitlich mit Zustimmung der Öffentlichkeit und politikintern meist konsensual. Das Einvernehmen von Regierung und Opposition, das Lob oder zumindest das zurückhaltende Schweigen letzterer angesichts radikaler Maßnahmen waren weitere bemerkenswerte Momente der Pandemiepolitik. In der Tat wirkte die schnelle und konfliktfreie Einigung auf – in der Außendarstellung – alternativlose Vernunftlösungen angesichts der diffusen Bedrohung durch das Virus beruhigend. Ausdruck demokratischer Leistungsfähigkeit ist sie nicht zwingend. Vielmehr steht sie – ungeachtet aller Erfolge – für die (Selbst-)Stilllegung demokratischer Politik, deren Kern gerade in der offenen Debatte um alternative Handlungsoptionen und im Streit um Gemeinwohlkonzepte besteht. Das Politische, so formulierte die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, ist die permanente Auseinandersetzung unter Gegnern, der Raum vielfältiger, divergierender Positionen mit Blick auf das Gemeinsame, die um stets kontingente Entscheidungen ringen. Für die Philosophin Hannah Arendt hieß politisches Denken, die Dinge aus einer Vielzahl von Perspektiven zu betrachten, von denen nicht bereits im Vorhinein eine als die dominierende feststeht. Das Politische verschwindet, sobald Pluralismus mittels universeller Vernunftkriterien in Homogenität überführt wird und Entscheidungen als letztgültig einrasten. Was dann bleibt, sind allein kollektiv verbindliche Regeln.

Zweifellos findet diese Idealform der "reinen" politischen Auseinandersetzung auch im Normalbetrieb moderner Demokratien nicht immer statt. In dem Maße, wie moderne Politik niemals Selbstzweck ist, sondern instrumentell beobachtet und an ihrer Leistungsfähigkeit sowie dem Bereithalten von Lösungen für gesellschaftliche Probleme gemessen und beurteilt wird, spielen Fremdexpertise und vor allem wissenschaftliches Wissen zwingend eine Rolle. Entsprechend gibt es auch im demokratischen Normalbetrieb diverse Handlungsfelder, auf denen Fremdexpertise klar dominiert und die Politik sich radikal selbst beschränkt. Die Geldpolitik durch Notenbanken, Wettbewerbspolitik, aber auch Bereiche der Gesundheitspolitik wie die Medikamentenzulassung funktionieren nach diesem Schema und erlauben einen Umgang mit komplexen Themen und Problemlagen, der rein politisch nicht in vergleichbarer Sachorientierung und Qualität zu bewältigen wäre. In Demokratien geschieht diese Auslagerung von Kompetenzen jedoch stets unter der Bedingung sachlich klar definierter Zuständigkeitsbereiche und Entscheidungsmandate. Deren Grenzen werden in aller Regel penibel überwacht.

Der Kontrast zum Politikverzicht im Kontext der Corona-Pandemie ist unübersehbar: Mit Verweis auf Fremdexpertise griff die Politik umfassend in die Gesellschaft ein, anstatt einer sachlichen Begrenzung erfolgte lediglich eine Begrenzung in der Zeitdimension, etwa durch die Bezugnahme auf das Infektionsschutzgesetz und den Ausnahmecharakter der Lage. Deren Einhaltung lässt sich gesetzlich rahmen und juristisch überwachen, bleibt aber ein Verweis auf die per se ungewisse Zukunft, die zwar beteuert, aber gegenwärtig nicht eingelöst werden kann.

Das "Hochfahren" der meisten Gesellschaftsbereiche begann in Deutschland Ende April 2020 mit Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen, der Einführung der Maskenpflicht, der schrittweisen Wiederaufnahme des Schulbetriebs und der Öffnung des Einzelhandels. Obgleich die ersten Schritte vom erhobenen Zeigefinger der Regierung(en) und besorgten Warnungen vor Leichtsinn und verfrühtem Optimismus deutlich begleitet wurden, schien die Politik der Alternativlosigkeit nun in mehrfacher Hinsicht zügig in eine Politik vielfältiger Alternativen überzugehen. Die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen vom Bund auf die Länder führte zu einer schwer überschaubaren Regulierungsvielfalt, die Positionen der Politiker*innen drifteten auseinander und mündeten in teilweise überraschenden Meinungskoalitionen. Nachdem die wissenschaftliche Corona-Expertise über Wochen in den Massenmedien faktisch nur einstimmig vorkam, wurden Vielfalt und vor allem Konflikt plötzlich beinahe zelebriert: Der weiterhin oft zitierte Christian Drosten erhielt mit Hendrik Streeck und Alexander Kekulé Widersacher, die "Bild"-Zeitung mischte sich in die Diskussion um den Preprint einer wissenschaftlichen Studie ein, und generell schien sich – überspitzt formuliert – jede politische Maßnahmenvariante mit der passenden Expertise stützen zu lassen.

Der Kontrast der Lockerungspolitik zum Lockdown könnte damit einerseits kaum stärker sein. Andererseits offenbart sich bei genauem Hinsehen eine überraschende, tieferliegende Parallele. Auch der Modus des "Hochfahrens" der Gesellschaft umfasst einen Rückzug – oder eine bestenfalls verhaltene Präsenz – des Politischen. Der Umgang mit der Pandemie und ihren Risiken wird nicht mehr der Expertise eines anderen Funktionssystems unterstellt. Stattdessen obliegt das Risikomanagement nun dem Verhalten und den individuellen Entscheidungen der Bürger*innen. Die umfassende Inklusivität der Pandemie, die den demos deckungsgleich mit dem Kollektiv der (potenziell) Betroffenen werden lässt, spiegelt sich so in der Bewältigungsstrategie wider: Jede*r Einzelne wird fortan unmittelbar für das gemeinsame Ziel in die Pflicht genommen und trägt für Erfolg oder Scheitern gleichermaßen Verantwortung. Dabei verschwinden die Expert*innen nicht, ihr letztes Wort reduziert sich aber auf eine Maßzahl – die Anzahl derjenigen Personen, an die ein mit dem neuartigen Corona-Virus infizierter Mensch dieses überträgt –, die zugleich die Grenze der Individualisierung markiert. Wird der Schwellenwert von 1,0 überschritten, kippt die Pandemiepolitik und begibt sich zurück unter die Fittiche virologischer Expertise.

Stolpersteine liberaler Demokratie

Zweifellos sprechen überzeugende sachliche Gründe dafür, die Pandemie mittels Isolation und physischer Absonderung einzuhegen. Auch in der Bevölkerung scheint dies in der Phase des Lockdowns im Frühjahr 2020 umfassend zu verfangen: Verschärfte Hygieneregeln wurden schnell zur Alltagsroutine, und auch ohne formale Ausgangssperre blieben die meisten zu Hause. Das gegenseitige Abstandhalten in der Öffentlichkeit erfolgt(e) beinahe intuitiv. Die Sensibilität für die unmittelbaren Folgen des eigenen Verhaltens für Dritte und die Bereitschaft zur Rücksichtnahme gegenüber Schwächeren und Hilfsbedürftigen sind gesellschaftsweit so hoch und selbstverständlich wie selten – vielleicht wie überhaupt nie zuvor. Und bei alldem bestärkt man sich gegenseitig im Durchhalten. Das alles ist eine gleichermaßen unerwartete wie positive Entwicklung.

Blickt man jedoch über das staatliche Institutionengefüge und die politischen Entscheidungsprozesse hinaus auf die Politik in ihrem gesellschaftlichen Kontext, dann wird deutlich, dass all dies nicht ohne Reibung geschieht. Und diese Reibung resultiert nicht (nur) aus dem Offensichtlichen, wie der Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte oder der scheinbar erwachenden Untertanenmentalität der Deutschen – auch wenn all dies zweifellos Wachsamkeit erfordert. Reibung entsteht vielmehr dadurch, dass die Pandemiepolitik auf Bedingungen beruht und Effekte zeitigt, die dem Wesen liberaler Demokratie fremd sind, sodass die Demokratie letztlich über ihre eigenen Prinzipien stolpert. Dies lässt sich anhand von drei Beobachtungen darstellen.

Privatheit als Bürgertugend

Artikuliert durch die Politik setzt sich die Gesellschaft mit der Pandemiebewältigung ein umfassendes Ziel, für das jede*r ausnahmslos und entschieden zur Mitwirkung aufgerufen ist. Diese Mitwirkung besteht in Disziplin und Gehorsam bei der Befolgung von Verhaltensregeln zur Vermeidung (physischer) sozialer Kontakte und – während des Lockdowns – der Beschränkung des Daseins auf das Private, das eigene Zuhause, wo plötzlich – digital unterstützt – alles stattfinden sollte: Arbeit, Schule, Studium, selbst die Teilnahme an Kultur- oder Sportveranstaltungen. Und in der Tat wurde das Zuhausebleiben, die radikale Reduktion sozialer Kontakte, der angemahnte (räumliche) Rückzug ins Private nicht nur vollzogen. Unterstützt von hashtagtauglichen Mantras wie "stay at home" oder "flatten the curve" steigerte sich das Zuhausebleiben speziell zu Beginn des Lockdowns in eine Art Überbietungslogik. "Anti-Corona"-Symbole sorgen auch noch seit Beginn der Lockerungen sichtbar für gemeinschaftlichen Zusammenhalt. In den Sozialen Medien lässt sich das individuelle "richtige" Verhalten (netz-)publikumswirksam demonstrieren. Und Anregungen, wie sich die Zeit zu Hause kreativ nutzen und unterhaltsam vertreiben lässt, gibt es online ohnedies zuhauf.

Das Private, dies betonte Arendt, zeichnet sich durch die Abwesenheit anderer und die interne Ungleichheit der Mitglieder aus. Es ist ein Schutzraum, der durch den Ausschluss anderer Intimität ermöglicht. Eine Politik, die scheinbar selbstverständlich ins Private hineinreguliert, engt diesen Schutzraum ein und bricht ihn zugleich auf. Eigentlich Privates – Verwandtschaftsbesuche, Geburtstagsfeste, selbst Beerdigungen – erscheint auf einmal kollektiv relevant und erhält unweigerlich eine politische Dimension. Hinzu kommt, dass das Private ursprünglich, im Kontext der antiken griechischen polis, einen Zustand der Beraubung (Deprivation) markiert. Das Sein im Privaten impliziert die Nicht-Existenz als öffentliche und politische Person und damit den Ausschluss von der Beteiligung an der Gemeinwohlgestaltung.

Diese strikte Sphärentrennung ist sicher nicht direkt auf die Moderne übertragbar, doch speziell der Deprivationsgedanke erscheint unter Pandemiebedingungen durchaus naheliegend: Plötzlich absorbiert allein die zeitaufwendige Alltagsbewältigung die Bürger*innen von allem Öffentlichen, und nicht selten wird dies begleitet vom beinahe blinden Vertrauen in eine starke politische Führung, die eigenes Nachdenken scheinbar überflüssig macht und bestimmte öffentliche Debatten mindestens zeitweise für unpassend erklärt. Plötzlich gibt es die konkrete Erwartung bürgerlicher Tugend, also der Bereitschaft, private Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen – und diese Bürgertugend bemisst sich daran, wie sehr Disziplin gelingt und wie radikal das Zuhausebleiben umgesetzt wird.

Solidarische Denunziation

Der Kern der Pandemiepolitik, räumliche Absonderung respektive die Vermeidung physischer Kopräsenz – etwas unscharf als "social distancing" in die Alltagssprache übernommen – und die zunächst beinahe vollständige und auch gegenwärtig noch weitreichende Stilllegung des öffentlichen Lebens mussten nicht nur beschlossen, sondern auch vermittelt werden – und dies so, dass die politisch geforderten Spielregeln freiwillig akzeptiert und befolgt werden. Ein Schlüsselbegriff der Publikumsadressierung war und ist "Solidarität": mit den anderen, mit den sogenannten Risikogruppen und mit all jenen, die bei der Bekämpfung des Virus an vorderster Front stehen. Ergänzt wird der politische Aufruf zur Solidarität durch Appelle an die individuelle Vernunft und Verantwortung; gerahmt wurde er speziell zu Beginn des Lockdowns durch eine Erziehungsrhetorik, die mit Verschärfung drohte, falls die erwünschten Verhaltensweisen ausbleiben, nach dem Motto "Wir versuchen es im Guten, können aber auch anders".

Unbestritten ist Solidarität, das Gefühl von Zusammengehörigkeit und die Bereitschaft zu wechselseitiger Unterstützung und Rücksichtnahme, ein unverzichtbares Prinzip jedes harmonischen Miteinanders. Je solidarischer sich Menschen zueinander verhalten, umso besser. Dabei ist Solidarität niemals universell, sondern bezieht sich stets auf eine Gemeinschaft, die zwischen Mitgliedern und Ausgeschlossenen unterscheidet. Kein "wir" kommt ohne die exkludierten "anderen" aus. Das aber bedeutet: Auch Solidarität ist begrenzt, selektiv und in aller Regel an Bedingungen geknüpft. Werden diese verletzt, wird sie entzogen.

Das Funktionieren moderner Gesellschaften schließt Solidarität unter den Mitgliedern nicht aus, setzt sie aber auch nicht zwingend voraus. Ebenso wenig ist Solidarität ein Grundprinzip liberaler Demokratie. Zwar braucht es auf der Inputseite, der Herrschaft durch das Volk, ein Mindestmaß an kollektiver Identität und erwarteter Solidarität, um das Vertrauen in den Wahlakt und die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen zu sichern. Auf der sogenannten Outputseite, bei der es um die Bearbeitung kollektiv relevanter Probleme geht und die bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit liberaler Demokratie im Vordergrund steht, spielt Solidarität keine entscheidende Rolle. Ein abgrenzbares Kollektiv ist aus praktischen Gründen erforderlich, aber ein ausgeprägtes Gemeinschaftsempfinden ist – so zynisch das klingt – mit Blick auf die Herrschaft für das Volk überflüssig. Entsprechend sparsam sind in liberalen Demokratien die normativen Erwartungen an die Bürger*innen.

Erklärt die Politik selbst Solidarität buchstäblich über Nacht nicht nur zum höchsten gesellschaftlichen Prinzip, sondern instrumentalisiert sie zudem für die Vermittlung und Durchsetzung einschneidender Regulierungsmaßnahmen, entsteht unweigerlich Reibung. Sie wird deutlich, wenn die Allgegenwart von Verhaltensempfehlungen und Vorschriften im öffentlichen Raum und die ihnen anhaftende kollektive Dimension – "Schütze dich und andere!" – es naheliegend und beinahe unausweichlich machen, sich selbst und andere permanent auf Konformität und Abweichung hin zu beobachten. Jede Abweichungsbeobachtung lässt sich nun als Handeln interpretieren: im günstigsten Fall als Gedankenlosigkeit, in weniger wohlwollender Interpretation als bewusste Gefährdung Dritter, und in jedem Fall als zu missbilligender Mangel an Solidarität. Das prompte Sanktionieren unerwünschter Verhaltensweisen wird zur Routine – durch Blicke, Gesten, dezente Kommentare oder unverblümtes Zurechtweisen. Jede Sanktion scheint legitim, denn wer sich den Regeln widersetzt, riskiert nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch das Wohlergehen der anderen.

Und plötzlich gibt es innere Feinde – all jene, von denen man sich abgrenzt, weil sie das gemeinschaftliche Ziel der Pandemiebekämpfung vermeintlich gezielt unterlaufen. Sogenannte Corona-Partys waren vor allem in der Anfangszeit der Pandemie das Feindbild schlechthin, und all jenen, die sich darüber hinaus nicht ordnungsgemäß verhalten, werden Vernunft und Verantwortungsfähigkeit gleichermaßen abgesprochen. Zum anderen – und besonders beängstigend – wird die Denunziation zum sich verbreitenden Mittel gegen jene, die gegen Regeln verstoßen, und erfährt dabei eine erschreckende moralische Aufwertung. Insofern Solidarität politisch eingefordert und an Gehorsam und Regelbefolgung gekoppelt wird, motiviert sie nicht nur zur Einhaltung von Abstandsregeln und dem Tragen eines Mundschutzes. Sie schafft zugleich Anhaltspunkte, um Denunziation zur Handlung im Sinne des Gemeinwohls umzudeuten und Exklusion als solidarischen Akt erscheinen zu lassen.

Demokratische Dissident*innen

Nicht nur im Alltag etablieren sich im Fahrwasser der Corona-Maßnahmen neue Sanktions- und Exklusionsmuster gegenüber jenen, die sich nicht erwartungskonform verhalten. Auch die Politik hadert auf zuvor ungekannte Weise mit Abweichung und Widerspruch. In dem Maße, wie das Politische sich selbst beschränkte und Fremdexpertise respektive den daraus abgeleiteten Vernunftlösungen wich, setzte kollektiv bindendes Entscheiden auf Wahrheit statt auf Meinung. Damit nahm die Politik sich selbst die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Gegner*innen – jenen, die abweichende, aber grundsätzlich als legitim erachtete Positionen vertreten. Übrig blieb stattdessen die binäre Unterscheidung zwischen jenen, die die Regierungsentscheidungen unterstützten, und dem widerständigen Rest, der den Rationalitätsanforderungen nicht entsprach. Bestimmte Debatten galten als "unangebracht", offener Widerspruch als "unvernünftig" und Bundeskanzlerin Angela Merkel erfand den Begriff der "Öffnungsdiskussionsorgien". Plötzlich gab es Dissident*innen – eine Rolle, die üblicherweise mit autoritären Regimen assoziiert wird, nun aber von den Kritiker*innen des Lockdowns aufgegriffen und mit der Selbstpositionierung als Widerstands- und Freiheitskämpfende gefüllt wurde. Wie sehr diese Rolle der freiheitlich-demokratischen Logik zuwiderläuft, zeigt sich darin, dass die trotzige Position des "Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen" hierzulande zuletzt jene einnahmen, die mit einer offenen, liberalen Gesellschaftsordnung hadern. Unter Corona-Bedingungen wurde sie zur Position derjenigen, die die offene Debatte einforderten – und war paradoxerweise zugleich Ausdruck einer Kluft, die jeder konstruktiven politischen Auseinandersetzung im Wege steht.

In radikaler Form war dieser Zustand ein vorübergehender – zu kurz, um die Demokratie nachhaltig ins Stolpern zu bringen, aber lang genug für einen holprigen Ausweg. Deutlich wurde dies nicht zuletzt im Umgang mit den Protesten nach dem Einsetzen der Lockerungsmaßnahmen Ende April. Zweifellos trat dabei auch ein verworrenes Konglomerat aus Rechtspopulist*innen und Verschwörungstheoretiker*innen in Erscheinung, welche die Pandemie als Instrument der Regierung zur Umsetzung biopolitischer Allmachtsfantasien betrachten und vor einer Gesundheitsdiktatur warnen – Positionen, deren Berücksichtigung für jede ernsthafte politische Debatte fatal wäre. In derselben Schublade fanden sich aber auch schnell sachkundige und oft konstruktive Appelle, die Besorgnis angesichts der radikalen Einschränkung von Freiheitsrechten ausdrückten und Alternativen zur aktuellen Pandemiepolitik skizzierten. Durch die umfassende Beschränkung des Politischen legte sich die Politik selbst auf ein Beobachtungsschema fest, das den Blick auf Abweichungen und Kritik einengte und so Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten beschränkte.

Fazit

Die Corona-Pandemie führt nicht in eine Gesundheitsdiktatur. Eine solche Behauptung verhöhnt nicht nur die Opfer jedes totalitären Regimes, sondern verkennt auch einen wichtigen Unterschied. Totalitarismen ordnen bei der Verfolgung ihrer gesellschaftlichen Ziele das Individuum in menschenverachtender Weise dem Kollektiv unter. Die Pandemiepolitik westlicher Demokratien hingegen erklärt gerade das Individuum, den Schutz jedes einzelnen Menschenlebens, radikal zur höchsten Priorität. Damit einher geht nicht nur ein umfassender Ideologieverzicht, sondern vor allem die Unterordnung des Kollektivs gegenüber jedem Einzelnen seiner Mitglieder – auch um den Preis der Reduktion individueller Freiheitsräume. Und dennoch formte die unter Pandemiegesichtspunkten bislang relativ erfolgreiche deutsche Politik unwillkürlich und erstaunlich schnell einen demos, der zu den Prämissen einer liberaldemokratischen Ordnung in vielerlei Hinsicht nicht so recht passt. Gehorsam und Disziplin als höchste Bürgertugenden, eine durchregulierte Öffentlichkeit, der Rückzug ins Private, innerer Zusammenhalt durch die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Bürger*innen, legitimes Denunziantentum sowie das Zurückweisen von Debatten mit dem Verweis auf ihre Unangebrachtheit ähneln teils mehr den Gesellschaften in autokratischen Regimen als einem vitalen demokratischen Kollektiv. Hinter alldem steht sicher nicht eine undemokratische Gesinnung der Regierenden. Entscheidend ist etwas anderes: Ein gesellschaftsweites Ziel, auf das alle eingeschworen werden und das in kollektiver Anstrengung durch die Mitwirkung aller erreicht werden soll, mag in Autokratien oftmals stabilisierend wirken. In einer pluralistischen, demokratischen Ordnung sorgt es für Irritationen. Es erfordert eine Art von Bürgerverhalten, ein Maß an Homogenität und einen Grad an Unterordnung und Vertrauen in eine starke Führung, die einer liberalen Demokratie mittelfristig das Wasser abgraben.

Wer stolpert, fällt nicht zwingend. Und angesichts der genannten Widersprüchlichkeiten sind eher die bisher beeindruckenden Erfolge vieler Demokratien bei der Pandemiebekämpfung erstaunlich als die Beobachtung, dass demokratische Ordnungen angesichts dieses Kraftakts ins Stolpern geraten. Im Hinblick darauf, dass die Corona-Pandemie noch nicht abschließend bewältigt ist, dass eine zweite Welle droht, dass sich zukünftig andere Krankheiten massenhaft verbreiten könnten und dass die Weltgesellschaft mit vergleichbaren Herausforderungen konfrontiert sein wird – darunter der in vielerlei Hinsicht ähnlich gelagerte Klimawandel –, spricht vieles dafür, die aktuellen Stolpersteine nicht unbesehen aus dem Weg zu räumen. Vielmehr geben sie Anlass zur Reflexion, und die hier erörterten Beobachtungen legen dafür drei Ansatzpunkte nahe: erstens die Vermutung, dass auch liberale Demokratien bei der Umsetzung von Problemlösungen nicht ohne Gemeinsinn auskommen. Für diesen ist jedoch eine Form zu suchen, die mit der Komplexität der modernen Gesellschaft vereinbar ist und auf totale politische Integration auf Kosten individueller Freiräume verzichtet. Zweitens die Beobachtung, dass normative Erwartungen an die Bürger*innen auch in liberalen Demokratien durchaus legitim und wichtig sind. Sie höhlen sich jedoch selbst aus, wenn sie zur Durchsetzung von Regulierungsmaßnahmen instrumentalisiert werden. Und drittens die Herausforderung, bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme die Kluft zu überbrücken, die unweigerlich aus der Berücksichtigung von Expertise in kollektiv bindenden Entscheidungsprozessen und der offenen, politischen Auseinandersetzung folgt.

ist promovierte Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Demokratieforschung am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn. E-Mail Link: emoser@uni-bonn.de