Ende der Planbarkeit? Lebensentwürfe in unsicheren Zeiten
Organisierte Zeit und biografische Planungsfähigkeit
Dass Individualisierungsprozesse aus einer Überflussproblematik herausgelöst und stattdessen zunehmend aus einer Mangelperspektive beobachtet werden müssen, hat Ursachen, die nachfolgend unter dem Begriff der "marktgetriebenen Landnahme" zusammengefasst werden.[5] Neoklassischen Ökonomen zufolge ist Kapitalismus weitgehend mit Marktwirtschaft und Konkurrenz identisch. In diesem Kapitalismus ist das Gewinnstreben zentrales Motiv des Handelns. Alles, was dieses Motiv schwächt, muss folgerichtig zu Verzerrungen des Wettbewerbs und damit zu gesellschaftlichen Deformationen führen. Das Ideal eines sozial verantwortlichen Unternehmers stellt demnach eine problematische Verzerrung dar: "Es gibt wenig Entwicklungstendenzen, die so gründlich das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung durch Unternehmer, als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften so viel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften."[6]Die Konstruktion des Unternehmers, der frei und eigennützig am Markt agiert und dadurch den Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder befördert, übersieht indessen einen fundamentalen Sachverhalt: Ohne marktvermittelte Konkurrenz kann Kapitalismus nicht funktionieren. Um sich im Wettbewerb betätigen zu können, sind bei individuellen wie kollektiven Akteuren jedoch Verhaltensweisen vonnöten, die auf Kooperation, mitunter gar auf Solidarität beruhen und damit in gewisser Weise das Gegenteil marktvermittelter Konkurrenz voraussetzen. Nur auf der Basis wenigstens eines Minimums an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit ist die Entwicklung eines in die Zukunft gerichteten Bewusstseins denkbar. Und erst dieses Zukunftsbewusstsein, das individuelle Planungsfähigkeit voraussetzt, ermöglicht rational-kalkulierendes Verhalten. Selbst der Friedman'sche Unternehmer, der mit strukturellen Unsicherheiten konfrontiert wird, benötigt daher ein Minimum an Planungssicherheit. In seinem ureigenen (Gewinn-)Interesse muss er danach streben, die Willkür der Marktkonkurrenz wenigstens zeitweilig zu begrenzen.[7]
Der bürokratisch-soziale Kapitalismus, wie er in den drei Jahrzehnten nach 1945 zur Blüte kam, ließ geschützte interne Arbeitsmärkte entstehen, die - von Marktrisiken weitgehend abgekoppelt - ein Lebenslaufregime ermöglichten, das dem Laufbahnprinzip folgte. Es konnte, so die Wahrnehmung großer Teile der Lohnabhängigen und ihrer Familien, langsam aber doch stetig immer nur aufwärts gehen. Diese Kollektiverfahrung festigte sich, weil Arbeiter und Angestellte erstmals über ein Sozialeigentum verfügen konnten (Mitbestimmungsrechte, Ansprüche an wohlfahrtsstaatliche Institutionen), das ihnen ermöglichte, was zuvor nur private Vermögen leisten konnten: Das Leben erschien in gewissen Grenzen planbar. Sozial geschützte Erwerbsarbeit stand im Zentrum zukunftsgerichteter Lebensentwürfe. Lohnarbeit verwandelte sich in Beschäftigung, die mit einem kollektiven sozialen Status verbunden war. Das kulturelle Zentrum dieser Art von Kapitalismus bildete ein Regime der organisierten Zeit. Natürlich verlief die Realität "nicht nach Plan, doch die Vorstellung, planen zu können, bestimmte den Bereich der individuellen Aktivitäten und Möglichkeiten".[8] Man mag mit Recht einwenden, dass eine solche Betrachtung allzu idyllisch ist, weil sie sperrige Realitäten wie die Abhängigkeit der Lohnarbeitsgesellschaft vom Ernährermodell, den relativen Ausschluss von Frauen und Migranten sowie die Abwertung von Reproduktionstätigkeiten übergeht. Die kollektive Grunderfahrung eines Zuwachses an sozialer Sicherheit wurde durch solche Ungleichheiten und Machtasymmetrien zwar erheblich relativiert, aber eben doch nicht völlig neutralisiert.