Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vertrauen, Verantwortung und die Würde des Kompromisses | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Neue Qualität des Parteienwettbewerbs im "Superwahljahr" Große Koalition: Durchregiert oder im institutionellen Dickicht verheddert? Vom Mythos der politischen Mitte Vertrauen, Verantwortung und die Würde des Kompromisses "Kanzlerkommunikation" von Adenauer bis Merkel Der Fraktionsreferent - ein politischer Akteur?

Vertrauen, Verantwortung und die Würde des Kompromisses

Günther Rüther

/ 15 Minuten zu lesen

Es liegt in der Natur der parlamentarischen Demokratie, dass nicht alle Wählererwartungen erfüllt werden können. Wer Kompromisse eingeht, nimmt automatisch Vertrauensverluste in Kauf.

Einleitung

Vertrauen und Verantwortung sind elementare Voraussetzungen für gesunde soziale Beziehungen und für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. Ohne sie würden in fast allen Bereichen des sozialen Lebens Chaos und Angst herrschen. Je arbeitsteiliger, komplexer und stärker miteinander verbunden die Welt ist, umso bedeutsamer werden in ihr Vertrauen und Verantwortung, weil sich der Mensch ohne sie auf niemanden mehr verlassen könnte. Aufgabe des Staates ist es, für das gute Zusammenleben der Menschen Sorge zu tragen. Alle Ausübung staatlicher Gewalt muss dem Volk zurechenbar, das heißt unmittelbar oder mittelbar auf es zurückzuführen sein. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Staat, in unserer Verfassungsordnung die aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung, ihr Amt auf Zeit als Treuhänder des Volkes wahrnimmt. Vertrauen und Verantwortung sind deshalb Schlüsselbegriffe, die in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen und nicht voneinander zu trennen sind.



Die Demokratie lebt vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Institutionen und ihre Repräsentanten. In paradigmatischer Weise kommt dies bei Wahlen zum Ausdruck, etwa bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag. Sie stellen einen "Akt der Anvertrauung" dar, die zu einer "Herrschaft auf Zeit" führen. Das mit dem Wahlakt ausgesprochene Vertrauen des Bürgers gegenüber einer Partei und ihren Repräsentanten lässt sich mit Niklas Luhmann als eine "riskante Vorleistung" bezeichnen. Darin drückt sich eine aus Erfahrung, persönlicher Einstellung und Interessen abgeleitete Erwartung an die Zukunft aus. Werden die Erwartungen der Wählerinnen und Wähler enttäuscht, und haben sie das Gefühl, ihr Vertrauen wurde missbraucht, bietet die nächste Wahl die Möglichkeit zur Korrektur. Im Laufe einer Regierungsbildung ergeben sich mitunter unvorhersehbare politische Konstellationen, wie etwa 2005, als die derzeit bestehende, weder von den Unionsparteien noch von der SPD angestrebte Große Koalition gebildet wurde. Und im Laufe einer Wahlperiode müssen häufig Entscheidungen getroffen werden, die im Extremfall im Gegensatz zu den gegebenen Wahlversprechen stehen bzw. diese nur zum Teil einlösen. So kann es durchaus sein, dass Erwartungen der Wähler enttäuscht werden, aber die politische Elite dennoch ihrer Verantwortung gerecht wird. Der Vorwurf des Wahlbetrugs oder der Wählertäuschung bedeutet keineswegs automatisch, dass die politisch Handelnden ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Im politischen Alltag des Regierens kann es nicht immer gelingen, die ethischen Prinzipien des Vertrauens und der Verantwortung so auszutarieren, dass sie der Bürger respektiert. Niklas Luhmann weist zu Recht daraufhin, dass "es beim Vertrauen um Reduktion von Komplexität geht, und zwar speziell um jene Komplexität, die durch die Freiheit des anderen Menschen in die Welt kommt. Vertrauen hat eine Funktion für die Erfassung und Reduktion dieser Komplexität."

Was ergibt sich nun aus dieser allgemeinen Erkenntnis, wenn sie auf das System der parlamentarischen Demokratie angewandt wird? Zuallererst bedeutet sie für den Bürger, dass er seine Erwartungshaltung im Kontext der Erwartungen anderer sehen muss. Er verkennt die Spielregeln des politischen Prozesses, wenn er annimmt, dass seine Erwartungen eins zu eins umgesetzt werden. Eine dogmatische Orientierung einer Regierung an einzelnen Wählererwartungen würde selbst dann, wenn eine Partei im Deutschen Bundestag allein regieren könnte, nicht funktionieren, weil in einer Volkspartei auf Grund der Breite ihres politischen Spektrums ganz unterschiedliche Wählererwartungen ausgeglichen werden müssen. Zudem ist es in der globalisierten Welt, die auf Transparenz, Kommunikation, Ausgleich und geregelte, vernetzte Entscheidungsverfahren hin ausgerichtet ist, unmöglich, das, was in der Vorstellung als Programmangebot existiert, auch so in die Wirklichkeit umzusetzen.

Verantwortung gründet auf Vertrauen, aber im politischen Entscheidungsprozess darf die Bindung an die Erwartungshaltung der Wähler nicht dazu führen, sich besseren Lösungen zu verschließen oder auch mögliche Lösungen zu verhindern, die aus der Sache heraus geboten erscheinen. Es liegt deshalb in der Natur des parlamentarischen Regierungssystems, dass Vertrauen auch enttäuscht wird. Allerdings sind den politisch Verantwortlichen dort enge Grenzen gesetzt, wo sie Wahlversprechen um des persönlichen Vorteils willen oder aus Gründen des Machterwerbs bzw. Machterhalts eigenwillig brechen. Diese Formen des Vertrauensbruchs sind nicht dem Bemühen geschuldet, die beste, dem Allgemeinwohl verträglichste Lösung zu suchen. Auch lassen sie sich nicht daraus legitimieren, dass Wahlentscheidungen immer "riskante Vorleistungen" sind. Gerade weil sie auf "riskanten Vorleistungen" beruhen, stehen sie unter einem besonderen Vertrauensschutz und dürfen nicht von den politisch Verantwortlichen ins Gegenteil verkehrt werden. Ein solches Vorgehen würde das politische System insgesamt in Frage stellen.

Wie kann eine Vertrauenskrise entstehen?

Regierung und Parlament können in eine Vertrauenskrise geraten, wenn eine große gesellschaftliche Gruppe wie eine Partei, eine Kirche, die Gewerkschaft oder die Wirtschaft verantwortungslos handelt. Dies haben in der gegenwärtigen Krise der Weltwirtschaft Banken und Teile der Wirtschaft getan. Sie haben den kurzfristigen Profit über das gesamtgesellschaftliche Wohl gestellt und damit ein politisches Erdbeben ausgelöst, dessen Folgen bis heute nicht übersehen werden können: nicht politisch, nicht sozial und auch nicht ökonomisch. Gewinne zu erzielen ist ein uraltes ökonomisches Streben. Es ist so lange legitim, wie es das bonum commune nicht aus dem Auge verliert. Setzt es sich realitätsferne Ziele und wird zum Selbstzweck, löst es sich aus seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Wie andere Ziele auch, bleibt die Profitmaximierung eines Unternehmens in der liberalen Demokratie der Kultur des sozialen Ausgleichs verpflichtet. In dem Maße, wie durch Gewinnstreben diese Kultur verlorengeht oder Schaden nimmt, gefährdet es die gesellschaftliche Ordnung und wird damit zu einer Bedrohung der Freiheit. Hinter der Entfesselung der Finanzmärkte und dem Fehlverhalten vieler Akteure steht letzten Endes eine Überdehnung der Freiheit - und damit eine zutiefst politische Frage.

Die Freiheitsfrage ist die "Mutter aller Fragen" in der Politik. Die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung wird nicht allein durch Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und das parlamentarische Regierungssystem gewährleistet, sondern auch durch die Wirtschaftsordnung. In seiner berühmten Schrift "Über die Freiheit" (1859) betonte der britische Philosoph und Nationalökonom John Stuart Mill den kategorischen Imperativ der Aufklärung, nach dem die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo sie anderen Schaden zufügt. Bei Mill lesen wir: "Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessen Willen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten." Banken und Teile der Wirtschaft haben ihre Freiheitsrechte missbraucht, indem sie ökonomische Prinzipien verabsolutiert haben und wirtschaftliche Risiken eingegangen sind, die sie schließlich zum Schaden von Staat und Gesellschaft nicht mehr beherrschen konnten.

Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt und der beschleunigten Globalisierung ist die Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten. Die Politik steht heute vor der schwierigen Aufgabe, das Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Interesse des Allgemeinwohls neu zu justieren. Die jüngsten Fehlentwicklungen können durch staatliches Handeln allein nicht überwunden, sondern nur gemildert werden. Die eingeleiteten Interventionen sollen der Wirtschaft helfen, die Konjunktur wieder zu beleben, und zugleich durch ordnungspolitische Maßnahmen dafür sorgen, dass die Wirtschaft ihre dienende, dem Gemeinwohl verpflichtete Aufgabe wieder erfüllt. Dabei geht es keineswegs um eine anhaltende Regulierung des Marktes, sondern um seine Stimulierung, die Stärkung der Aufsichtsorgane wirtschaftlichen Handelns und die Einhaltung ethischer Grundsätze. Nur so kann die Politik verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen, von dem sie selbst in hohem Maße abhängig ist. Die politische Elite wird ihrer Verantwortung gerecht, wenn sie die ökonomische Elite zügelt, aber ihre Freiheit nur so weit einschränkt, wie es für das gesellschaftliche Wohl erforderlich ist.

Gibt es eine Vertrauenskrise?

International erfreut sich die Demokratie als Regierungsform wachsender Beliebtheit. Seit dem Ende der Sowjetunion hat sich weltweit die Anzahl der Staaten, deren Regierungen durch freie Wahlen zustande gekommen sind, von 147 (1988) auf 191 (1999) vermehrt. So betrachtet, kann kaum von einer Vertrauenskrise in Demokratie und Politik gesprochen werden. Und doch mehren sich die Anzeichen dafür, dass eine solche Schlussfolgerung zu kurz greift. Wilhelm Hennis bezeichnet das Vertrauen als die seelische Grundlage der Demokratie. Hat diese seelische Grundlage in den vergangenen Jahren Schaden genommen? Für diese Einschätzung spricht neben zahlreichen demoskopischen Untersuchungen auch die nachlassende Wahlbeteiligung bei den Bundestags- und Landtagswahlen. In den 16 zurückliegenden Bundestagswahlen lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei 84,57 Prozent, bis zur Wiedervereinigung sogar bei 87,02 Prozent. Ihren Höchststand erreichte sie 1972 und 1976 mit über neunzig Prozent. Seitdem ist sie mit geringen gegenläufigen Entwicklungen kontinuierlich zurückgegangen auf den heutigen historischen Tiefpunkt bei der Wahl 2005 auf 77,7 Prozent. Auf der Landesebene ergibt sich ein ähnliches Bild. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März 2003 gaben nur 44,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Allgemein ist bereits seit den 1970er Jahren eine stark rückläufige Tendenz zu beobachten.

Wie ist diese zu erklären? Hervorzuheben ist, dass sie nicht der Wiedervereinigung geschuldet ist, obwohl die Wahlbeteiligung vor 1990 höher lag als danach. Allerdings hat die Wiedervereinigung auch nicht vermocht, den negativen Trend aufzuhalten. Die Gründe für die hier skizzierte Entwicklung sind vielfältig. Sie liegen wohl vor allem

  • in der programmatischen Annäherung der großen Volksparteien, die sich immer mehr zu "Allerweltsparteien" (Otto Kirchheimer) entwickeln und sich im Kampf um die Mehrheit in der Gesellschaft von ihren traditionellen weltanschaulichen Milieus entfernen und neue Wähler suchen;

  • in den Veränderungen des Parteiensystems zu den heute bestehenden sechs Parteien im Deutschen Bundestag, die zwar durchaus programmatische Unterschiede aufweisen, sich aber - sieht man einmal von der Linkspartei ab - in der Art und Weise, wie sie pragmatisch Politik betreiben und vermitteln, angeglichen haben;

  • in den gesellschaftlichen Veränderungen mit ihren weitreichenden Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen, die zu einer "Entpflichtung" gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen beigetragen haben;

  • in der stark schrumpfenden Anzahl der Parteimitglieder, die seit dem Höchststand in den 1970er Jahren bei SPD und Union etwa zu einer Halbierung geführt und eine nachlassende Verankerung in der Bevölkerung zur Folge hat, mit zum Teil dramatischen Auswirkungen vor allem für die SPD in Ostdeutschland;

  • in dem nachlassenden politischen Interesse bei der jüngeren Generation, die sich langsam aber stetig immer mehr von Themen und Diskussionen zurückzieht, die sich mit Politik, Wirtschaft und Kultur beschäftigen;

  • in der wachsenden Macht der Wirtschaftseliten und ihrem Missbrauch im Zuge der Globalisierung und der Ökonomisierung der Lebenswelt;

  • in der gefährdeten Mittelschicht, die seit Jahrzehnten durch ihre Leistungsbereitschaft und ihr Pflichtbewusstsein zur tragenden Säule unserer Demokratie zählt.

Werden die Eliten ihrer Verantwortung gerecht?

Die entscheidenden Veränderungen der Politik gingen im beginnenden 21. Jahrhundert auf nationaler und internationaler Ebene von der Globalisierung aus. Sie führte zu Grenzüberschreitungen, ohne dass diese entscheidend von Regierungen angestoßen, gewollt oder kontrolliert werden konnten. In diesem Zusammenhang sei nur auf den Finanz-, Waren-, Dienstleistungs- und Informationsfluss verwiesen, aber auch an die religiösen und kulturellen Konflikte erinnert. Das Institut für Demoskopie Allensbach diagnostizierte schon vor der Finanz- und Wirtschaftskrise einen gravierenden Imageschaden der wirtschaftlichen Elite in der Bevölkerung, die einen Verfall von Anstand und Moral auf den Führungsetagen der Wirtschaft beklagte. Erstaunlich ist, dass die öffentliche Kritik an den Wirtschaftsakteuren immer noch maßvoller ausfällt als die an der Politik. Schließlich hat es seit einigen Jahren persönliches, in den Medien gebrandmarktes Fehlverhalten wie von Teilen der Wirtschaftselite in der Politik nicht gegeben. Der große, die Gemüter erhitzende politische Skandal liegt mit den Parteispendenaffären schon Jahre zurück. Dennoch würde eine heute mehr als jemals zuvor berechtigte Kritik der Politik an Teilen der Wirtschaftselite immer noch keine breite Akzeptanz finden und als Profilierungs- oder Ablenkungsmanöver verurteilt. Dabei wird offenkundig darüber hinweggesehen, dass die immer globaler agierende Wirtschaft sich dem politischen Zugriff entzieht und die nationalen Regierungen mit Problemen konfrontiert, die diese weder verursacht haben noch lösen können.

Für die besondere, in unserer politischen Kultur begründete Neigung der Deutschen, die Politik auch für Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen, für die sie selbst nichts kann, offenbart sich auch darin, dass dem Vertrauensverlust der politischen Elite kaum belastbare Vorwürfe gegenüberstehen, welche die grassierende Politikverdrossenheit und die wachsende Distanz der Bürger zur Demokratie, ihren Institutionen und Verfahren rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo die tieferen Ursachen für das verbreitete Misstrauen weiter Teile der Zivilbevölkerung gegenüber der Politik liegen.

Wird die Politik überfordert?

Die beschleunigte Globalisierung führt zu einer Überforderung der Politik durch die Erwartungen der Zivilgesellschaften. In dem Maße, wie die Welt einerseits zusammenwächst und dadurch immer verwundbarer wird, nimmt andererseits das Wohlstands- und Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu. Die Menschen stillen wie selbstverständlich ihren Wunsch nach Mobilität und reisen weit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus in ferne Länder. Sie nutzen gerne die vielfältigen Möglichkeiten des Warenaustausches, des Wissens- und Kulturtransfers, aber sie sehnen sich nach nationaler und gemeinschaftlicher Geborgenheit. Von der Politik erwarten viele Menschen nicht nur die Gewährleistung der notwendigen Rahmenbedingungen für ein gutes Leben, sondern darüber hinaus in einer unübersichtlicher gewordenen Welt Orientierungshilfen für ein erfülltes, sorgenfreies Dasein. Dazu zählen vor allem Wohlstand und Sicherheit. Dabei handelt es sich zwar um zentrale Aufgaben der Politik, aber sie war zu allen Zeiten damit überfordert, diese zu garantieren, weil sie dabei auf Rahmenbedingungen trifft, die sie selbst nicht hinreichend beeinflussen kann. Wir erleben dies gerade in einer Dramatik, wie sie in der westlichen Welt zuletzt die Vorkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs erfuhr.

Der Staat kann seinen Bürgern Beistand leisten und durch seine Gesetze einen Orientierungsrahmen vorgeben; aber den rechten Weg zum Lebenserfolg und Lebensglück kann und soll er nicht aufzeigen. Und doch begibt er sich in den vergangenen dreißig Jahren immer mehr in die Rolle des Daseinsvorsorgers bei gleichzeitiger Vernachlässigung seiner Kernaufgaben. Mehr Akzeptanz und Vertrauen hat er dadurch nicht gewonnen. Heute fällt es der Politik noch schwerer als in früheren Jahrzehnten, diesem Anspruch zu genügen, weil sich neben den Nationalstaaten und ihren Bündnissystemen eine machtvolle zivile Weltgesellschaft etabliert hat, die sich aus ganz verschiedenartigen transnationalen Institutionen, Personenkreisen und Organisationen zusammensetzt. Die Mächtigsten unter ihnen sind dabei die global tätigen Konzerne. Aus ihnen geht heute mehr als die Hälfte aller wirtschaftlichen Wertschöpfungen hervor.

Die internationale Vernetzung und die Erweiterung von Machtstrukturen, die sich staatlicher Kontrolle entziehen - vor allem in der Wirtschaft, Wissenschaft und in den Medien -, förderte aber nicht den Wunsch der Bürger in den Zivilgesellschaften, sich stärker als bisher in den demokratischen politischen Prozess einzubringen. Entgegen der Erwartung von Ulrich Beck entwickelt sich mit dem wachsenden Risiko der Gesellschaft offensichtlich nicht die Bereitschaft einer stärkeren politischen Partizipation. Zumindest von der jüngeren Generation wäre dies zu erwarten gewesen. Neue Untersuchungen in Deutschland weisen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Soziale Partizipation und gesellschaftliches Engagement verlieren zunehmend an Bedeutung, während persönliche Werte wie Erfolg im Beruf, gesichertes Einkommen und die Gründung einer eigenen intakten Familie in den Vordergrund treten.

Wenn es nicht gelingt, diesem Prozess entgegenzusteuern, geht unserem politischen System nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die Rekrutierung des politischen Nachwuchses verloren, sondern auch ein Stückchen politischer Legitimität. Die Risiken der Globalisierung werden offenkundig generationsübergreifend dem Staat zugewiesen. Sie erweisen sich nicht als der politische Zauberstab, der die wohlstandsverwöhnte westliche Gesellschaft aus ihrer politischen Lethargie erweckt und in ihrem Innersten zu politischem Handeln aktiviert.

Verstehen die Bürgerinnen und Bürger die Funktionsweise unseres Regierungssystems?

Sicherlich ist die westliche Demokratie kein Auslaufmodell. Mit dem skizzierten Vertrauensverlust, den Folgen der Globalisierung und der derzeitigen Wirtschaftskrise, der Überforderung und dem nachlassenden Interesse an der Politik steht sie aber vor Herausforderungen, die über die seit Jahrzehnten bestehende latente Unzufriedenheit mit unserem politischen Regierungssystem weit hinausgehen.

Der rasche Ansehensverlust, die Zuweisung immer neuer Aufgaben, die wachsende Politikverdrossenheit und die Abnahme politischen Engagements deuten darauf hin, dass viele Bürger Schwierigkeiten damit haben, die Funktionsweise unseres parlamentarischen Regierungssystems zu verstehen. Dabei spielt vermutlich bis heute der aus dem Wilhelminischen Obrigkeitsstaat herrührende und in der Weimarer Republik kultivierte Antiparteieneffekt in unserer politischen Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Viele Bürger durchschauen die Aufgabenteilung zwischen den Parteien, dem Parlament und der Regierung nur unzureichend.

Besonders das Ringen der Parteien um öffentliche Wahrnehmung wird allzu gerne als lästiges Gerangel um die Macht gewertet und nur selten als Versuch verstanden, zu politischen Fragen Stellung zu beziehen, bessere Lösungen vorzuschlagen oder Regierungshandeln zu hinterfragen. Gänzlich unverständlich ist Vielen, dass sich die Große Koalition in den zurückliegenden Jahren bei zentralen politischen Fragen uneinig gezeigt hat. Dabei wird ausgeblendet, das hinter der Regierung Fraktionen und Parteien stehen, die für die Entscheidungen der Bundesregierung gewonnen werden müssen. Da SPD und CDU/CSU Volksparteien sind, in denen sich ganz unterschiedliche politische Kräfte zusammenfinden, gehört die Suche nach einem tragfähigen Kompromiss zum Ringen um politisches Vertrauen.

Dies darf jedoch nicht zu einem Verlust an politischen Visionen führen. Die Ziele der Parteien sollten nicht aus dem öffentlichen Blickfeld geraten, etwa deshalb, weil sie sich aufgrund der bestehenden Mehrheitsverhältnisse nicht realisieren lassen. Den Politikerinnen und Politikern wird ein hohes Maß an Differenzierungsvermögen und Sensibilität abverlangt, weil sie einerseits Kompromisse eingehen, andererseits aber deutlich machen müssen, dass die realisierbaren Lösungen hinter den eigenen Zielen zurückbleiben. Gelingt dieser Spagat nicht, führt er zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgern und beeinträchtigt ihre Zustimmung zur Demokratie. Der dem Demokratieprinzip zugrunde liegende Konkurrenzgedanke verkümmert, der allem Politischen innewohnende Gestaltungsauftrag tritt zurück; er wird durch das Verfahren, den Weg zum Kompromiss, verdeckt.

Vermutlich wird auch deshalb die Suche nach einem tragfähigen Kompromiss in der öffentlichen Wahrnehmung oft als lästiger "Kuhhandel" empfunden und nicht als Stärke unseres parlamentarischen Systems. In der Demokratie gilt die Entscheidung eines Einzelnen nichts, solange dafür keine parlamentarische Mehrheit gefunden wird. Bei vielen Sachfragen ist die Mehrheit aber nicht ohne Weiteres feststellbar, um sie muss gerungen werden. Demokratie ist deshalb ohne Kompromiss nicht lebensfähig. Wer Kompromisse eingeht, nimmt automatisch Vertrauensverluste in Kauf. Dies geschieht nicht mangels Respekt vor dem Bürgerwillen, sondern um die Regierungsfähigkeit zu gewährleisten.

Das beste Beispiel dafür ist die noch amtierende Große Koalition. Sie ergab sich letzten Endes aus den Mehrheitsverhältnissen nach der Bundestagswahl 2005 und stellt deshalb nicht den Gemeinsinn der Parteien in Frage, sondern belegt diesen vielmehr. Sie ist Ausdruck politischer Vernunft, nicht politischer Wünsche. Gerade in einer Großen Koalition mit nahezu gleich starken Partnern liegt es in der Natur der Sache, dass es besonders schwierig ist, Kompromisse zu schließen. Dabei bleibt leider häufig die von vielen erwartete Konsequenz im politischen Entscheidungsprozess auf der Strecke. Zu Recht wird damit ein Mangel der politischen Entscheidungskultur eines parlamentarischen Regierungssystems beschrieben; aber der Verzicht auf den Kompromiss wäre gleichbedeutend mit Handlungsunfähigkeit der Regierung. Dies ist sicherlich die schlechtere Alternative. Deshalb ist die Suche nach einem Kompromiss unverzichtbar, wenn sichergestellt ist, dass die zu findende Entscheidung dem allgemeinen Wohl und nicht dem bloßen Erhalt der Macht dient.

Wer das Regierungshandeln der Großen Koalition verfolgt hat, wird Vieles einwenden können, nicht aber das stete Bemühen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Dies zeigte sich gerade bei der oft mühsamen Suche nach einem belastbaren Kompromiss. Ihn zu finden, ist in der von vielen Partikularinteressen geprägten und durch die Globalisierung wie nie zuvor vernetzten und verrechtlichten Welt mit ihren hoch komplizierten Entscheidungsstrukturen wahrlich eine Herkulesaufgabe. In der Suche nach dem Kompromiss manifestieren sich die Würde des politischen Handelns und das Ethos der Demokratie. Wenn die Zivilgesellschaft dies stärker erkennen könnte und zu akzeptieren bereit fände, gelänge es bald, die Vertrauenskrise, unter der die Politik derzeit leidet, zu überwinden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür liegt aber darin, den Bürgerinnen und Bürgern wieder die Sinnfrage der Demokratie und ihre Funktionsweise zu erläutern. Und dies ist eine zentrale Aufgabe der Politik selbst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Hugo Klein, Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes, in: Günther Rüther (Hrsg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie - eine Alternative?, Baden-Baden 1996, S. 36.

  2. Wolfgang Rudzio, Parteiendemokratie und Repräsentation, in: ebd., S. 138.

  3. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 20004, S. 27.

  4. Ebd., S. 38.

  5. John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1988, S. 16.

  6. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008, S. 7.

  7. Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 52.

  8. Die nachfolgenden Zahlen gehen auf Angaben des Statistischen Bundesamtes zurück.

  9. Siehe hierzu die Analyse von Allensbach, Renate Köcher, Schleichende Veränderung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 20. 8. 2008.

  10. Vgl. dies., Skepsis gegenüber den Führungseliten, in: FAZ vom 23. 4. 2008.

  11. Vgl. ebd.

  12. Vgl. dazu u.a. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1997.

  13. Vgl. ebd., S. 175.

  14. Vgl. ebd., S. 169.

  15. Vgl. R. Köcher (Anm. 10).

  16. Dies hoffte U. Beck (Anm. 13), S. 171.

  17. Vgl. Harald Welzer, Die Demokratie - ein Auslaufmodell, in: Die Welt vom 2. 8. 2008; siehe hierzu auch die Serie zur Zukunft der Demokratie in: Der Spiegel, beginnend am 5. 5. 2008.

  18. Vgl. Werner Patzelt, Verdrossen sind die Ahnungslosen, in: Die Zeit vom 22. 2. 2001.

  19. Christoph Böhr sieht die Gefahr, dass bei einer zu starken Ausrichtung der Politik am Wählerinteresse gerade in einer Koalition die inhaltliche Debatte zu kurz kommt und durch die "Verpackung" der Marketingexperten ersetzt wird. Vgl. Christoph Böhr, Plastik-Politik, in: Cicero, (2008) 6, S. 18f.

  20. Vgl. Helmut Schmidt, Gewissen und Verantwortung, in: ders., Die Verantwortung des Politikers, München 2008, S. 70ff.

Prof. Dr. phil., geb. 1948; Lehre am Seminar für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn; Leiter der Begabtenförderung und Kultur in der Konrad-Adenauer- Stiftung, Rathausallee 12, 53757 Sankt Augustin.
E-Mail: E-Mail Link: guenther.ruether@kas.de