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Ungarn in der EU | Ungarn | bpb.de

Ungarn Editorial Szenen aus Budapest - Essay Ungarn in der Nachbeitrittskrise Ungarn in der EU Die globale Krise und Ungarn Belastete Orte der Erinnerung Die Roma in Ungarn Ungarn und seine Nachbarn

Ungarn in der EU

Attila Ágh

/ 16 Minuten zu lesen

Trotz jüngster Übergangsschwierigkeiten ist das Abschneiden Ungarns im EU-Vergleich recht gut. Die Begeisterung für die EU überwiegt den Pessimismus, insbesondere in der globalen Wirtschaftskrise.

Einleitung

Im Jahr 2004 ist Ungarn der Europäischen Union (EU) beigetreten; die strukturelle Anpassung an die Arbeitsweisen in der EU ist erfolgreich vollzogen. Gleichwohl befand sich Ungarn in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts in einer Ausnahmesituation, nämlich in einer zwar vorübergehenden, jedoch einige Jahre andauernden Krise. Die gegenwärtige Krise wurde durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren verursacht, die zum einen von den kurzfristigen Anforderungen des EU-Beitritts sowie den langfristigen Auswirkungen des Systemwandels und zum anderen als Folge der globalen Finanzkrise hervorgerufen wurden. Somit wurde die Nachbeitrittskrise im Grunde durch den doppelten Druck der EU-Erfordernisse und der Inlandsprobleme ausgelöst, d.h. durch die Anforderungen im Zuge der andauernden Reformbestrebungen innerhalb der EU - einschließlich des angestrebten Beitritts zur Eurozone - und durch die fehlende soziale Konsolidierung, die eine erschreckende Reformmüdigkeit bewirkt hat.



Leider überschnitten sich die EU-Nachbeitrittsgegebenheiten mit den kurzfristigen Wirkungen der Abschwächungsphase im ungarischen Konjunkturverlauf und auch mit den Langzeitwirkungen der Reformmüdigkeit, welche wiederum durch die großen Hoffnungen auf soziale Konsolidierung nach zwanzig Jahren des ständigen Wandels und der Arbeitsplatzunsicherheit hervorgerufenen worden waren. Die weltweite Finanzkrise trat zu einem Zeitpunkt ein, als sich Ungarn ohnehin bereits in einer finanzpolitisch schwierigen Situation befand, die aber innerhalb weniger Monate, bis Ende 2008, überwunden war; die Schwierigkeiten der darauf folgenden wirtschaftlichen und sozialen Krise bestehen fort. Am 14. April 2009 nahm eine neue Regierung die Arbeit auf.

In Ungarn wie auch in den anderen neuen Mitgliedstaaten zeigt sich die Nachbeitrittskrise mit landeseigenen Spezifika, bei denen Kurz- und die Langzeitprozesse klar voneinander unterschieden werden müssen. Die Krise muss vollständig beschrieben, sollte aber nicht zu einer historischen Dimension verallgemeinert werden, da ihre Überwindung bereits vorhersehbar ist, sobald die derzeitige weltweite Krise es zulässt.

Im Folgenden erörtere ich die Auswirkungen der Übergangskrise in Ungarn, behandele aber gleichzeitig auch die langfristigen Tendenzen, um zu verdeutlichen, dass diese Momentaufnahme Ungarns nur die derzeitigen Turbulenzen beschreibt, nicht aber den gesamten Demokratisierungs- und Europäisierungsprozess. Seit einigen Jahren schon herrscht in Ungarn eine schlechte Stimmung, "Malaise", aber die Ungarn sind auf lange Sicht noch immer für Demokratisierung und Europäisierung begeisterungsfähig. Die ungarischen Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft lassen sich nur im gegenwärtigen nationalen Kontext verstehen.

Innenpolitik und EU

Jüngste Eurobarometer-Umfragen (EB 70 und 71) haben gezeigt, dass Ungarn sich aufgrund der Nachbeitrittskrise und der Konjunkturflaute zu einem der pessimistischsten Mitgliedstaaten entwickelt hat, da sich die innenpolitischen Spannungen negativ auf die Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft auswirken. Wie die Bevölkerungen der anderen EU-Länder projizieren auch die Ungarn innenpolitische Probleme und innerstaatliche Spaltungen auf die EU-Ebene. Sie formulieren ihre Unterstützung der EU-Mitgliedschaft und der europäischen Institutionen durch das Prisma ihrer Einstellungen zum eigenen Land. Die öffentliche Meinung zur EU in Ungarn verrät eine besonders kurzfristige Sichtweise aufgrund der innenpolitischen Situation. Es ist tatsächlich so, dass in Ungarn aufgrund der hohen Erwartungen traditionell eine pessimistische Denkweise besteht; gleichwohl hat sich der ungarische Pessimismus in den vergangenen Jahren noch verstärkt.

Der Einbruch der öffentlichen Stimmung in Ungarn zeichnete sich bereits dadurch ab, dass die Ungarn mit ihrem Leben stets deutlich unzufriedener waren als der durchschnittliche EU-Bürger. Mittlerweile glaubt nur noch ein winziger Prozentsatz der Ungarn, dass sich das Land in eine gute Richtung entwickelt, während sich der Anteil derjenigen, nach deren Auffassung sich die EU in die richtige Richtung bewegt, nahe am EU-Durchschnitt befindet. Die ungarischen Eigenheiten zeigen sich deutlich in der Liste der drängendsten Probleme. Sie enthält dieselben vier Begriffe, die auch in der EU allgemein Priorität haben: Arbeitslosigkeit, Inflation, das Gesundheitswesen und die allgemeine wirtschaftliche Situation. Doch die Ungarn machen sich weitaus größere Sorgen über diese Probleme, und ein viel höherer Prozentsatz überhaupt ist besorgt. Das spiegelt eine Situation wider, die ich als "Falle materialistischer Bedürfnisse" bezeichne. Gleichzeitig sorgen sich die Ungarn meist deutlich weniger um "post-materialistische" Fragen wie internationale Sicherheit und Einwanderung. Vor dem Hintergrund dieser nationalen Sorgen wird deutlich, dass die Ungarn zurzeit weniger an der EU als vielmehr an ihren innenpolitischen Problemen leiden.

Die ungarische Besonderheit liegt darin, dass eine beträchtliche Kluft zwischen der mangelnden sozialen Konsolidierung und den sehr hohen Erwartungen an das Sozialwesen besteht. In Ungarn hat die übliche langsame und daher umstrittene Verbesserung des Lebensstandards und öffentlicher Dienstleistungen in den vergangenen zwanzig Jahren - trotz des raschen Fortschritts in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts - größere Enttäuschungen verursacht als in den meisten anderen neuen Mitgliedstaaten. Dieser Umstand verschärfte sich in den vergangenen zwei Jahren durch die Konjunkturflaute und ihre gesellschaftlichen Folgen. Trotz eines eigenen, konjunkturbedingten Musters zählte die sozioökonomische Entwicklung Ungarns im vergangenen Jahrzehnt zur besten und schnellsten unter den neuen Mitgliedstaaten. Das Wirtschaftswachstum lag zwischen 1995 und 2006 bei durchschnittlich vier Prozent pro Jahr, und der Anstieg der Reallöhne betrug zwischen 2001 und 2006 35 Prozent; beides war in der EU beispiellos.

Der enorme Gegensatz zwischen dem objektiv guten Abschneiden des Landes und den subjektiven Wahrnehmungen seiner Bürger hat zu einer Reihe von Paradoxien bei der Bewertung der EU-Mitgliedschaft geführt. Genau genommen sind die Ungarn in erster Linie nicht mit der EU unzufrieden, sondern mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums bzw. der beginnenden Rezession mit ihren kurzfristigen sozialen Folgen, d.h. der gegenwärtigen Stagnation oder geringfügigen Verschlechterung des Lebensstandards und den zunehmenden politischen Spannungen im eigenen Land. Diese innenpolitischen Probleme, auf die EU-Ebene projiziert, haben zu drei Paradoxien geführt.

Paradoxon I: Die Ungarn sind zunehmend unzufrieden in der EU, aber sie bewerten die EU weiterhin positiver als die innenpolitischen Entwicklungen.

Die Ungarn sehen immer weniger die Vorteile der EU-Mitgliedschaft, und das positive Bild der EU schwindet von Jahr zu Jahr. Diese öffentliche Wahrnehmung bringt eine wachsende Ernüchterung bezüglich der EU-Mitgliedschaft zum Ausdruck, aber eine noch stärker wachsende Massenenttäuschung ist in den vergangenen zwei Jahren aufgrund der Entwicklungen im eigenen Land - Gesundheitsreformen und Umgang mit der Wirtschaftskrise - entstanden.

Paradoxon II: Es herrscht größeres Vertrauen in die EU-Institutionen als in die nationalen.

Die Ungarn haben ein sehr schwaches Vertrauen in die eigenen nationalen Institutionen, vertrauen aber in viel stärkerem Maße als der EU-Durchschnitt den europäischen Institutionen. Zwar neigen die Europäer in den meisten Mitgliedstaaten zu größerem Vertrauen in die Union als in ihre nationalen Institutionen. Aber dieses Phänomen erscheint in Ungarn in einer Extremform, denn die Ungarn zeigen viel tiefere Unzufriedenheit mit den und geringeres Vertrauen in die inländischen Institutionen als der EU-Durchschnitt. Tatsächlich wächst ganz allgemein das Misstrauen gegenüber Institutionen in Ungarn, aber das betrifft die nationalen Institutionen viel stärker als die der EU. Die demokratischen Institutionen in den neuen Mitgliedstaaten sind noch immer schwach und belegen nicht selten ein nur geringes soziales Einfühlungsvermögen, so dass die Menschen das Gefühl haben, ihre realen Probleme würden von offizieller Seite nicht ernst genommen.

Paradoxon III: Die Zufriedenheit mit der Demokratie in der EU ist viel höher als mit der in Ungarn.

In Ungarn besteht ein starker Gegensatz zwischen der Verfahrens- oder Input-Legitimität und der Ergebnis- oder Output-Legitimität des neuen demokratischen Institutionensystems. Die meisten Menschen bezeichnen die Institutionen durchaus als demokratisch, da ihnen die Grundsätze der Verfahrensgesetze deutlich geworden sind. Die meisten Ungarn sind allerdings der Meinung, sie arbeiteten äußerst ineffektiv, d.h. die Institutionen befänden sich noch immer in einer "Anlauf"-Phase. EU-Institutionen hingegen werden von großen Teilen der Bevölkerung als Modell voll entwickelter, gut funktionierender Einrichtungen angesehen, und es gibt keine öffentliche Debatte über das Demokratiedefizit der EU.

Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts befürwortete die Mehrheit der Ungarn die Mitgliedschaft. Diese Zahl ging bis heute auf ein Drittel zurück. Obwohl die Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft in den vergangenen Jahren stetig nachgelassen hat, sind die Ungarn doch nach wie vor Europa-Enthusiasten, wie diverse Daten belegen: Vor allem zählen sie zu den glühendsten Anhängern einer weiteren europäischen Integration und behaupten zudem von sich, großes Interesse an den Arbeitsweisen der EU-Institutionen zu haben. Diese Paradoxien zeigen recht deutlich, dass die Massenunzufriedenheit vor allem durch die nationalen Probleme hervorgerufen wurde, denn die Ungarn haben eine stabile Präferenz für die EU und befürworten die EU und ihre Institutionen in überwältigender Weise.

Folglich könnte man in Bezug auf die ungarischen EU-Einstellungen auf den ersten Blick schließen, dass das Hauptmerkmal der öffentlichen Meinung in Ungarn eine kognitive Dissonanz ist: die Akzeptanz miteinander nicht zu vereinbarender Meinungen. Die Ungarn leiden unter Transformationsmüdigkeit und sind daher unzufrieden mit dem fortwährenden Druck seitens der EU, weitere Reformen durchzuführen und das Land nicht zuletzt mithilfe tiefer Einschnitte in den Staatshaushalt auf die Einführung des Euro vorzubereiten. Trotzdem träumen die Ungarn noch immer von einer EU, die alle innenpolitischen Probleme löst und auch im Rahmen der EU selbst ihre hohen Erwartungen erfüllt. Dadurch ist es zu einer Teilung der öffentlichen Meinung zwischen der weiterhin positiven und optimistischen Einstellung zur EU einerseits und der zunehmend negativen und pessimistischen Sicht auf die innenpolitische Entwicklung andererseits gekommen. Zweifellos jedoch wird sich Ungarn innerhalb weniger Jahre von der Wirtschaftsflaute erholen, die letztlich nur ein Teil der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung ist. Diese Erholung wird sicherlich auch zu einer positiveren Bewertung der ungarischen Innenpolitik führen; aufgrund dieser Wende werden die kontroversen und geradezu paradoxen Einstellungen zur EU ebenfalls schwächer und schließlich verschwinden.

Vorläufiges Fazit: Eine geringe Befürwortung der EU-Mitgliedschaft ist in Ungarn paradoxerweise mit einer starken Befürwortung der europäischen Integration und mit großer Wertschätzung für die EU-Institutionen verknüpft.

Der ungarische EU-Kurs

Dieser Prozess zeigt ebenfalls eine interessante Ambiguität, da einerseits eine Art nationaler Konsens hinsichtlich der Hauptziele der ungarischen Europapolitik besteht, in erster Linie die finalité politique der EU betreffend, aber andererseits zwischen Regierung und Opposition starke Spannungen wegen grundlegender politischer Vorgehensweisen herrschen, beispielsweise die Agrar- und Energiepolitik in der EU betreffend. Die Opposition unterstützt die kleineren, familiären Landwirtschaftsbetriebe, während die Regierung eine Modernisierung der Landwirtschaft anstrebt, weshalb sie die Zusammenlegung kleinerer Betriebe zu größeren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen fördert. In der Energiepolitik hat die Regierung den Schwerpunkt auf die Sicherung der Energieversorgung gelegt, weshalb sie ausgewogene Beziehungen zu Russland aufbaut, während die Opposition auf eine Konfrontation mit Russland wegen dessen Demokratiedefiziten drängt. Die Debatte um die Außenpolitik erreichte ihren Höhepunkt im Januar 2009, zur Zeit des russisch-ukrainischen "Gasstreits". Diese unterschiedlichen politischen Ansätze verhindern jedoch nicht die Übereinstimmung aller Fraktionen in Bezug auf die Befürwortung der EU-Integrationspolitik. Somit erwartet die Öffentlichkeit in Ungarn von der Regierung eine sehr aktive Rolle in den länderübergreifenden EU-Gremien bei der Vertiefung der Integration.

Die Ausarbeitung der ungarischen EU-Strategie bis 2013 begann am 1. August 2007, als die Regierung sie in einer gekürzten Version (European Policy Guidelines of the Hungarian Government) veröffentlichte. Die wesentlichen Grundsätze der ungarischen Europapolitik wurden am 30. Juli 2007 von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány in seiner Rede im Rahmen der Botschafterkonferenz des Außenministeriums formuliert. Die Grundsatzrede fasste die Prinzipien der ungarischen Außenpolitik zusammen. Kern der ungarischen Europapolitik ist die aktive Unterstützung der weiteren Integrationsbestrebungen bis hin zur Erarbeitung eigener Initiativen sowohl zur Vertiefung als auch zur Erweiterung der Union. Die Grundsatzrede des Ministerpräsidenten auf der Botschafterkonferenz am 3. Juli 2008 bestätigte diesen Pro-Integrationskurs. Gyurcsány präsentierte seine Regierung als "entschlossenen Anhänger Europas" und fügte hinzu: "Ich bin von der Idee überzeugt, dass Ungarn sich an so vielen Kooperationsinitiativen wie möglich beteiligen und stark engagiert sein sollte (...). Die Europäische Union ist nicht bloß ein historisches Konglomerat oder ein Verein von Freunden (...). Ungarn sollte zu den Mitgliedstaaten gehören, die eine engere Zusammenarbeit mit den anderen anstreben. In dieser Angelegenheit darf Ungarn nicht zu den Zauderern gehören, sondern muss mit in der ersten Reihe stehen." Der Regierungschef erinnerte daran, dass Ungarn das erste Land war, das den Vertrag von Lissabon mit fast hundertprozentiger Unterstützung durch das Parlament ratifizierte.

Am 14. April 2009 übernahm die neue Regierung unter Ministerpräsidenten Gordon Bajnai das Amt. Sie führt die Arbeit der vorherigen fort und erfährt die Unterstützung derselben Parteien (Sozialisten und Liberale) im ungarischen Parlament. Der neue Regierungschef war in der Regierung Gyurcsány Wirtschaftsminister gewesen; bei der Regierungsumbildung wurden lediglich die Posten des Krisenstabs neubesetzt, da sich die neue Regierung vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Krisenmanagement engagieren will. Die pro-europäische Haltung ist sogar noch verstärkt worden durch die Einladung an den früheren ungarischen EU-Kommissar und führenden EU-Experten Péter Balázs, den Posten des Außenministers zu übernehmen. Der bisherige Außenminister Kinga Göncz wurde Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei für die Wahl zum Europäischen Parlament.

Ansichten über die Institutionen der EU

Wie die Eurobarometer-Umfragen gezeigt haben, sind die Präferenzen im Politikgestaltungsprozess in allen Mitgliedstaaten recht ähnlich. Wenn sich die strategischen Präferenzen europäischer Bürgerinnen und Bürger aufgrund der Eigenarten des jeweiligen Landes auch recht drastisch unterscheiden mögen, sind die Antworten auf die Frage, "Was soll wo entschieden werden?" überall sehr ähnlich und fast identisch. Die Entwicklung gemeinsamer Vorgehensweisen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und für den Umweltschutz, die wissenschaftliche Forschung, die Verteidigungs- und Außenpolitik, die Unterstützung der am wenigsten entwickelten Regionen, Energie- und Zuwanderungspolitik sowie Kriminalitätsbekämpfung gelten als grenzüberschreitende Aufgaben der EU-Institutionen. Dementsprechend vertritt die überwältigende Mehrheit der EU-Bürger die Auffassung, dass diese Themen innerhalb der EU gemeinsam bearbeitet werden sollten. Mit der Entwicklung grundlegender Strategien in sozioökonomischen Fragen wie der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie für das Gesundheits-, Bildungs-, Wohlfahrts-, Steuer- und Rentenwesen sollte sich nach Meinung der Mehrheit der EU-Bürger hauptsächlich oder teilweise die Regierung des jeweiligen Staates beschäftigen. Die ungarischen Bürger teilen diese Ansicht, und ihre Befürwortung einer strategischen Gabelung unterscheidet sich selbst prozentual in den meisten Fällen kaum.

Aus den Prinzipen der ungarischen Europapolitik ergibt sich, dass die Regierung meist Regelungen auf europäischer Ebene unterstützt. Sie befürwortet die bilaterale Zusammenarbeit nur in Fällen, in denen Ungarn noch nicht imstande ist, die EU-Auflagen zu erfüllen (zum Beispiel beim Umweltschutz), aber selbst für diese Fälle hat die Regierung EU-Hilfen empfohlen, um zu den weiter entwickelten Staaten aufzuschließen mit dem Ziel, sich der Gemeinschaftsmethode anzuschließen (beispielsweise bei den Zielen der Lissabon-Strategie). Die Bevölkerung vertritt im Großen und Ganzen eine ähnliche Ansicht und unterscheidet klar zwischen zwei politischen Handlungsfeldern. In den meisten Politikfeldern befürwortet sie die Gemeinschaftsmethode, aber im sozioökonomischen Bereich vertraut sie stärker dem Ansatz der Regierungszusammenarbeit oder entscheidet sich für eine landesspezifische, nationale Lösung.

In Ungarn genießen die innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme die größte Aufmerksamkeit, da die Regierung seit Juni 2006 eine Reihe von äußerst scharfen Restriktionen einsetzt, um die in den vergangenen Jahren aufgelaufenen enormen öffentlichen Defizite abzubauen. Infolgedessen beschränkt sich die Debatte um die Zukunft der EU in Ungarn eher auf Expertendiskussionen und ist nicht Teil einer landesweiten öffentlichen Debatte. Die offizielle ungarische Position ergibt sich meist aus den Absprachen der Führungsschicht auf makropolitischer Ebene, und es gibt nur sehr wenige heikle Themen, die die breitere Öffentlichkeit erreichen und bei denen weit reichende öffentlichen Diskussionen die offizielle Position grundlegend beeinflussen. So konzentrierte sich auch der Europawahlkampf im Frühjahr 2009 noch stärker auf innenpolitische Fragen als 2004, da alle Parteien sich über die Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Krisenmanagements in Ungarn stritten und die speziellen EU-Themen fast völlig vernachlässigt wurden.

Die Ungarn sind der Meinung, dass die grundlegenden "internationalen" Strategien Aufgabe der EU-Institutionen sein sollten; ihre Unterstützung für diese Institutionen ist den institutionellen Präferenzen aller EU-Bürgern im Allgemeinen sehr ähnlich. Das größte Vertrauen der Ungarn genießt das Europäische Parlament, gefolgt von der Europäischen Kommission; der Europäische Rat stößt auf geringeres Interesse und ist auch etwas weniger angesehen. Dies beantwortet auch die Frage, welche Institution eine dominierende Rolle in der EU spielen sollte: Die Präferenzen der Ungarn liegen zuerst beim Parlament, dann bei der Kommission, und erst drittens beim Rat. Zur Frage nach dem künftigen Präsidenten des Europäischen Rates fällt den Ungarn nicht allzu viel ein, aber sie bevorzugen zweifellos die einflussreichere Stellung des vom Parlament gewählten Kommissionspräsidenten gegenüber dem tatsächlichen Ratspräsidenten.

In der Vorbereitungsphase für die ungarische EU-Präsidentschaft im Jahr 2011 haben sich die Ungarn für eine sechsmonatige Dauer der Ratspräsidentschaft ausgesprochen. Die rotierende Präsidentschaft ist für sie nach wie vor maßgeblich und unbedingt beizubehalten, zumindest bis etwa 2020, d.h. bis zum Ende der planmäßigen EU-Präsidentschaften, da die Ungarn die Sorge kleinerer Länder teilen und ein directoire der großen Länder fürchten. Diese Sorge wurde auch von Außenminister Balázs in einem seiner ersten Interviews am 27. April 2009 geäußert. Die Ungarn unterstützen die Idee von Koalitionen zwischen den mittelgroßen und den kleineren Ländern gegenüber Bündnissen mit - und der Nähe zu - großen Mitgliedstaaten, weil sie der Meinung sind, dass die mittelgroßen Mitgliedstaaten eher gemeinsame Interessen vertreten. Nach fünf Jahren Mitgliedschaft kamen die Ungarn zu dem Schluss, dass nationale Interessen im EU-Gefüge mithilfe von Koalitionen erfolgreicher vertreten werden können, in erster Linie naturgemäß die geteilten Interessen von Partnern der Visegrád-Länder (Ungarn, Tschechien, Polen, Slowakei). Die meisten Ungarn sind der Meinung, dass weitere institutionelle Reformen nach dem Lissaboner Vertrag nötig sind, vor allem in der Nachbarschaftspolitik.

Agenda der Ratspräsidentschaft 2011

Ungarn nimmt zunehmend seine Rolle im Präsidentschaftstrio mit Spanien und Belgien ein, so dass es seine strategischen Präferenzen immer mehr im Sinne der nationalen und/oder gemeinsamen Prioritäten der SBH-Präsidentschaft (Spain, Belgium, Hungary, 2010 - 2011) strukturiert. Die folgenden Themen stehen ganz oben auf der Agenda: 1. Lissabon-Strategie und ihre Verlängerung nach 2010 als Post-Lissaboner Strategie-Programm, das im Jahr 2011 von Ungarn eingeführt werden kann ("Budapester Strategie"); 2. Haushaltsentwurf für eine neue finanzielle Perspektive nach 2013 unter Berücksichtigung der Kohärenzpolitik und der gerechten Unterstützung der Landwirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten; 3. Werbung für eine Erweiterung um die westlichen Balkanländer und Ausweitung der erweiterten Europäischen Nachbarschaftspolitik für den Osten mit der intensiven Institutionalisierung von "gemeinsamen Räumen" oder Leitlinien; 4. Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres in einem Post-Den-Haag-Programm mit gemeinsamen EU-Vorgehensweisen in Bezug auf neue Sicherheitsbedrohungen ("Stockholm-Strategie" im Dezember 2009); 5. Erweiterung des Schengen-Raums um die jüngsten Teilnehmer - Bulgarien und Rumänien - vor dem Hintergrund einer gemeinsamen europäischen Einwanderungs-, Asyl- und Visapolitik.

Agenda der Innenpolitik

Die wichtigsten Themen für Ungarn sind gegenwärtig aufgrund der möglicherweise für 2012/2014 anstehenden Mitgliedschaft in der Eurozone die finanzpolitischen Sorgen, die in ihrer Gewichtung gleich auf die Präsidentschaft folgen. Auf lange Sicht sind der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt die primären, reizvollen, gleichzeitig aber auch heiklen politischen Themen. Ungarn wendet sich gegen die Renationalisierung bestimmter EU-Kompetenzen wie beispielsweise die der Kohärenzpolitik. Für Ungarn sind Kontinuität und die angemessene Finanzierung der EU-Kohärenzpolitik sehr wichtig, da diese Politik als wichtiges Werkzeug zur Steigerung des Wirtschaftswachstums und zur Förderung des Arbeitsmarktes im Land betrachtet wird.

Obgleich Ungarn ein wesentlicher Nutznießer auch der GAP (Gemeinsame Agrarpolitik) ist, ist die ungarische Position dennoch offen für eine mögliche Reform der GAP nach 2013. So verfolgen Politikstrategen und Akademiker in Ungarn die aktuelle Überprüfung des Staatshaushalts mit großem Interesse, während sie der breiten Öffentlichkeit praktisch unbekannt ist. Ungarn unterstützt einen strategiegesteuerten Haushaltsplan und ist daher an einem Abkommen über geplante Vorgehensweisen interessiert. Allerdings wird die Haushaltsprüfung den Finanzierungsrahmen für den Zeitraum von 2007 bis 2013 voraussichtlich nicht wesentlich verändern, weshalb die Finanzierung der derzeitigen Strategien durch neue Haushaltsposten nicht gefährdet werden sollte. Die nationale Position in Bezug auf das Finanzierungssystem der EU favorisiert langsame Veränderungen, einschließlich der Einführung der neuen Gemeinschaftsstrategien (Klima, Energie und Innovation).

Agenda der Außenpolitik

Ungarn liegt in direkter Nachbarschaft zu den westlichen Balkanstaaten. Diese Region ist eine der Hauptgebiete der ausländischen Direktinvestitionen Ungarns, weshalb Ungarn dort existenzielle Interessen verfolgt. Die ungarische Außenpolitik ist von jeher sehr zurückhaltend, was eine Parteinahme in den Balkankonflikten betrifft. So war es auch der Fall bei der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo am 19. März 2008. Die Ungarn unterstützen die Fortführung der Erweiterung, wenngleich mit zunehmender Vorsicht - abgesehen von der entschiedenen Befürwortung einer Mitgliedschaft Kroatiens, dafür aber mit mehr und mehr Fragezeichen hinter einem Beitritt der Türkei.

Für Ungarn ist die östliche Dimension der ENP (Europäische Nachbarschaftspolitik) besonders heikel, insbesondere die neue Initiative der Östlichen Partnerschaft. Die Ukraine ist für Ungarn zweifellos ein ENP-Schlüsselstaat, angesichts der direkten Nachbarschaft und der Komplexität der ukrainischen Situation mit ihren Bedrohungen und Chancen. Ungarn gehört zu jenen EU-Mitgliedstaaten, die ein besonderes Interesse an der weiteren Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine haben. Im Allgemeinen möchte Ungarn die südlichen und östlichen Dimensionen der ENP ausgewogener gestaltet sehen; aber auch im Osten sollte die EU ihre Beziehungen weiter ausbauen, indem sie einen stabileren Kooperationsrahmen anbietet und einen pragmatischeren Ansatz verfolgt. Ungarn betrachtet Russland als strategischen Partner und befürwortet Verhandlungen über neue, umfassende Abkommen. Die bilateralen Beziehungen betreffend ist der offizielle Ansatz Russland gegenüber eher pragmatisch, während die ungarische Opposition viel stärker darauf besteht, Russland mit Hilfe der EU dazu zu drängen, in Übereinstimmung mit europäischen Demokratievorstellungen zu handeln. Tatsächlich stellt das EU-russisch-ukrainische Energiedreieck eines der kontroversesten Themen zwischen der amtierenden Regierung und der Opposition dar. Ungarn ist seit der Aufnahme in die NATO wegen seines mäßigen Engagements bei der Friedenssicherung und bei internationalen Friedensmissionen kritisiert worden. Trotzdem könnte Ungarn nun, wie die Balkanmissionen gezeigt haben, ausgiebigen Gebrauch von seinen vergleichsweise großen Vorteilen in dieser Region machen.

Schluss

Trotz der jüngsten Übergangsschwierigkeiten ist das Abschneiden Ungarns in der EU dennoch recht gut, auch bei der Entwicklung einer mehrstufigen EU- und nationalen Identität. Die allzu hohen Erwartungen sind ein andauernder Faktor, aber der derzeitige tiefe Pessimismus ist nur von kurzer Dauer, und die Begeisterung für die EU überwiegt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die überwältigende Mehrheit der Ungarn eine positive Einstellung zur Rolle der EU beim Umgang mit den globalen Herausforderungen hat. Gleichermaßen haben die Ungarn das Gefühl, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist, und die meisten von ihnen denken, dass die Mitgliedstaaten über gemeinsame Werte verfügen.

Es sollte festgehalten werden, dass wir uns inmitten einer weltweiten Finanzkrise befinden und die Zukunft offen ist, die EU-Mitgliedschaft aber einen Schild gegen die globalen Turbulenzen bietet. Auf dem Tiefpunkt seiner eigenen Finanzkrise erfuhr Ungarn erhebliche Unterstützung von Seiten der EU und - mit Unterstützung der EU - der internationalen Finanzorganisationen. Das hat in Ungarn große Wirkung auf die öffentliche Meinung ausgeübt. Ungarn bleibt ein hartnäckiger Verfechter der EU-Integration.

Dr. rer. pol., geb. 1941; Professor am Institut für Politikwissenschaft der Corvinus Universität Budapest, Közraktár u. 4 - 6, 1093 Budapest/Ungarn.
E-Mail: E-Mail Link: attila.agh@corvinus.hu