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Krise der Weltwirtschaft Editorial Anmerkungen zur Zukunft des Kapitalismus - Essay Anatomie der Weltwirtschaftskrise: Ursachen und Schuldige Plädoyer für einen regulierten Kapitalismus Rückkehr des Keynesianismus: Anmerkungen aus ordnungspolitischer Sicht War 2008 das neue 1931? "Islamic Finance" und die Finanzmarktkrise

Anatomie der Weltwirtschaftskrise: Ursachen und Schuldige

Hanno Beck Helmut Wienert Helmut Hanno / Wienert Beck

/ 15 Minuten zu lesen

Eine laxe Geldpolitik, Finanzinnovationen, menschliche Schwäche und regulatorische Lücken haben zur Krise geführt. Doch derartige Krisen sind der Preis für Freiheit und Wohlstand in marktwirtschaftlichen Systemen.

Einleitung

Die Jahre 2008 und 2009 werden in die Wirtschaftsgeschichte wohl als die Jahre eingehen, in denen die Welt in den Abgrund blickte: Bankenpleiten, Kurseinbrüche, Insolvenzen und Arbeitslosigkeit - niemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte sah sich die Wirtschaftspolitik derart drastischen Herausforderungen gegenüber.

Wie konnte es so weit kommen? Üblicherweise werden gierige Banker und der freie Markt dafür verantwortlich gemacht - ein Pauschalurteil, das wenig dazu beiträgt, die Geschehnisse zu verstehen. Was sind die Ursachen der Krise, und was können wir daraus lernen? Dazu muss man zunächst die Akteure der Krise kennen: die nationalen Notenbanken und Regierungen, die Banken und die Entwickler neuer Finanzprodukte. Kennt man die Akteure, so kann man zeigen, wie die Krise entstand und welchen Verlauf sie genommen hat. Nach diesen Vorarbeiten kann die Schuldfrage ausgewogen diskutiert werden.

Staatliche Akteure: Notenbanken und Regierungen

Eine Vorbedingung für das Entstehen der Finanzmarktkrise war, dass die Notenbanken, insbesondere die amerikanische Notenbank Fed (Federal Reserve), in den vergangenen zehn Jahren eine Politik extrem niedriger Zinsen betrieben. Ob bei schwacher Konjunktur (wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001) oder bei Börsenturbulenzen (wie nach dem Zusammenbruch der "Dotcom-Blase") - stets reagierte die Fed mit drastischer Senkung der Zentralbankzinsen. Es war ein Jahrzehnt des "billigen Geldes", das zwei Konsequenzen hatte: Erstens konnten sich die Geschäftsbanken zu äußerst günstigen Konditionen Fremdkapital beschaffen und dadurch ihre Kreditvergabe ausweiten, und zweitens waren institutionelle Investoren (Versicherer, Pensionskassen, Versorgungswerke), die traditionell konservativ anlegen, angesichts der niedrigen Zinsen gezwungen, sich nach höherverzinslichen Alternativen umzusehen.

Die Regierungen waren in zweierlei Hinsicht an der Entstehung der Krise beteiligt: als Regulierer und als Manipulierer. Die notwendige Regulierung der Finanzmärkte ist eine Aufgabe, die komplex und fern vom Alltag des Wählers ist, so dass sie bei Politikern in normalen Zeiten auf wenig Interesse stößt. Verbesserungen der internationalen Bankenregulierung und -aufsicht sind zudem ein schwieriges Geschäft, weil stärkere Regulierungen zum Teil mit Wettbewerbsnachteilen verbunden sind, so dass für Regierungen Anreize bestehen, Abkommen zu torpedieren. Auch deswegen halten die Veränderungen bei der Bankenaufsicht häufig mit dem Tempo der Finanzmarktveränderungen nicht Schritt - in der aktuellen Krise war das besonders ausgeprägt der Fall. Die Regierungen haben aber nicht nur als Regulierer eine Rolle gespielt, sondern auch als Manipulierer: In den USA, aber auch in anderen Ländern, waren und sind preiswerte Eigenheime erklärtes politisches Ziel, das über zahlreiche Instrumente (z.B. Zinsverbilligungen, staatliche Garantien, Steuerzuschüsse) verfolgt wird. Zudem wurde auch politischer Druck auf die Notenbanken ausgeübt, mit Blick auf die Beschäftigung das Zinsniveau niedrig zu halten, was zugleich bewirkte, dass sich die Finanzierung der hohen Staatsverschuldung verbilligte.

Banken und Finanzalchemisten

Zu den Hauptakteuren in der Krise gehören auch die Geschäftsbanken: Sie wickeln den Zahlungsverkehr ab, nehmen Spareinlagen entgegen und vergeben Kredite. Aus diesen Grundfunktionen einer Bank ergibt sich ein brisantes Problem: Die Einlagen der Kunden (das Fremdkapital der Bank) sind in der Regel kleine Beträge, die jederzeit oder nach kurzer Frist wieder abgehoben werden können; die von der Bank vergebenen Kredite sind hingegen häufig dem Betrag nach relativ groß und haben eine vergleichsweise lange Laufzeit, können also nicht kurzfristig zurückgefordert werden. Aus dieser sogenannten Fristentransformation folgt ein banktypisches Risiko: Wenn alle Kunden ihre Einlagen gleichzeitig abziehen (bank run), ist die Bank zahlungsunfähig, da das Geld ja langfristig als Kredit vergeben ist. Dieses Liquiditätsrisiko ist ein klassisches Dilemma, das jeder Finanzintermediär hat: Wer sich kurzfristig Geld leiht, um es langfristig zu investieren, läuft Gefahr, illiquide zu werden, wenn die kurzfristige Refinanzierung nicht mehr gelingt.

Das zweite banktypische Risiko besteht darin, dass vergebene Kredite nicht zurückgezahlt werden - in diesem Fall sind die Einlagen der Kunden verloren, die Bank ist insolvent (Kreditrisiko). Die Bank muss also bei der Kreditvergabe Vorsicht walten lassen - eine leichtfertige Kreditvergabe setzt die Zukunft der Bank und die Einlagen der Kunden aufs Spiel.

Um das Liquiditäts- und das Kreditrisiko zu begrenzen, können Banken institutionelle Vorkehrungen treffen: So garantieren sie durch freiwillige Einlagensicherungssysteme die Sicherheit der Kundeneinlagen; auch die gesetzliche Einlagensicherung dient dazu, das Vertrauen der Kunden in das Bankensystem zu stärken und einen bank run zu verhindern. Als zusätzliche Maßnahme können Banken Rücklagen bilden, die als Schutz vor einem zu großen Abzug von Mitteln dienen. Je mehr liquide Mittel in Form von Bargeld (Kasse) eine Bank hat oder je mehr erstklassige Wertpapiere sie besitzt, die sich im Krisenfall rasch zu Bargeld machen lassen, umso geringer ist das Risiko, dass sie in Liquiditätsschwierigkeiten gerät, wenn Einlagekunden Mittel abziehen.

Ein zweiter Sicherungspuffer gegen banktypische Risiken ist das Eigenkapital, denn dieses steht langfristig zur Verfügung und trägt eventuell anfallende Gewinne oder Verluste aus der Geschäftstätigkeit der Bank - fallen Kredite aus, so gehen die daraus resultierenden Verluste zu Lasten des Eigenkapitals, erst wenn dieses aufgebraucht ist, wird es riskant für die Kundeneinlagen. Je höher also die Eigenkapitalausstattung einer Bank ist, umso größere Verluste kann sie tragen und umso sicherer sind die Kundeneinlagen. Als Maßzahl für die Eigenkapitalausstattung dient das Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital, der sogenannte Hebel. Je geringer er ist, umso mehr schützendes Eigenkapital hat eine Bank im Vergleich zum flüchtigen Fremdkapital.

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Bank zweierlei Arten von Vorsorge treffen kann, um Illiquidität oder Insolvenz zu vermeiden: Sie kann liquide Mittel in Form von Bargeld oder erstklassigen Wertpapieren vorhalten oder eine hohe Eigenkapitalausstattung anstreben. Beide Maßnahmen sind geeignet, eine Bank sturmfest zu machen.

Aus dem Anliegen, sich gegen einen Zusammenbruch zu schützen, entsteht für die Bank ein Zielkonflikt: Hohe Eigenkapitalausstattung, hohe Rücklagen, ein hoher Bestand an sicheren Wertpapieren und eine konservativ-vorsichtige, hochbesicherte Kreditgewährung schmälern die Rendite der Bank. Für Banken ist es finanziell attraktiv, Kassenbestände möglichst klein zu halten, das Eigenkapital zu reduzieren, riskantere Wertpapiere zu kaufen und höherverzinsliche, aber auch riskantere Kredite zu vergeben. Die Banken stehen damit vor einem klassischen Dilemma: Treffen sie intensive Vorsorge gegen die banktypischen Risiken, droht eine geringe Eigenkapitalrendite. Arbeiten sie mit einer hohen Fremdkapitalquote und aggressiver Kreditvergabe, droht die Insolvenz. Verkürzt gesagt hat eine Bank die Wahl zwischen Sicherheit und Rendite, zwischen Vorsicht und bis zur Gier entartetem Risikoappetit.

Hier kommt die letzte der vier Akteursgruppen ins Spiel: Die Produktentwickler der Banken versprachen, diesen scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Rendite und Sicherheit durch die Technik der Verbriefung und der Strukturierung aufzulösen - das klingt nach moderner Finanzalchemie. Wie funktionierte das?

Über die Verbriefung werden nicht handelbare Kredite in Form eines Wertpapiers handelbar gemacht. Eine Bank "verpackt" die von ihr vergebenen Kredite in ein Wertpapier und verkauft Anteile an diesem Wertpapierportfolio an institutionelle Investoren wie Versicherungen oder Investmentfonds. Dieses Verfahren stellte eine revolutionäre Neuerung dar, denn traditionell hielten die Banken gewährte Kredite über die gesamte Laufzeit haftend in ihrer Bilanz. Jetzt verkaufte die Bank stattdessen die von ihr vergebenen Kredite an Nicht-Banken, was vier Folgen hatte: ? Erstens erhielten die Banken dadurch neue liquide Mittel, mit denen weitere Kredite vergeben werden konnten. ? Zweitens verdienten die mit der Verpackung der Kredite und dem Weiterverkauf befassten Investmentbanken attraktive Gebühren. ? Drittens wurden die Kredite nun von Institutionen gehalten, die keine Banken sind und nicht der staatlichen Bankenaufsicht und -regulierung unterlagen. ? Viertens regte die rasche Weitergabe des Kreditrisikos eine zunehmend sorglosere Kreditgewährung an.

In Wertpapiere wurden naturgemäß vor allem solche Kredite verpackt, die ein relativ hohes Kreditausfallrisiko hatten, und die Käufer bekamen als Ausgleich dafür relativ hohe Zinszahlungsversprechen. Das allerdings begrenzte den Kreis der Abnehmer, denn viele Investoren (z.B. Versicherungen und Pensionsfonds) dürfen aufgrund gesetzlicher Vorgaben nicht in riskante Papiere investieren. Wie kann man solchen Investoren riskante Papiere verkaufen?

Diese finanzmarkttheoretische Quadratur des Kreises ermöglichte die Technik der Strukturierung. Die Kreditpakete, welche die Banken mittels Verbriefung verkauften, wurden in verschiedene Risikoklassen, sogenannte Tranchen, aufgeteilt. Statt das Ausfallrisiko einzelner Kredite gleichmäßig auf alle Anteilseigner eines verbrieften Kreditportfolios zu verteilen, wurde eine Hierarchie der Risikoübernahme geschaffen: Käufer der untersten Tranche ("Equity") tragen sämtliche Verluste, bis diese Tranche komplett aufgezehrt ist. Weitere Verluste werden der nächsthöheren Tranche ("Mezzanine") angelastet; die dritte Tranche ("Senior") ist folglich erst betroffen, wenn auch die zweite Tranche aufgezehrt ist. Bevor es für die Besitzer der oberen Tranche gefährlich wird, muss also eine sehr große Menge an Krediten ausgefallen sein - ein Szenario, das man für unwahrscheinlich hielt. Mit Hilfe dieser Technik wurden aus einem Portfolio von relativ riskanten Krediten bis zu 97 Prozent Wertpapiere "gezaubert", die als sehr sicher oder sicher eingestuft wurden. Die Quadratur des Kreises war perfekt: Man hatte riskante Wertpapiere in sichere Investments verwandelt, oder wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung formulierte: Aus "Landwein" wurde "Qualitätswein".

Die neuen Techniken der Verbriefung und Strukturierung hatten zwei dramatische Folgen: Zum einen konnten die Banken Kredite, die sie normalerweise bis zur Fälligkeit in ihrer Bilanz hielten, an Dritte verkaufen und damit ihre Kreditvergabefähigkeit dramatisch ausweiten, zum anderen wurden die Käufer der verbrieften Kredite zu indirekten Kreditgebern, sogenannten Schattenbanken, die außerhalb jeglicher Bankenaufsicht agierten.

Überreichliche Liquiditätsversorgung durch die Zentralbanken, erweiterte Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Geschäftsbanken, Finanzmarktinnovationen, die Sicherheit suggerierten und riskante Kreditgewährung begünstigten: Die Krise konnte beginnen, und sie begann in Amerika.

Die Krise nimmt ihren Lauf

Die extrem expansive Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank Fed führte seit Mitte der 1990er Jahre dazu, dass die kreditfinanzierten Ausgaben von Investoren und Konsumenten wuchsen. Da zugleich die Regierung die Nachfrage durch wachsende Haushaltsdefizite anschob, erlebte die amerikanische Wirtschaft einen kreditfinanzierten Boom, in dessen Sog die Importe wuchsen, während die Exporte stagnierten. Finanziert wurde der Importüberschuss vor allem von den Zentralbanken der asiatischen Lieferländer, welche die im Export verdienten US-Dollar ihrer Exporteure zum Festkurs gegen heimische Währung ankauften und diese Beträge in amerikanischen Staatsanleihen anlegten. Durch den Zustrom von Waren und Kapital aus dem Ausland blieben die Güterpreise und Zinsen in den USA trotz des Booms niedrig, während die Vermögenspreise (Aktien, Anleihen, Immobilienpreise) stiegen. In der Spätphase dieses Booms vergaben die Banken immer freizügiger Immobilien-Kredite auch an sehr schlechte Schuldner (Subprime-Kredite). Besichert waren diese Kredite durch die damit gekauften Häuser oder Gewerbeimmobilien, und da die Immobilienpreise beständig stiegen und die Banken die Kredite mittels Verbriefung aus ihrer Bilanz entfernen konnten, schien diese Praxis risikolos zu sein. Institutionelle Investoren wiederum kauften die Verbriefungen gerne, da sie nach Strukturierung relativ risikolos zu sein schienen, aber höhere Renditen als Staatsanleihen einbrachten.

Auslöser der Krise war der Verfall der Immobilienpreise in den USA: Während sich die Häuserpreise in den Vereinigten Staten von 1989 bis 1997 kaum verändert hatten, stiegen sie von 1998 bis Mitte 2006 auf das 2,6-Fache. Dann drehte sich der Trend, und die Immobilienpreise gaben auf breiter Front nach. Das Platzen der Immobilienblase bedeutete naturgemäß das Ende des Geschäftes mit den Subprime-Krediten: Immobilien, die als Besicherung für die Kredite dienten, waren jetzt als Sicherheiten praktisch wertlos. Als Folge mussten Banken, die solche Kredite in ihren Bilanzen hatten, Abschreibungen vornehmen; die Verluste aus diesen Abschreibungen schmälerten ihr Eigenkapital. Bedeutender für den Verlauf der Krise war allerdings, dass das Risikobewusstsein vieler Investoren sprunghaft wuchs: Niemand wollte die verbrieften Kredite mehr kaufen. Der Markt für diese Papiere brach zusammen; die Praxis der Auslagerung der Kredite funktionierte nun nicht mehr. Da niemand mehr diese Papiere kaufen wollte, konnte man auch keinen Preis mehr dafür ermitteln, ihr Wert fiel ins Bodenlose. In der Folge mussten Schattenbanken und Banken, die solche Papiere in ihren Bilanzen hatten, dramatische Wertberichtigungen zu Lasten ihres Eigenkapitals vornehmen.

In Europa war der Hypothekenkäufer Hypo Real Estate (HRE) eines der ersten Opfer des Marktzusammenbruchs bei strukturierten Produkten. Das Geschäftsmodell der HRE beruhte im Kern auf kurzfristigen Einlagen institutioneller Anleger, mit denen sie langfristig laufende Kreditverbriefungen kaufte. Praktisch funktioniert ein solches Geschäftsmodell, solange die Zinsen bei langfristigen Krediten deutlich höher sind als bei kurzfristigen Einlagen. Um die Eigenkapitalrendite hoch zu halten, arbeitete die Hypo Real Estate mit sehr hohem Kredithebel: Auf einen Euro Eigenkapital kamen 50 Euro Fremdkapital - die Balance zwischen Rendite und Sicherheit war vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Als die Kunden die Risiken wahrnahmen und ihre kurzfristigen Einlagen abzogen, kam es zum Zusammenbruch: Die Einlagen waren in jetzt unverkäuflichen Verbriefungen gebunden, Kasse und Eigenkapital waren kaum vorhanden, und auch Anschlussfinanzierungen gab es keine, da niemand bereit war, der Bank noch Geld zu leihen.

Noch eine Spur riskanter hatten die Sächsische Landesbank (Sachsen LB) und der Mittelstandsfinanzierer IKB (Deutsche Industriebank) operiert: Sie betrieben Zweckgesellschaften im Ausland (Rhineland Funding bzw. Ormond Quay), die - ähnlich wie die Hypo Real Estate - langfristig verbriefte Kredite kauften, die sie mit kurzfristigen Einlagen finanzierten. Durch die rechtliche Auslagerung liefen diese Aktivitäten außerhalb der Bankbilanz, wodurch die gesetzlichen Vorschriften bezüglich Eigenkapitalunterlegung und Bankenaufsicht umgangen wurden. Mit dem Fall der Immobilienpreise in den USA bekamen die Zweckgesellschaften das gleiche Liquiditätsproblem wie die Hypo Real Estate, und da die IKB und die Sachsen LB ihren Zweckgesellschaften hohe Kreditlinien für mögliche Liquiditätsausfälle eingeräumt hatten, die nun in Anspruch genommen wurden, wurden beide Banken illiquide und von ihren Zweckgesellschaften mit in den Abgrund gerissen.

Weltweit bekamen immer mehr Banken ähnliche Liquiditätsprobleme wie in den drei geschilderten Fällen. Nun griffen die typischen systemischen Risiken im Finanzsektor: Banken haben sich untereinander in erheblichem Umfang Kredite gewährt und sich gegenseitig strukturierte Wertpapiere verkauft. Die Unsicherheit, ob ein potenzieller Kreditnehmer seine Kredite zurückzahlen kann (counterparty-risk), wuchs in der Krise massiv an. Da niemand genau wusste, wie stark andere Banken bei "faulen Krediten" engagiert waren, bei Krediten also, deren Rückzahlung fraglich bzw. unwahrscheinlich ist, sank die Bereitschaft, sich gegenseitig Kredit zu gewähren oder Wertpapiere abzukaufen erheblich.

Mit der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 wurde eine neue Qualität der Krise erreicht, da jetzt auch die Zuversicht schwand, der Staat würde keine große Bank Pleite gehen lassen. Bei allen Finanzinstitutionen setzte eine fieberhafte Suche nach Risiken in den eigenen Bilanzen ein, auch das Vertrauen in andere Banken war zerstört. Als Folge des gegenseitigen Misstrauens brach der Markt für Zentralbankgeld zwischen Geschäftsbanken (Geldmarkt) zusammen; Kredite wurden kaum noch vergeben, und wenn, dann zu extrem hohen Zinsen. Auf dem vorläufigen Höhepunkt der Krise erreichte die Angst vor einem Bankzusammenbruch die privaten Bankkunden, die nun um ihr Geld fürchteten - das Risiko eines bank run stieg dramatisch an; Kunden zogen ihre Einlagen bei Banken ab.

Die Banken kämpften nun an mehreren Fronten: Die von ihnen vergebenen Immobilienkredite wurden notleidend und belasteten ihre Bilanz. Die Zweckgesellschaften verloren ihre Einlagen und mussten die Kreditgarantien der Muttergesellschaften in Anspruch nehmen, was deren Bilanz zusätzlich belastete. Verstärkt wurde die Krise durch den Kursverfall der Wertpapiere in den Bilanzen der Banken: Verluste, die aus dem Kursverfall von Wertpapieren entstehen, schmälern das Eigenkapital einer Bank und damit die zur Vermeidung der Insolvenz notwendigen Rücklagen - jeder Rückgang der Aktienkurse oder der Kurse für die verbrieften Kredite, in die investiert worden war, brachte die Banken näher an den Abgrund.

Um sich gegen Illiquidität und Insolvenz zu schützen, reduzierten die Banken das Verhältnis von Einlagen (Fremdkapital) und Eigenkapital, also den Hebel. Dies geschah vor allem durch die Rückführung von Krediten und die Reduktion des Fremdkapitals; der andere Weg, die Aufnahme von mehr Eigenkapital, war in der bereits schwelenden Krise kaum möglich. Je stärker die Eigenkapitaldecke der Banken schrumpfte, umso mehr reduzierten die Banken auch ihre Kreditvergabe. Dies brachte im nächsten Schritt die Realwirtschaft in Finanzierungsschwierigkeiten (credit squeeze oder credit crunch), so dass Unternehmen Investitionen zurückstellen mussten oder gar illiquide wurden. Als Folge fielen Gesamtnachfrage und Produktion, die Arbeitslosigkeit stieg.

Zusätzlich verminderte der mit der Finanzkrise einhergehende Verfall der Wertpapierpreise das Vermögen der privaten Haushalte, wodurch sich das Konsumklima weiter verschlechterte. Wegen der weltweiten Beteiligung von Finanzinstitutionen am Handel mit strukturierten Produkten waren auch die Auswirkungen des Crashs weltweit zu spüren, der Abschwung der Realwirtschaft erfasste alle wichtigen Wirtschaftsregionen gleichzeitig, was die Abwärtsdynamik verstärkte, da - anders als bei regional begrenzten Einbrüchen - der Export keinen Ausgleich für die schrumpfende Binnennachfrage bewirken konnte. Die Finanzkrise mutierte zu einer weltweiten Wirtschaftskrise.

Die Schuldfrage

Während weltweit Regierungen und Notenbanken an Rettungspaketen basteln, wird in den Medien die Schuldfrage diskutiert: Wer ist für die Misere verantwortlich? In der Öffentlichkeit wird ein hier nicht als Protagonist aufgetretener Schuldiger identifiziert: der freie Markt. Angeblich hätten radikale Marktideologen die Kapitalmärkte weltweit dereguliert und so der Gier nach Höchstrenditen Tür und Tor geöffnet. Freie Märkte würden zu Übertreibungen neigen, der Staat müsse deshalb eingreifen, die Finanzmärkte regulieren, den Wettbewerb in geordnete Bahnen lenken. Diese Fundamentalkritik am Prinzip freier Märkte ist überzogen und führt in die Irre. Die Bankenbranche ist weltweit einer der am stärksten regulierten Sektoren, weshalb es problematisch ist, hier vom Versagen des freien Marktes zu sprechen - nicht mangelnde, sondern falsche Regulierung ist eine der zentralen Ursachen dieser Krise.

Der Ablauf der Krise hat zudem gezeigt: Der Staat ist nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil der Ursache des Problems. Die Notenbanken haben mit einer zu großzügigen Geldversorgung zum Entstehen spekulativer Blasen auf Aktien- und Immobilienmärkten beigetragen. Die Regierungen haben über staatliche und halbstaatliche Banken am großen Kreditrad mit gedreht und in ihrer Rolle als aufsichtsführende Eigentümer versagt. Mit der massiven Eigenheimförderung (vor allem in den USA) haben sie das Entstehen großer Mengen fauler Immobilienkredite begünstigt. Der notwendigen Anpassung der staatlichen Regulierung an die Möglichkeiten, die sich für Banken aus den neuen Finanzmarktinstrumenten ergaben, haben sie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Wo liegt die Schuld der Banken? Illegale Handlungen wie beispielsweise Anlegerbetrug kamen wohl vor, waren aber eher Begleitmusik als Hauptursache. Im großen Stil wurden vielmehr Regulierungslücken ausgenutzt; Banken handelten gegen den Geist der bestehenden Regulierung, was sich in der Gründung von außerbilanziellen Zweckgesellschaften klar zeigt. Offensichtlich hat auch das bankinterne Risikomanagement versagt: Risiken, von denen man glaubte, sie ausgelagert zu haben, kamen durch die Hintertür (beispielsweise durch die Kreditlinien an Zweckgesellschaften) wieder in die Bilanz zurück, was in den Fällen der IKB und der Sachsen LB besonders deutlich ist. Bei den Vergütungsregeln für Bankmanager sind ebenfalls Fehler gemacht worden. Die starke Beteiligung an Gewinnen ohne entsprechende Beteiligung an Verlusten sowie eine zu kurzfristig orientierte erfolgsabhängige Entlohnung (Bonuszahlungen) haben hoch riskante Strategien begünstigt. Hier müssen neue Entlohnungsformen gefunden werden, damit die Vorstände (agents) im Interesse der Eigentümer (principals) agieren - eine Aufgabe, welche die Eigentümer, also die Aktionäre, selbst lösen müssen.

Welche Schuld trifft die Finanzalchemisten? Grundsätzlich sind Verbriefungen eine gute Sache: Sie verteilen Risiken auf mehrere Schultern, was die Finanzmärkte stabiler macht. Das Kernproblem der aktuellen Krise ist, dass die Verteilung des Risikos unzureichend war: Am Ende landete es wieder in der Bankbilanz. Auch die Strukturierung von Produkten und andere Finanzmarktinnovationen (z.B. Kreditausfallversicherungen) sind prinzipiell positiv zu bewerten, weil sie maßgeschneiderte Lösungen zur Risikoreduktion ermöglichen - warum soll sich ein Kreditgeber nicht gegen den Ausfall eines Gläubigers versichern, so wie sich ein Investor gegen den Kursverfall seiner Aktien schützen kann?

Problematisch an den Neuerungen der Finanzbranche waren zwei Dinge: Erstens existierten keine Erfahrungswerte im Umgang mit den neuen Produkten, weswegen es keine hinreichenden Möglichkeiten gab, deren Risiken angemessen zu bewerten. Zweitens war ein gehöriges Maß an Überheblichkeit im Spiel - die Banken glaubten, mittels mathematischer Methoden und hochkomplexer Schätzverfahren Risiken prognostizierbar machen zu können. Für diese Überheblichkeit hat die Branche teuer bezahlt. Dabei waren es weniger die Risiken aus dem Ausfall der verkauften Kredite, die falsch eingeschätzt wurden. Vielmehr hat man das Risiko ignoriert, dass sich diese Produkte nicht mehr verkaufen lassen könnten - was passiert ist, weil die Risikoaversion in ungeahntem Ausmaß anstieg und Ansteckungseffekte quer durch die gesamte Finanzbranche liefen.

Auf den Punkt gebracht waren es Innovationen in der Finanzbranche, gepaart mit menschlicher Schwäche und regulatorischen Lücken, die in die Krise geführt haben. Innovationen wie die Verbriefung und die Strukturierung durchlaufen einen klassischen Zyklus von Begeisterung, Übertreibung, Krise und Läuterung. Nach anfänglicher Begeisterung über die Möglichkeiten der neuen Finanzprodukte kam die Übertreibung, was die Finanzbranche in die Krise stürzte - und mit ihr die Weltwirtschaft. Die Regulierung war mit dieser Entwicklung naturgemäß überfordert, da sie stets nur bestehende Technologien und Methoden berücksichtigen kann, nicht aber Neuerungen - als Regulierer hinkt der Staat den Innovationen stets einen Schritt hinterher.

Wenn die aktuelle Krise vorüber sein wird, dürfte die vierte Phase in diesem Zyklus folgen, die Läuterung: Man wird die Gefahren von Finanzinnovationen verstehen und regulatorisch berücksichtigen, sich aber auch der Vorteile solcher Neuerungen bewusst sein und diese nutzen. Sobald dies geschehen ist, werden neue Innovationen kommen, neue Märkte, neue Fortschritte - und mit ihnen die nächste Krise. Die marktwirtschaftlichen Systemen immanenten Tendenzen zu Krisen und Verwerfungen sind der Preis, den wir für die Freiheit und den Wohlstand zahlen, den diese Systeme uns bringen. Denn auch für Marktwirtschaften gilt wie an den Finanzmärkten: keine Rendite ohne Risiken.

Dr. rer. pol., Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Pforzheim, Tiefenbronner Straße 65, 75175 Pforzheim.
E-Mail: E-Mail Link: hanno.beck@hs-pforzheim.de

Dr. rer. pol., geb. 1948, Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik an der Hochschule Pforzheim (s.o.).
E-Mai: E-Mail Link: helmut.wienert@hs-pforzheim.de