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Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf?

Horst Dreier

/ 20 Minuten zu lesen

Die Option des Art. 146, wonach das GG durch eine in freier Selbstbestimmung beschlossene Verfassung abgelöst werden kann, bleibt auch nach der Wiedervereinigung ungeschmälert bestehen.

Einleitung

Dass dem Grundgesetz einmal ein 60-jähriges Jubiläum vergönnt sein würde, hätte bei seiner Verkündung durch den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, am 23. Mai 1949 wohl niemand vermutet - am wenigstens die Mitglieder des Parlamentarischen Rates selbst, die es nach einem Dreivierteljahr intensiver Beratungen am 8. Mai 1949 mit der eindrucksvollen Mehrheit von 53 Ja- gegenüber 12 Nein-Stimmen (außer den beiden KPD-Abgeordneten stimmten Vertreter der CSU, des Zentrums und der Deutschen Partei/DP dagegen) beschlossen hatten. Denn im Grunde genommen gingen alle Beteiligten davon aus, mit dem Grundgesetz lediglich eine Art Notbau für einen begrenzten Zeitraum geschaffen zu haben - um dem "staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben", wie es die Präambel in ihrer ursprünglichen Fassung klar und deutlich ausdrückte.


Die Teilung Deutschlands, so die allgemeine Erwartung, würde bald überwunden und damit der Weg frei sein für eine nicht auf die westliche Teilnation beschränkte, sondern gesamtdeutsche Verfassung - und damit für eine Verfassung, die frei von Vorgaben und Genehmigungs- sowie Vorbehaltsrechten der Alliierten in souveräner staatlicher Selbstbestimmung Deutschlands gestaltet werden könnte. Kurz: das Grundgesetz war, um die geläufige Charakterisierung zu gebrauchen, als "Provisorium" gedacht.

Ausgangspunkt: Das Grundgesetz als Provisorium

Um seine Vorläufigkeit zu betonen, nahm man von der in Deutschland fest etablierten Nomination von Staatsgrundgesetzen als "Verfassungen" (etwa: Verfassung des deutschen Reiches 1849/Paulskirchenverfassung, Verfassung des Deutschen Reichs 1871/Bismarck'sche Reichsverfassung, Verfassung des Deutschen Reichs 1919/Weimarer Reichsverfassung) ausdrücklich Abstand und griff zu der eher ungewöhnlichen Bezeichnung als "Grundgesetz". Darauf hatten, nachdem die Westalliierten in den Frankfurter Dokumenten den Weg für eine constitution freigemacht und sogleich wesentliche Vorgaben formuliert hatten, insbesondere die Ministerpräsidenten der Länder gedrungen, die mit dieser Terminologie einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands entgegentreten wollten und den Begriff des Grundgesetzes geradezu "mit Verbissenheit (...) gegenüber den westlichen Alliierten" verteidigten.

Die Erwartung einer baldigen Überwindung der deutschen Teilung und somit der Vorläufigkeit des Grundgesetzes führte jedoch ebenso wenig wie die zurückhaltende Terminologie dazu, das Grundgesetz konzeptionell auf die unabweisbar notwendigen Regelungen staatsorganisatorischer Art (Staatsorgane, Kompetenzverteilung) zu beschränken. In diese Richtung gehende Vorstellungen wurden rasch überwunden. Inhaltlich war das Grundgesetz von Beginn an als Vollverfassung ausgestaltet: Es beschränkte sich nicht auf die staatsorganisatorische Seite, sondern regelte auch die Rechtsstellung des Einzelnen im und zum Staat, enthielt Staatsziele und grundlegende Gestaltungsprinzipien. Mit dem fundamentalen Satz von der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.") an ihrer Spitze wurden die Grundrechte in voller Absicht und aus augenfälligen Gründen an den Anfang des Grundgesetzes gestellt, das in seiner Gesamtheit die Grundordnung des Gemeinwesens bildet. Nicht zuletzt an der unbefangenen Formulierung bestimmter Normen wird hinlänglich und entgegen der vermeintlich restriktiven Titulierung deutlich, dass es schlicht und einfach die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland war und ist: so, wenn Art. 5 Abs. 3 GG davon spricht, die Freiheit der Lehre entbinde nicht von der Treue zur Verfassung; wenn in Art. 20 Abs. 3 GG von verfassungsmäßiger Ordnung die Rede ist oder in Art. 93 GG die umfänglichen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts aufgeführt werden.

Und mehr noch: Der Parlamentarische Rat wagte 1949 eine Regelung, die - scheinbar in schroffem Gegensatz zur prätendierten Vorläufigkeit - bestimmten Kernelementen des Grundgesetzes sogar die denkbar höchste Stabilität und Dauerhaftigkeit vermittelte. Art. 79 Abs. 3 GG legt selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber Fesseln an, indem er die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG (nicht: Art. 1 bis 20 GG) dessen Zugriff entzieht. Diese Bestimmung, seinerzeit ein - von wenigen und eher punktuellen Vorläufern abgesehen - absolutes verfassungsrechtliches Novum, bezeichnet man daher auch als Ewigkeitsklausel.

Doch wie verträgt sich diese partielle Selbstverewigung mit seinem vom Parlamentarischen Rat so überaus deutlich hervorgehobenen Charakter als Notbau? Ist das nicht ein eklatanter Widerspruch? Die Antwort gibt das Grundgesetz selbst. Man muss den Blick dazu von seinem Vorspruch, der Präambel, auf die Schlussbestimmung lenken. Art. 146 GG lautete bis zu seiner - sogleich zu erörternden - Änderung im Jahre 1990 wie folgt: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Damit war unmissverständlich gesagt: Solange das Grundgesetz in Kraft ist, solange ist es als vollgültige Verfassung für alle Staatsgewalt verbindlich und mit seinen in Art. 79 Abs. 3 GG fixierten tragenden Elementen einer Verfassungsänderung entzogen. Wenn aber nach Aufhebung der Teilung Deutschlands das gesamte deutsche Volk "in freier Selbstbestimmung" eine neue Verfassung beschließen würde, dann sollte das Grundgesetz seine Geltung verlieren.

Dabei bezog sich das Element freier Selbstbestimmung im Wesentlichen auf den Fortfall der Souveränitätsbeschränkungen durch die Alliierten - hatte es doch zum Inkrafttreten des Grundgesetzes, worüber die Art. 144 und 145 GG dezent schweigen, nicht nur der Zustimmung der Volksvertretungen der Länder bedurft (wobei allein Bayern mit Nein votierte), sondern zusätzlich der expliziten Genehmigung der drei westlichen Militärgouverneure, die zudem während der laufenden Beratungen des Öfteren - wenn auch nicht immer mit durchschlagendem Erfolg - intervenierten und vornehmlich stark dezentral-föderalistischen Positionen zum Durchbruch zu verhelfen versuchten. Das Grundgesetz sah in der Naherwartung der deutschen Wiedervereinigung und der damit verbundenen Möglichkeit einer neuen, von alliierten Beschränkungen freien Verfassunggebung seine eigene Ablösung vor. Es stellte sich für diesen Fall sozusagen unter einen Ablösungsvorbehalt.

Wendepunkt: Das Grundgesetz im Prozess der Wiedervereinigung

Die deutsche Wiedervereinigung kam - aber das Grundgesetz blieb. Sie kam freilich nicht alsbald, sondern nach vier Jahrzehnten, während der viele, wenn nicht die meisten Zeit- (geist)genossen die Hoffnung auf ein Ende der Teilung längst aufgegeben, andere in ihr wohl sogar einen aus unterschiedlichen Motiven (stabilisierendes politisches Element, Verhinderung eines zu starken deutschen Nationalstaates, Strafe für NS-Zeit) begrüßenswerten Zustand zu sehen begonnen hatten. Die Wiedervereinigung führte einen politisch, ökonomisch und moralisch abgewirtschafteten Teil mit einem insgesamt erfolgreichen und trotz mancherlei Krisenphänomene prosperierenden Westdeutschland zusammen. Das Grundgesetz war zum Exportschlager geworden. Binnenstaatlich hatte sich die einstige Notverfassung längst vom Provisorium über ein Transitorium zu einem Stabilimentum entwickelt, war zum allseits anerkannten Ankerpunkt der politischen Existenz der Bundesrepublik und einem zentralen Moment ihrer Identität geworden.

Doch das Grundgesetz ging keineswegs unberührt und unverändert aus dem epochalen Vorgang der Wiedervereinigung hervor. Zwar spricht man in der allgemeinen Debatte wie auch in der politischen Publizistik und der Staatsrechtslehre zumeist vom "Beitritt der DDR" gemäß Art. 23 GG in seiner alten Fassung (a.F.), welche lautete: "Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen."

In der Tat hatte es eine "Beitrittserklärung" der DDR gegeben, nämlich durch die Volkskammer am 23. August 1990. Aber diese Erklärung bewirkte den Beitritt eben gerade nicht aus sich heraus, sondern beschleunigte die politischen Aktivitäten auf beiden Seiten, die Wiedervereinigung herbeizuführen. Nur wie? Durch Annahme des Beitritts, was eine automatische Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes sowie der gesamten Rechtsordnung in der (ehemaligen) DDR zur Folge gehabt hätte? Das galt als dem Osten nicht zumutbar. Nach dem Durchspielen verschiedener Varianten fand man schließlich die praktikable Lösung im Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR, für dessen Inkrafttreten es bei den Verfassungsorganen (Bundestag und Bundesrat hier, Volkskammer dort) der nach den jeweiligen staatsrechtlichen Bestimmungen notwendigen Zustimmung bedurfte. Das bedeutet: Die DDR ist nicht dem Grundgesetz beigetreten, sondern hat mit der Bundesrepublik einen völkerrechtlichen Vertrag über die Wiedervereinigung geschlossen - den Einigungsvertrag, genauer: den "in Berlin am 31. August 1990 unterzeichneten Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands einschließlich des Protokolls und der Anlagen I bis III sowie der in Bonn und Berlin am 18. September unterzeichneten Vereinbarung".

Zwar ist in diesem Vertrag irritierender Weise vom "Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990" die Rede - doch war an jenem 3. Oktober diese Verfassungsbestimmung gar nicht mehr existent, sondern bereits aus dem Grundgesetz entfernt worden. Wodurch? Durch eben jenen völkerrechtlichen Einigungsvertrag, der neben der Streichung des Beitrittsartikels auch die Präambel, Art. 51 sowie den für uns interessanten Art. 146 GG veränderte; diese Grundgesetzänderungen traten am 29. September 1990 in Kraft. Lassen wir die besondere verfassungsrechtliche Problematik dieses absoluten Ausnahmefalles einer Verfassungsänderung durch völkerrechtlichen Vertrag hier einmal beiseite, so bleibt als letzte wichtige Präzisierung der gängigen, aber irreführenden Rede vom "Beitritt der DDR" gemäß Art. 23 GG zu erwähnen, dass nicht die DDR, sondern die uno actu gebildeten "neuen Bundesländer" Teil der territorial erweiterten Bundesrepublik wurden. Das Grundgesetz ist also weder, wie Art. 23 a.F. GG das vorsah, in unveränderter Gestalt im Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt worden, sondern galt für das wiedervereinigte Deutschland in seiner durch den Einigungsvertrag veränderten Gestalt; noch entfaltete es Gültigkeit in der DDR, sondern in den fünf neuen Bundesländern, die durch ihre Wiederbegründung, die an eben jenem 3. Oktober 1990 gemäß Art. 1 Abs. 1 des Einigungsvertrages juristisch wirksam wurde, in der gleichen juristischen Sekunde die alte DDR ablösten, von deren Beitritt man gemeinhin spricht. Insgesamt kann man also konstatieren: "In Wahrheit war es eben der völkerrechtliche Einigungsvertrag, der den Beitritt und seine Folgen in einer umfassenden Weise selbst regelte."

Nullpunkt oder Fluchtpunkt? Zur kontroversen Deutung des Art. 146 GG

Was bedeutete dies für den Ablösungsvorbehalt des Art. 146 GG? Der Abschluss des Einigungsvertrags machte klar, was schon bald im Laufe der unglaublich raschen politischen Entwicklung seit dem Fall der Mauer immer deutlicher ins allgemeine politische Bewusstsein getreten war: dass angesichts der drängenden Probleme und der sich beschleunigenden Entwicklung für eine Herstellung der deutschen Einheit im Wege eines umfassenden neuen Verfassunggebungsprozesses weder genug Zeit noch ein hinlängliches Maß an Bereitschaft bei den relevanten politischen wie gesellschaftlichen Kräften vorhanden waren. Ob dieser Umstand der in Art. 146 GG formulierten Option einer neuen gesamtdeutschen Verfassung in freier Selbstbestimmung die Grundlage entzog oder sie ungeschmälert bestehen ließ, erwies sich sodann als eine bis heute äußerst kontrovers behandelte Frage.

Schon in den heftigen Debatten, welche die Verhandlungen über den Einigungsvertrag begleiteten und in denen Verfassungsinterpretation und -politik oft bis zur Unkenntlichkeit verschwammen, war mit Macht eine Auffassung in den Vordergrund getreten, die als gewissermaßen zwingende Konsequenz der Wiedervereinigung die komplette Streichung des Art. 146 GG ansah. Das Hauptargument bestand darin, dass mit der Herstellung der Einheit Deutschlands der Gegenstandsbereich der Schlussbestimmung in Fortfall gekommen sei: Angeblich ganz auf die Funktion reduziert, einen Weg zur Wiedervereinigung aufzuzeigen (nämlich vermittels neuer gemeinsamer Verfassunggebung), habe deren Erlangung auf anderem Wege (nämlich durch "Beitritt" gemäß Art. 23 a.F. GG) Art. 146 GG obsolet werden lassen. Den Schlussartikel nicht zu streichen, käme der Platzierung oder zumindest der vorsätzlichen Nichträumung einer "Zeitbombe im Verfassungsgehäuse" gleich.

Doch es kam anders. Art. 146 GG wurde nicht gestrichen, sondern geändert. Die Änderung bestand lediglich in einem Einschub, der - in Parallele zur Präambel - noch einmal die Geltung des Grundgesetzes für das wiedervereinigte Deutschland festhielt. In seiner neuen Fassung (n.F.) lautet Art. 146 GG wie folgt: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Das konnte die herrschende Meinung (h.M.) freilich nicht davon abbringen, die Schlussbestimmung weiterhin als obsolet anzusehen. Wenn Art. 146 GG auch nicht, wie gewünscht und im Grunde für zwingend befunden, gestrichen worden war, so betrachtete man Art. 146 n.F. GG doch so, als ob genau dies geschehen wäre. Ihm wurde entweder attestiert, dass auf seiner Grundlage nur Verfassungsänderungen im Rahmen von Art. 79 Abs. 3 GG möglich seien (womit Art. 146 GG nicht über Art. 79 GG hinausgehen und sich somit als absolut überflüssig erweisen würde); oder man stufte den Schlussartikel gleich als verfassungswidriges Verfassungsrecht ein; oder man erklärte in einem besonders kühnen Akt der Interpretation, dass das jetzige Grundgesetz genau die Verfassung sei, von der Art. 146 GG unverändert sprach - was einen Kritiker nicht von ungefähr an das "Mirakel der Transsubstantiation" erinnerte. Wie man die Deutung auch im Einzelnen anlegte: Die h.M. verurteilte Art. 146 n.F. GG zur absoluten Wirkungslosigkeit, indem ihm jeglicher eigenständiger Regelungsgehalt abgesprochen und Art. 79 Abs. 3 GG als in alle weitere Verfassungszukunft unantastbar angesehen wurde. Art. 146 GG bildete keinen orientierenden Fluchtpunkt für einen neuen Prozess der Verfassunggebung mehr, sondern war zum bedeutungslosen Nullpunkt geschrumpft.

Doch blieb diese Auffassung nicht ohne Widerspruch. Die Gegenmeinung hat zwar vermutlich noch immer die kleinere Anhängerschar, dafür aber die stärkeren Argumente auf ihrer Seite. Deren wichtigstes lautet, dass Art. 146 GG entgegen dem vielfach bezeugten Credo der Mehrheitsmeinung eine Doppelfunktion erfüllte. Man kann und darf die Schlussbestimmung nicht als reinen Wiedervereinigungs-Artikel lesen, dem mit Eintritt derselben gleichsam der Gegenstand abhanden gekommen sei. Vielmehr war die Norm zum einen durchaus gedacht als möglicher Weg zur deutschen Einheit und enthielt insofern eine Antwort auf die Wiedervereinigungsfrage; sie sah aber daneben und ganz selbständig die Ablösung des Grundgesetzes in freier Entscheidung des ganzen deutschen Volkes ohne besatzungsrechtliche Bindungen vor und enthielt insofern eine Antwort auf die Verfassungsfrage. Die Erledigung der einen Funktion (Wiedervereinigung) ließ die andere (Verfassunggebung) unberührt. Ganz in diesem Sinne hatte Carlo Schmid bei den Schlussberatungen im Plenum des Parlamentarischen Rates unwidersprochen festgehalten, dass "auch der Beitritt aller deutschen Gebiete (...) dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen" könne.

Noch deutlicher kann man die Unabhängigkeit von Beitritt und Verfassung nicht formulieren. Es gab eben zwei Wege zur Einheit, aber nur einen zur Verfassung. Die Erledigung der Wiedervereinigungsfrage bedeutete nicht zugleich die Erledigung der Verfassungsfrage. Das wird in der Literatur mittlerweile überwiegend genauso gesehen, wenn man sich einmal nicht an den zeitnahen Stellungnahmen orientiert, die manchem Beobachter wie ein "Glaubenskrieg" anmuteten, sondern z.B. an drei sehr gründlichen, soliden und materialreichen Dissertationen, die im etwas ruhigeren Klima der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden. Keine von ihnen, so unterschiedlich sie auch sonst ausfallen, teilt die These von der Konsumtion des Art. 146 GG durch die Herbeiführung der Wiedervereinigung im Wege des (vertraglich vereinbarten) "Beitritts".

Auch die Neufassung des Art. 146 GG im Zuge der Wiedervereinigung hat nichts an der prinzipiellen Option einer neuen, das Grundgesetz ablösenden Verfassung geändert. Das ergibt schon die bloße Durchmusterung der Norm nach geläufigen klassischen Auslegungsmethoden. So blieb die Textgestalt in ihrem Aussagekern nicht nur völlig unverändert, sondern wurde lediglich um die Feststellung der Geltung des Grundgesetzes für das ganze deutsche Volk ergänzt; hätte man sie als bloße Revisionsnorm in den Schranken des Art. 79 GG neu konzipieren wollen, hätte sich ihre systematische Platzierung in diesem Normumfeld angeboten und nicht ihre Beibehaltung als über das Grundgesetz hinausweisende Schlussbestimmung. Sinn und Zweck der Neufassung bestand im Wesentlichen - und nicht zuletzt wegen der verfassungsdogmatischen bzw. -politischen Kontroversen - in der Klarstellung der Weitergeltung des Normgehaltes, was eigentlich kaum deutlicher als durch die gewählte Ergänzung zum Ausdruck gebracht werden konnte. Schließlich ist bei der historischen Genese zu beachten, dass politische Intentionen der Parlamentarier im Text der Neufassung keine Spuren hinterlassen haben und der Entstehungsgeschichte einer Norm gemäß den Vorgaben für die Interpretation völkerrechtlicher Verträge gemäß Art. 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (vom 23.5. 1969) nur nachrangige Bedeutung zukommt.

Schließlich und endlich bringt Art. 146 GG in seiner neuen ebenso wenig wie in seiner alten Fassung nicht lediglich die seit der Französischen Revolution und ihrem Verfassungskonstrukteur Abbé Sieyès gängige Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass sich ein Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt stets seiner bisherigen normativen Fesseln entledigen und auf revolutionärem Wege zu einer neuen Grundgestalt seiner politischen Existenz schreiten könnte. Art. 146 GG normiert mehr und anderes: Er baut eine die juristische Revolution vermeidende normative Brücke von der alten zur neuen Ordnung und zeigt, dass eine Verfassung durchaus die Voraussetzungen ihrer eigenen Ablösung regeln kann. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Konstitutionalisierung des Verfassunggebungsprozesses auf der Zeitschiene. Die neue Verfassung wird nicht in den Bereich konstitutioneller Illegalität abgedrängt, sondern von der alten, dem Grundgesetz, ausdrücklich zugelassen.

Den Bedarf für eine derartige ausdrückliche Regelung schafft die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Viele andere Verfassungen, angefangen bei der amerikanischen von 1787 oder der französischen von 1791 über die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919, bedurften einer speziellen Norm zur Ablösung der alten Verfassung durch eine neue nach Art des Art. 146 GG nicht, weil dort die Reichweite der verfassungsändernden Gewalt inhaltlich unbegrenzt war bzw. ist. In der Schweiz und in Österreich kann eine Verfassungsneuschöpfung im Wege der Totalrevision bzw. der Gesamtänderung bewirkt werden. Deutlich wird durch diese Hinweise auch, dass es keineswegs eine völlig irreguläre Situation darstellt, wenn sich ein Volk das Recht vorbehält, seine politische Ordnung im Wege der Verfassunggebung bzw. der Verfassungsänderung grundsätzlich neu zu regeln. Wenn diese Möglichkeit für die Situation in Deutschland als "Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes" perhorresziert worden ist, so demonstriert das nur eine gewisse Fremdheit gegenüber dem selbstverständlichen Recht kollektiver politischer Selbstbestimmung. Jedenfalls leben mit dieser Freiheit sehr viele und ältere Verfassungsstaaten auf eine durchaus auskömmliche Art und Weise. Warum nicht auch wir?

Schlusspunkt: Offene Verfassungszukunft

Das Grundgesetz ist keine Verfassung auf Abruf - wenn man unter Abruf versteht, dass es praktisch jederzeit, aus banalen Gründen und womöglich allein aufgrund der Entschlossenheit einer aktivistischen Minderheit aus dem Weg geräumt werden könnte. Dem stehen schon seine bisherige Erfolgsgeschichte mit entsprechend starken Beharrungskräften sowie der Umstand entgegen, dass das letztlich entscheidende Kriterium für eine Aktivierung des Art. 146 GG im konkreten historisch-politischen Erfolg entsprechender Initiativen liegt. Sie dürften es schwer haben. Denn das Provisorium hat sich als weitaus stabiler und langlebiger erwiesen als bei seiner Verabschiedung gedacht und sich auch den Stürmen der deutschen Wiedervereinigung und den Herausforderungen der europäischen Integration gewachsen gezeigt. Seine Wertschätzung in der Gesellschaft im Sinne eines sicherlich oft recht diffusen Verfassungskonsenses darf wohl ungeachtet mancher verstörender demographischer Befunde als vergleichsweise tief verankert angesehen werden. Man übertreibt nicht mit der spekulativen Vermutung, dass es möglicherweise weitere 60 Jahre vor sich haben könnte.

All dies bedeutet, dass es bei Ausbleiben fundamentaler Verfassungskrisen, grundstürzender Umbruchsituationen oder gravierender Wandlungsprozesse kaum zu einer erfolgreichen Aktivierung des Art. 146 GG kommen wird. Aber genau für solche (hier und heute vielleicht als unwahrscheinlich anzusehenden) Fälle kann der Schlussartikel des Grundgesetzes einen nichtrevolutionären, friedlich-evolutionären Übergang in eine neue Verfassungsordnung bahnen und so dem Rechtsgedanken dienen.

Das Grundgesetz treibt die Selbstverewigung des Art. 79 Abs. 3 GG nicht auf die Spitze, sondern kennt nach wie vor eine Alternative zu sich selbst und lässt den Weg zu einer neuen Verfassung offen. Das ist weder die bereits erwähnte Zeitbombe noch ein bedrohlicher "Sprung ins Dunkle", sondern kluge Selbstbescheidung. Das Grundgesetz zeigt so eine wohltuende Offenheit für die Zukunft - sowohl für Herausforderungen, die wir heute vielleicht noch gar nicht antizipieren können, als auch für solche, die über kurz oder lang durchaus anstehen mögen, etwa die Fortentwicklung der Europäischen Union zu einem echten Bundesstaat, was die Bundesrepublik Deutschland wie die anderen Staaten der EU zu bloßen Untergliederungen eines höheren politischen Gemeinwesens herunterstufen und so ihre Identität in maßgeblicher Weise verändern würde.

Klug ist es umgekehrt aber auch, dass das Grundgesetz die Verabschiedung einer neuen Verfassung nicht zur Pflicht macht, also keinen (womöglich befristeten) Auftrag zur Verfassunggebung erteilt. Wir können somit alles so lassen, wie es ist, und uns auf Fortentwicklungen durch inkrementale Änderungen des Grundgesetzes beschränken. Aber eben dieses Grundgesetz eröffnet weiterhin die Möglichkeit, auf nichtrevolutionärem Wege eine neue Verfassung "in freier Selbstbestimmung" zu schaffen, wenn die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes das wollen. Dieses Recht der Verfassunggebung steht einem freien Volk gut an - und es steht ihm zu.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Entstehungsgeschichte des GG vgl. aus der Fülle der Literatur etwa die eingängige und kompakte Schilderung von Michael F. Feldkamp, Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949. Eine Dokumentation, Stuttgart 1999; mit vielen Nachweisen Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts, München 2000, S. 1244ff., S. 1277ff.

  2. Abdruck der Ursprungsfassung bei: Horst Dreier/Fabian Wittreck (Hrsg.), Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, Tübingen 20083, S. 14f., Fn. 1.

  3. Der Terminus begegnet schon im Bericht des Herrenchiemseer Verfassungskonvents vom August 1948, abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearbeitet von Peter Bucher, Boppard am Rhein 1981, S. 504ff., hier: S. 507; vgl. ferner Karl (=Carlo) Schmid, Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Matz (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und Besatzungsstatut, Stuttgart-Köln 1949, S. 1ff.

  4. Abdruck der Dokumente zur künftigen politischen Entwicklung Deutschlands ("Frankfurter Dokumente") vom 1. 7. 1948 in: Der Parlamentarische Rat (Anm. 3), Bd. 1: Vorgeschichte, bearb. v. Johannes Volker Wagner, Boppard am Rhein 1975, S. 30ff.

  5. Vgl. Dietrich Murswiek, in: Rudolf Dolzer/Christian Waldhoff/Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, Überschrift (Zweitbearbeitung 1986), S. 3ff.; guter und kompakter Überblick über die Wahl der Bezeichnung "Grundgesetz" auch in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 1 (1951), S. 14 - 20.

  6. Hans Meyer, "Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", in: Erhard Denninger u.a. (Hrsg.), Kritik und Vertrauen. Festschrift für Peter Schneider zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 1990, S. 271, der zugleich auf die Ironie hinweist, dass sich die Ministerpräsidenten zwar durchsetzen konnten, letztlich aber doch "bei der Realisierung des Vorhabens (...) mit deutscher Gründlichkeit und zunehmend auch gewollt eine Vollverfassung ausgearbeitet wurde".

  7. Rechtsvergleichend Peter Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Yvo Hangartner/Stefan Trechsel (Hrsg.), Völkerrecht im Dienste des Menschen. Festschrift für Hans Haug, Bern-Stuttgart 1986, S. 81ff.; zum Sachproblem wie auch zum verfassungshistorischen Hintergrund Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, Tübingen 20062, Art. 79 III Rn. 1ff., 14ff.

  8. Vgl. dazu Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, Tübingen 20082, Art. 144 Rn. 17.

  9. Vgl. zum Gesamtprozedere der Annahme des Grundgesetzes H. Dreier (ebd.), Art. 144 Rn. 15ff. und Art. 145 Rn. 4 ff.; zu den Vorgängen in Bayern insb. ebd., Art. 144 Rn. 21. Zu den (bei weitem nicht immer erfolgreichen) Einflussnahmen der Alliierten aufschlussreich: Der Parlamentarische Rat (Anm. 3), Bd. 8: Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen, bearbeitet von Michael F. Feldkamp, Boppard am Rhein 1995, insbes. die einführende Übersicht S. VIIff., S. XXVIIIff.

  10. So der allgemein verwendete Terminus; vgl. etwa Josef Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, Heidelberg 1992, § 166 Rn. 5 in der Überschrift u.ö.

  11. Aus dem linksintellektuellen Bildungsbürgertum ragte hier Günter Grass heraus, abgemilderte Kritik äußerte etwa Jürgen Habermas. Vgl. Gerd Langguth (Hrsg.), Die Intellektuellen und die nationale Frage, Frankfurt/M.-New York 1997, insb. S. 173ff., S. 210ff., S. 314ff.

  12. Vgl. Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz. Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, Berlin 1990.

  13. Abdruck dieser früheren Fassung des Art. 23 GG in: H. Dreier/F. Wittreck (Anm. 2), S. 28 Fn. 3.

  14. Klar und deutlich Hartmut Maurer, Staatsrecht I, München 20075, § 3 Rn. 66 (S. 103). Zur Wahl des 3. Oktober als "Beitrittstermin" instruktiv Richard Schröder, Einsprüche und Zusprüche, Stuttgart-Leipzig 2001, S. 109ff.

  15. Zur Vielfalt der denkbaren, aber eben politisch nicht realisierbaren Möglichkeiten vgl. die Vorträge und Debatten der einzigen "Sondertagung" in der Geschichte der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer am 27.4.1990: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 49: Deutschlands aktuelle Verfassungslage (mit Vorträgen von Jochen Abr. Frowein, Josef Isensee, Christian Tomuschat und Albrecht Randelzhofer).

  16. Daher der treffende Titel des Buchs des seinerzeitigen (und heutigen) Innenministers der Bundesrepublik über die Wiedervereinigung: Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, hrsg. und mit einem Vorwort von Dirk Koch und Klaus Wirtgen, Stuttgart 1991.

  17. Art. 1 des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. 9. 1990 (BGBl. 1990 II, S. 885).

  18. Das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag (=Einigungsvertragsgesetz) stammt vom 23. 9. 1990 (BGBl. 1990 II, S. 885). Der Einigungsvertrag ist laut Bekanntmachung vom 16. 10. 1990 (BGBl. 1990 II, S. 1360) am 29. 9. 1990 in Kraft getreten.

  19. Vgl. Horst Dreier, in: ders. (Anm. 7), Art. 79 I Rn. 15 m.w.N.

  20. Hasso Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 6 (1995) 2, S. 158.

  21. Repräsentativ: Josef Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 49 (1990), S. 39 - 69, hier: S. 53ff.; ders., Selbstpreisgabe des Grundgesetzes?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 28.8. 1990, S. 10; Martin Kriele, Eine Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes, in: Die Welt vom 16.8. 1990, S. 5; Christian Starck, Deutschland auf dem Wege zur staatlichen Einheit, in: Juristenzeitung, 45 (1990) 8, S. 349 - 358, hier. S. 354.

  22. So J. Isensee (ebd.), S. 10.

  23. Ausführlicher und vollständiger zu den folgenden Interpretationsvarianten: Martin Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Anm. 10), § 197 Rn. 86ff.; Horst Dreier, in: ders. (Anm. 8), Art. 146 Rn. 33ff.; knapp und präzise Ewald Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland. Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz zu Art. 146 GG n.F., in: Archiv des öffentlichen Rechts, 117 (1992) 3, S. 410 - 448, hier: S. 411f.

  24. Vgl. für die letztgenannte Position (GG als Verfassung i.S.d. Art. 146) z.B. Richard Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 105 (1990) 23, S. 1285 - 1301, hier: S. 1297, S. 1300f.; J. Isensee (Anm. 10), § 166 Rn. 61; Paul Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, München 1992, S. 16 und passim.

  25. Vgl. H. Hofmann (Anm. 20), S. 160, mit folgender Erläuterung: "über die mittels eines völkerrechtlichen Vertrages unter besatzungsrechtlichen Einschränkungen von Stellvertretern bewirkte Ausdehnung des räumlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes verwandelt sich dieses unter Beibehaltung seiner äußeren Gestalt substantiell in eine vom ganzen deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung".

  26. Carlo Schmid in der 9. Sitzung des Plenums vom 6. 5. 1949 (Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, bearbeitet von Wolfram Werner, München 1996, S. 438), wo er zum Schlussartikel ausführte: "Die neue, die echte Verfassung unseres Volkes wird also nicht im Wege der Abänderung dieses Grundgesetzes geschaffen werden, sie wird originär entstehen, und nichts in diesem Grundgesetz wird die Freiheit des Gestaltungswillens unseres Volkes beschränken, wenn es sich an diese Verfassung machen wird." (ebd., S. 444).

  27. So Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, München 1992, S. 27.

  28. Peter Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, in: Juristenzeitung, 45 (1990) 8, S. 358 - 363, hier: S. 358; so auch E. Wiederin (Anm. 23), S. 411.

  29. Vgl. Karlheinz Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Grundlagen und Dogmatik des Artikels 146 GG, Baden-Baden 1996, S. 27ff., S. 33ff., S. 87ff.; Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluß nach Artikel 146 Grundgesetz, Paderborn u.a. 1996, S. 155ff., S. 163f., S. 193; Birgitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, Berlin 1997, S. 79ff., S. 106ff. Aus der neueren Literatur beispielsweise Sebastian Blasche, Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, Baden-Baden 2006, S. 29ff., S. 43ff., S. 55f.

  30. Vgl. u.a. Helmuth Schulze-Fielitz, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 106 (1991) 17, S. 893 - 906, hier: S. 905; Michael Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland - endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, in: Juristische Schulung, 31 (1991) 12, S. 985 - 991, hier: S. 990; H. Hofmann (Anm. 20), S. 159f. (die beiden letztgenannten freilich mit einer gewissen Tendenz zur zeitlich begrenzten Anwendungsmöglichkeit). M. Heckel (Anm. 23) spricht von einer "verfassungsablösende(n) Totalrevision" (§ 197 Rn. 114), setzt deren Voraussetzungen aber so außergewöhnlich hoch an (mehrfache Dreiviertelmehrheiten), dass - durchaus gewollt und eingestandenermaßen (vgl. Rn. 125ff.) - eine Aktivierung praktisch außerhalb des Denkbaren liegt, und scheint zudem gleichwohl von einer Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG auszugehen (vgl. Rn. 127).

  31. Zum Folgenden näher und jeweils m.w.N.: H. Dreier (Anm. 8), Art. 146 Rn. 37ff.

  32. Siehe nochmals ebd., Art. 146 Rn. 42f.

  33. M. Kriele (Anm. 21), S. 5; s. auch J. Isensee, Selbstpreisgabe (Anm. 21), S. 10.

  34. Peter Lerche, Art. 146 GG: Auftrag zur Neuverfassung Deutschlands?, in: Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann (Hrsg.), Theorie und Praxis. Festschrift für Nikolaus Lobkowicz zum 65. Geburtstag, Berlin 1996, S. 299ff., hier. S. 301, der sie sich freilich nicht zu eigen macht, sondern sich mit einem "zu eröffnen scheint" leicht distanziert.

  35. Zu Art. 146 n.F. GG als möglichem Anwendungsfall bei der Fortentwicklung der Europäischen Union zu einem echten Bundesstaat vgl. etwa: Peter M. Huber, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, München 20095, Art. 146 Rn. 18f.; H. Dreier (Anm. 8), Art. 146 Rn. 16.

Dr. jur., geb. 1954; Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg; z. Zt. Fellow am Max-Weber-Kolleg Erfurt.
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