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Unterhauswahl 2010 | Großbritannien | bpb.de

Großbritannien Editorial Uneiniges Königreich - Essay Unterhauswahl 2010 Gesellschaftliche Spaltungen, Geschlecht und Ethnizität im Bildungssystem Nordirlands Bildungspolitik und die politische Lage Still Special? Britische Sicherheitspolitik und die USA Devolution: Auflösung des Vereinigten Königreichs? Großbritannien und die Folgen der Finanzkrise

Unterhauswahl 2010

Paul Webb

/ 21 Minuten zu lesen

Die Unterhauswahl hebt sich nicht nur wegen des ungewöhnlichen Ergebnisses ab, sondern auch als ein Volksentscheid, der das Ende der Politik von New Labour signalisiert.

Einleitung

Die britische Unterhauswahl vom 6. Mai 2010 hebt sich von anderen Wahlen nicht nur wegen des ungewöhnlichen Ergebnisses ab, sondern auch als ein Volksentscheid, der das Ende der Politik von New Labour signalisiert. Nachdem Gordon Brown zehn Jahre hatte warten müssen, um im Jahr 2007 Parteivorsitzender und Premierminister zu werden und Tony Blair abzulösen, den Architekten dieses politischen Projektes, wurde er nun verdrängt. Damit ging auch die Ära der Stimmenmehrheit von New Labour zu Ende.

1997 hatte die sich nach Veränderungen sehnende Wählerschaft nach nahezu zwanzigjähriger Herrschaft der Konservativen (Tories) der Labour Party einen überwältigenden Sieg beschert. Die Partei, die sich unter Blair als New Labour neu erfunden hatte, nahm rasch eine ganze Reihe wirtschaftskonservativer Züge an, etwa indem sie der Bank of England operative Eigenständigkeit zugestand, Steuererhöhungen vermied, sich zwei Jahre lang an die Ausgabenplanungen der Konservativen hielt und der City of London (dem Wirtschafts- und Finanzzentrum) einen Zahlungsaufschub gewährte, was bedeutete, dass es sich noch weniger staatlich kontrollieren lassen musste als zu Zeiten der Regierungen von Margaret Thatcher in den 1980er Jahren. Da es der Wirtschaft gut ging, war Labour in der Lage, die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit sowie staatliche Renten und öffentliche Dienste in die Höhe zu treiben. Gleichzeitig nahm die Partei ein ehrgeiziges Programm zur Verfassungsreform in Angriff (Einführung von dezentralisierten Regierungen in Schottland und Wales, Festigung des Friedensprozesses in Nordirland, Unterzeichnung von EU-Verträgen) und entwickelte die zunächst erfolgreiche Strategie des liberal interventionism, der Einmischung in politische Angelegenheiten im Ausland im Namen der humanitären Gesinnung und der Menschenrechte (zum Beispiel in Sierra Leone und im Kosovo).

Die bemerkenswerte wirtschaftliche und politische Erfolgsbilanz sorgte 2001 für einen weiteren deutlichen Wahlsieg von New Labour. Als die Partei 2005 eine weitere Amtszeit antrat, zeichnete sich indes bereits eine Trendwende ab. Das entscheidende Problem war Blairs entschlossene Unterstützung für US-Präsident George W. Bush bei der Invasion des Irak im Jahr 2003. Dadurch wurde das Vertrauen der Öffentlichkeit in New Labour nachhaltig untergraben. 2007 wurde Blair durch Gordon Brown als Premierminister ersetzt.

Zwei wesentliche Dinge schädigten Browns Amtsführung: Zum einen traf er die verhängnisvolle Entscheidung, im Herbst jenes Jahres keine Neuwahlen einzuberufen, obwohl alle darauf vorbereitet waren, seine eigene Partei eingeschlossen. Angesichts des damaligen Stimmungsbarometers wirkte dies unlogisch und politisch feige. Weder in den Augen der Wählerschaft noch in denen seiner Partei erholte sich Browns Ruf je ganz davon. Zum anderen schlug im Herbst 2008 die globale Finanzkrise ein. Obwohl sich Brown weithin Anerkennung verschaffte, weil er eine federführende Rolle dabei übernahm, nationale und internationale politische Lösungen für die Krise aufzuzeigen, konnte es ihm die Öffentlichkeit nicht verzeihen, dass er ein Jahrzehnt lang zuvor als Finanzminister die unkontrollierten, rücksichtslosen Geschäftspraktiken der Banken toleriert hatte. Browns Regierung musste mehr als 25 Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP) ausgeben, um die Banken zu retten, und das trotz stark reduzierter Steuereinnahmen.

2010 war das Staatsdefizit bereits auf 156 Millionen Pfund angewachsen, ein Ausmaß, das innerhalb der Europäischen Union (EU) nur von Portugal, Irland, Griechenland und Spanien übertroffen wurde. Angesichts dieser Bedrängnisse war es zu erwarten, dass die Konservativen wiedererstarkten. 2005 wählten sie David Cameron als charismatischen jungen Führer, dessen strategisches Hauptziel die Neuverortung seiner Partei in der Mitte des politischen Spektrums war, dort, wo alle bestimmenden Parteien in Großbritannien ihren Ausgangspunkt haben. Was Fragen wie soziale Gerechtigkeit, Umwelt, Kriminalität und soziale Vielfalt betraf, positionierte sich Cameron auf dem linken Flügel seiner Partei. Das Gespenst der von Thatcher geprägten 1980er Jahre mit ihren rabiaten Eingriffen in das Arbeitsrecht und mit ihrer Ellbogenmentalität, unschöne Relikte einer vergangenen Zeit, spukte noch immer in den Köpfen der Wählerinnen und Wähler. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und einer erneuten Polarisierung wurde dadurch geschürt, dass die Tories mit Nachdruck eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben forderten, um der Finanzkrise des Staates Herr zu werden. Trotz Browns mannigfaltiger Bedrängnisse war daher der Vorsprung der Konservativen bei den Meinungsumfragen nicht allzu groß, als der angeschlagene Premierminister schließlich im April 2010 die Königin um Auflösung des Unterhauses bat.

Wahlkampf und eine neue Koalition

Auffälligstes Merkmal des Wahlkampfs waren die bis dahin nicht üblichen Fernsehdebatten zwischen den Führern der drei wichtigsten Parteien. Solche Debatten hatten zuvor nie stattgefunden. Das hatte hauptsächlich damit zu tun, dass es nicht im Interesse einer in den Umfragen weit vorne liegenden Partei lag, ihren Gegnern die Gelegenheit zu einem K.o.-Schlag zu bieten. Zur Überraschung vieler stimmte Cameron dem Vorschlag von Labour zu, dass eine Reihe von 90-minütigen Debatten Eingang in den Wahlkampf finden sollte. Nick Clegg, der Führer der Liberaldemokraten, wurde ebenfalls eingeladen, und er stahl den anderen die Show.

Da er weithin als "Sieger" der ersten Debatte galt und sich auch in den folgenden behaupten konnte, sah sich Cleggs Partei als Nutznießer eines plötzlichen Zulaufs. In den meisten Umfragen lagen die Liberaldemokraten und Labour jeweils bei landesweit 28 bis 30 Prozent der Wählerstimmen; einige meinten sogar, die Liberaldemokraten könnten Labour überholen. Das hatte es seit den 1920er Jahren nicht mehr gegeben. Wodurch wurde dieser Stimmungsumschwung gegen die Zweierherrschaft von Labour und Konservativen in Westminster bewirkt? Es gab dreierlei Ursachen: erstens die Person Clegg selbst, ein junger, intelligenter, engagierter Akteur; zweitens die zuvor erwähnte Wirtschaftskrise, für die beide große Parteien Mitverantwortung trugen (man denke an die Deregulierung des Bank- und Finanzwesens, das schon unter Thatcher in Angriff genommen worden war); drittens der spektakuläre politische Skandal des Jahres 2009, als Journalisten Beweismaterial auf den Tisch legten, nach dem Parlamentarier beider Parteien über ihre Spesenkonten vielfältige verschwenderische, zuweilen illegale Ausgaben tätigten.

Das gab der öffentlichen Entrüstung gegenüber der politischen Klasse, die der Empörung gegenüber der Finanzklasse in nichts nachstand, neue Nahrung. Von allen Parteien wurden zwar wirtschaftliche und politische Reformen versprochen, aber die Liberaldemokraten, die von den Skandalen relativ unbefleckt waren, erhoben die tiefgreifendsten und glaubwürdigsten Reformforderungen. Da Meinungsumfragen immer wieder erahnen ließen, dass keine Partei mit einer absoluten Mehrheit aus der Wahl hervorgehen würde, wurde es immer klarer, dass es bei einer Kräftebalance bleiben würde. Ob es die Parteien schaffen würden, diese Chance zu nutzen, um das Vereinigte Königreich in die Nähe seiner meisten europäischen Nachbarn zu rücken, wo das Verhältniswahlrecht, Koalitionsregierungen und zunehmend dezentrale politische Systeme an der Tagesordnung sind?

Wie erwartet blieb das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien im Unterhaus instabil. Auch wenn die Liberaldemokraten den überzogenen Erwartungen nicht gerecht werden konnten (sie verloren sogar fünf Sitze), sorgten sie doch für eine Machtbalance in Westminster (sh. Tabelle in der PDF-Version). Daraus erwuchs ein strategisches Dilemma: Während die Liberaldemokraten als progressive Partei links der Mitte angesehen wurden, die weit mehr mit Labour als mit den Tories gemeinsam hat, konnten sie doch nur eine parlamentarische Mehrheit bilden, wenn sie sich mit letzteren zusammenschlossen. Offensichtlich standen drei mögliche Regierungsszenarien in Aussicht: eine konservativ-liberaldemokratische Koalition, eine Koalition von Labour und Liberaldemokraten oder eine konservative Minderheitsregierung.

In der Vergangenheit hatten Parlamente ohne klare Mehrheitsverhältnisse in Westminster meist für kurzlebige Minderheitsregierungen gesorgt, auf die bald Neuwahlen folgten. Diesmal gestaltete es sich anders. Vielleicht sahen sich die Politiker durch die Erfahrungen mit Koalitionsregierungen auf Landesteilebene ermutigt; seit 1999 haben die Wahlen zum Schottischen Parlament und zur Welsh Assembly, der walisischen Landesregierung, Koalitionen (auch Minderheitsregierungen) hervorgebracht, die sich als stabil und effektiv erwiesen haben. Zum Beispiel hatte eine Koalition von Labour und Liberaldemokraten in Schottland von 1997 bis 2007 die Mehrheit (57%) von 129 Sitzen im Parlament und in den Parlamentsausschüssen inne. Dies stärkte die Exekutive, die in jeder Hinsicht als Mehrheitsregierung im Stil von Westminster agierte und ohne nennenswerte Probleme ein weitreichendes Gesetzgebungsprogramm verabschiedete, den jährlichen Haushalt eingeschlossen. Straffe Parteidisziplin und ein hochgradig koordiniertes Abstimmungsverhalten innerhalb der Koalition sorgten für Stabilität. Ähnliche Abmachungen hatte es von 1997 bis 2007 auch in Wales zwischen Labour und den Liberaldemokraten sowie nach 2007 zwischen Labour und der nationalistischen Partei Plaid Cymru gegeben. Obwohl also laut Rhetorik der Konservativen und der Labour-Politiker die bloße Aussicht auf eine Koalition in London verteufelt wurde, erkannten sie doch beim Eintreten dieses Falles schnell die Chance für eine effektive und stabile Partnerschaft.

Das traf besonders auf die Konservativen zu. Verfassungsrechtlich hatte der amtierende Premierminister Gordon Brown den Vortritt beim Versuch einer Regierungsbildung. Demgegenüber stellte Nick Clegg fest, dass seiner Meinung nach den Konservativen angesichts ihres Status als größter Partei der Vorrang gebühre. Es lässt sich darüber spekulieren, ob er denselben Standpunkt geäußert hätte, wenn Labour und die Liberaldemokraten eine arithmetische Mehrheit im Unterhaus bekommen hätten. Brown erklärte seine Bereitschaft, abzuwarten, ob die Verhandlungen zwischen den Konservativen und den Liberaldemokraten erfolgreich verlaufen würden. Die Liberaldemokraten waren folglich in einer Position, von der alle britischen Drittparteien seit Jahrzehnten geträumt hatten: von allen Seiten hofiert zu werden, weil sie das Zünglein an der Waage darstellten. Gleichzeitig übte diese Zwangslage auch enormen Druck aus.

Warum zog es Clegg vor, mit den Tories zu verhandeln, wenn nicht wegen ihrer offensichtlichen Position als größter Partei im Unterhaus? Erstens befürchteten die Liberaldemokraten, dass die Wählerschaft sie abstrafen würde, wenn sie einem dem Untergang geweihten Premierminister und seiner Regierung den Rücken stärken würden (laut dem Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov verlangten 62 Prozent der Wähler, dass Brown nach den Wahlen abtrat). Zweitens konstituierten Konservative und Liberaldemokraten eine klassische minimum winning coalition, das erforderliche Minimum, um eine parlamentarische Mehrheit zu bilden; bei keiner anderen Zweiparteienkombination wäre das möglich gewesen. Liberaldemokraten und Labour zusammen hätten diese nicht zu Wege gebracht, denn sie besetzen nur 315 Sitze im Unterhaus, benötigen aber 323 Stimmen, um eine Mehrheit zu erzielen. (Außer Acht gelassen werden dabei der Sprecher des Unterhauses und die fünf Abgeordneten von Sinn Fein, die niemals einen Treueeid auf die Königin schwören würden.)

Wie hätte man eine Mitte-Links-Koalition bilden können? Das hätte die Unterstützung der walisischen Nationalisten, der nordirischen Abgeordneten von Sozialdemokraten, Labour und Alliance Party und außerdem vielleicht der Grünen-Abgeordneten Caroline Lucas erforderlich gemacht (die erste Vertreterin ihrer Partei, mit der es die Grünen ins Unterhaus geschafft haben). Das wäre, vorsichtig ausgedrückt, ein gewagtes Vorhaben. Was zudem für eine Allianz von Konservativen und Liberaldemokraten sprach, waren Präzedenzfälle bei lokalen Regierungen. Die Stadträte von Birmingham, Leeds, St. Helens, Camden, Brent und Southwark waren bereits von Bündnissen der beiden Parteien regiert worden; nachweislich waren sie gemäßigt und zogen im Wesentlichen an einem Strang. Die Mitverantwortung der Liberaldemokraten hatte dafür gesorgt, dass die Konservativen keine drastischen politischen Lösungen à la Thatcher durchdrücken konnten.

Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass Liberaldemokraten und Konservative ein sehr ungleiches Paar abgeben, denn erstere werden eher als "sozialliberal" denn als wirtschaftsliberal angesehen; das geht zurück auf die Tradition von John Stuart Mill, Leonard Trelawny Hobhouse, David Lloyd George, John Maynard Keynes und William Henry Beveridge. Mit anderen Worten, die Liberaldemokraten bilden eine Partei, die zwar die persönliche Freiheit als obersten Wert hochhält, um das Potential des Einzelnen zu entwickeln und zu verwirklichen, die aber auch die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen akzeptiert, um allen eine faire Chance bei der Verfolgung dieses Ziels einzuräumen. So haben sie zum Beispiel nichts einzuwenden gegen ein beträchtliches Maß von staatlicher Intervention, Sozialleistungen oder ein staatliches Gesundheits- und Bildungswesen. Seit Jo Grimond in den 1950er und 1960er Jahren Führer der alten Liberalen Partei war, haben die Liberaldemokraten oft unerschrocken radikale und bahnbrechende Ideen zu politischen Themen wie Umwelt, Dezentralisierung, europäische Integration und Verfassungsreform verfochten.

Darüber hinaus liegen Umfragedaten vor, die nahelegen, dass diejenigen, welche die Liberaldemokraten wählten, eher links orientiert sind. Laut einer Umfrage von YouGov zur Zeit der Wahl bezeichneten sich 43% der Wähler der Liberaldemokraten als "links" oder "Mitte-links", 29% als "in der Mitte" und nur 9% als "Mitte-rechts" oder "rechts" orientiert. Ähnlich sahen die Zahlen aus, was die Ansichten darüber betraf, ob die Partei selbst "links", "in der Mitte" oder "rechts" positioniert sei. Außerdem belegen Forschungen um die Zeit der Wahl 2005, dass die Wähler der Liberaldemokraten als Zweitoption eher Labour (52%) als die Tories (22%) in Betracht zogen, und entsprechend stimmten umgekehrt Labour-Wähler als Zweitoption mit 66% für die Liberaldemokraten und nur mit 21% für die Konservativen. Man sollte auch nicht vergessen, dass Labour und die Liberaldemokraten, auch wenn sie keine Mehrheit im Unterhaus innehatten, im Bündnis miteinander zumindest die Unterstützung einer Mehrheit der Wählerschaft (53%) für sich reklamieren konnten. Nur der First-past-the-post-Mechanismus des Mehrheitswahlsystems, wonach der Kandidat mit der höchsten Wählerstimmenzahl gewinnt, hat verhindert, dass sich diese Tatsache im Unterhaus widerspiegelt.

Es gab darüber hinaus noch andere Faktoren, die Bedenken bei den Strategen der Liberaldemokraten gegenüber einer Koalition mit den Konservativen auslösen konnten. Zwar fürchteten die Liberaldemokraten keine Gegenreaktion der Wähler, wenn sie die unpopuläre Labour Party unterstützen würden, doch waren sie sich bewusst, dass das Zusammengehen mit den Tories ein noch größeres Risiko barg. Davon ausgehend, dass die Mehrzahl der Wähler der Liberaldemokraten sich selbst als Mitte-links einordnet, musste man damit rechnen, dass die meisten von ihnen sich außerordentlich getäuscht fühlen, wenn ihre Stimmen dazu herhalten, die Konservativen in die Regierung zu bringen. Die Expertenkommission der Fabian Society schätzte, dass solch eine Gegenreaktion der Labour Party bei der nächsten Parlamentswahl eine Menge Sitze in die Hände spielen könnte, weil anzunehmen sei, dass Anhänger der Liberaldemokraten die Parteipräferenz wechseln. Es gab auch Gerüchte, dass es zu einer weiteren Spaltung innerhalb der Liberaldemokratischen Partei kommen könnte, falls mit den Tories ein Deal ausgehandelt werden würde, wenn auch beim tatsächlichen Eintreten dieses Falles die Koalitionsabmachung von Parlamentariern und Parteipräsidium gebilligt wurde.

Trotz all dieser Überlegungen verliefen die Diskussionen über eine mögliche Vereinbarung zwischen Labour und den Liberaldemokraten nicht zufriedenstellend. Zu einem großen Teil war man bei Labour der Ansicht, es sei besser, für einige Jahre in die Opposition zu gehen, einen neuen Führer zu wählen und keine Verantwortung für die von allen Seiten erwarteten tiefen Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben zu übernehmen; dann könnte man am Ende bei der enttäuschten liberaldemokratischen Wählerschaft Stimmen sammeln. Wenn die Liberaldemokraten keinen Deal mit Labour unter Dach und Fach bringen könnten, bliebe als Alternative zu den Verhandlungen mit Camerons Tories, dass man zusah, wie eine konservative Minderheitsregierung gebildet wurde. Clegg und seine Kollegen betrachteten das jedoch als politischen Drahtseilakt, durch den noch vor Jahresablauf Neuwahlen heraufbeschworen würden. Die Liberaldemokraten hatten wenig in der Hand, womit sie innerhalb so kurzer Frist einen zweiten Wahlkampf bestreiten könnten, und sie fürchteten, ein möglicher Schwenk hin zu den Konservativen würde den Wahlausgang für sie erheblich beeinträchtigen. Folglich kamen sie zu dem Schluss, die einzige realistische Strategie sei, das Beste aus Verhandlungen mit den Konservativen herauszuschlagen. Dementsprechend wurde fünf Tage nach der Wahl die formelle Koalitionsvereinbarung von Cameron und Clegg verkündet.

Das Programm der neuen Koalition

Eindeutige Priorität misst die neue Regierung der Aufgabe zu, das Haushaltsdefizit von 156 Milliarden Pfund abzubauen. Dieses Thema war Kernstück des Wahlkampfes gewesen, wobei sowohl Labour als auch die Liberaldemokraten das Vorhaben der Tories kritisiert hatten, im laufenden Haushaltsjahr Kürzungen von sechs Milliarden Pfund zu beschließen, und zwar mit der Begründung, dass dadurch eine double-dip-Rezession heraufbeschworen werden könnte, ein Konjunkturrückgang, auf den ein Aufschwung von nur kurzer Dauer und eine weitere Rezession folgt. Die Konservativen konnten aber ihren Willen durchsetzen, und so wurden bereits am 24. Mai 2010 die ersten Maßnahmen zur Kürzung um 6,25 Milliarden Pfund angekündigt. Am 22. Juni wurde ein Nothaushalt vorgestellt, es folgte eine größere Überprüfung der öffentlichen Ausgaben. Die Ausgaben für das Schul- oder das Gesundheitswesen sollten zwar gesichert werden, ebenso wie die für die Entwicklungshilfe, aber unausweichlich sind Kürzungen in den meisten anderen Ressorts und bei den Universitäten, der Personalbeschaffung und Bezahlung der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst - Minister der Regierung eingeschlossen -, bei Beratungshonoraren, Reisekosten, IT-Ausgaben, einzelnen Regierungsverträgen und -projekten sowie Körperschaften, die öffentlich finanziert werden.

Die Experten sind sich uneins darüber, ob es notwendig ist, einen so radikalen Angriff auf das Haushaltsdefizit vorzunehmen (in Aussicht gestellt sind in den Budgets einiger öffentlicher Sektoren über vier Jahre hinweg Kürzungen um 25%). Mit einem solchen Sparprogramm wird man sich in der Öffentlichkeit unbeliebt machen. Laut "Populus"-Umfrage der "Times" von Ende September 2010 stimmen drei von fünf Wählern (59%) der Aussage zu, "Großbritannien steckt in einer schweren Krise, und man muss sich damit auseinandersetzen", aber nur 22% (26% der Männer und nur 17% der Frauen) stimmen zu, wenn es heißt, "das Haushaltsdefizit muss bis zur nächsten Wahl abgearbeitet sein". 37% meinen, das Defizit solle eher schrittweise abgebaut, bis zur nächsten Wahl halbiert und innerhalb von zehn Jahren ausgeglichen werden.

Einige weitere Punkte des Koalitionsprogramms fallen ins Auge. Was die Zuwanderung betrifft, so versprechen die Tories eine jährliche zahlenmäßige Beschränkung der Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten, die Schaffung einer neuen Grenzpolizeitruppe als Teil der Serious Organised Crime Agency (SOCA), der nationalen Behörde zur Bekämpfung schwerer Organisierter Kriminalität, und neue Maßnahmen, um den Missbrauch von Studentenvisa zu einzuschränken; auch wurde ein übergangsweises Arbeitsverbot für Bürger aller neuen EU-Staaten angekündigt. Zur Zeit der Ankündigung bekannten sich die Liberaldemokraten nicht zu einer Amnestie für illegale Migranten, die sich seit mehr als zehn Jahren im Land aufhielten. Was die Bürgerrechte betrifft, so waren beide Parteien froh, dass sie das von Labour ins Auge gefasste Projekt der Einführung eines Personalausweises und eines entsprechenden nationalen Melderegisters verwerfen konnten. Sie setzten eine Kommission ein, um zu untersuchen, "wie man eine britische Freiheitsurkunde gestalten kann, die unsere Verpflichtungen gegenüber der europäischen Menschenrechtskonvention einbindet und auf ihnen aufbaut". Auch das ist ein konservatives Konzept, denn die Tories trachten danach, die Anwendung der Straßburger Rechtsprechung in britischen Gerichten einzuschränken.

Verteidigungs- und außenpolitisch plädierten beide Parteien dafür, das System der nuklearen Abschreckung beizubehalten, aber nun solle, "um ein effizientes Kosten-Nutzen-Verhältnis abzusichern", überprüft werden, ob das U-Boot-gestützte ballistische Trident-Abwehrsystem erneuert wird. Die Liberaldemokraten, die sich im Wahlkampf gegen die Modernisierung und Laufzeitverlängerung des Programms ausgesprochen hatten, konnten nun weiter für Alternativen werben. Die Koalition erstellte auch einen Bericht zur strategischen Sicherheit und Verteidigung unter Federführung eines neuen Nationalen Sicherheitsrates "mit starker Einbindung des Finanzministeriums". Im Zusammenhang mit der Zusage, die laufenden Kosten des Verteidigungsministeriums um 25 Prozent zu senken, ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass künftig weniger für die Verteidigung ausgegeben wird. Angesichts des extrem kostspieligen militärischen Engagements, durch das sich die Amtszeit von New Labour auszeichnete, ist es nun interessant zu beobachten, ob mit diesen Entscheidungen der Einfluss Großbritanniens auf der weltpolitischen Bühne schrumpfen wird. In diesem Kontext mag es bedeutsam sein, dass sich nach den Erfahrungen der von Bush und Blair geprägten Jahre in dem Wunsch, "eine starke, enge und ehrliche Beziehung zu Washington aufrechtzuerhalten", Cleggs Skepsis gegenüber einer allzu innigen Beziehung zu Washington widerspiegelt. Großbritannien ist seit der Suezkrise von 1956 keine Weltmacht mehr und hat dennoch seitdem immer versucht, in einer höheren Gewichtsklasse zu spielen. In Anbetracht der auf absehbare Zeit anhaltenden Konjunkturschwäche wird die neue Finanzlage solche Ambitionen mindern.

Beim Thema Europa gibt es - eingedenk der traditionellen Begeisterung der Liberaldemokraten für die EU und der hinlänglich bekannten Abneigung der Tories gegen sie - genügend Stoff für Kontroversen. Die Koalition plant, Gesetze einzubringen, die eine weitere Machtübertragung an die EU ohne Referendum verbieten. Es soll ein "Gesetz zur Souveränität" auf den Weg gebracht werden, mit dem sichergestellt ist, dass das Parlament des Vereinigten Königreichs seine rechtliche Vorrangstellung gegenüber der EU behält. Dies ist eine Initiative der Konservativen, und sie gründet auf der Feststellung, dass es bisher an einer expliziten Rechtsgarantie fehlt, nach der Großbritannien das letzte Wort zu seiner Gesetzgebung hat, denn das Königreich hat keine Verfassung in schriftlicher Form. Laut Cameron würde ein solches Gesetz Großbritannien auf Augenhöhe mit Deutschland bringen, wo das Bundesverfassungsgericht konsequent - auch im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon - dafür sorgt, dass die höchste Autorität den Gremien zuerkannt wird, die durch die Verfassung Deutschlands dafür vorgesehen sind.

Im Bereich der Sozial- und Innenpolitik hält sich die Agenda weitgehend an die Vorstellungen der Konservativen: Eine neue Kommission wird eingerichtet, die eruieren soll, welche Möglichkeiten es für die Finanzierung der Langzeit-Altenpflege gibt, wohingegen die Pläne von Labour zur kostenlosen häuslichen Pflege ad acta gelegt wurden. Im Bereich der Bildung sollen Eltern, Lehrer und Wohltätigkeitsorganisationen dabei unterstützt werden, eigene Schulen "nach schwedischem System" zu gründen, wobei eine Prämie an die Schulen gezahlt werden soll, die benachteiligte Kinder aufnehmen. Die Koalition wird abwarten, bis der Bericht der Browne-Kommission über die Finanzierung der Universitäten auf dem Tisch liegt (den Liberaldemokraten steht es frei, sich im Parlament der Stimme zu enthalten, falls die Tories wie erwartet die Studiengebühren erhöhen wollen). Angekündigt wurden eine Reihe von Maßnahmen bei den Finanzen, dem Wohnungsbau, den Planungen in den Gemeinden bis hin zu ehrenamtlicher Arbeit, um "den Rückzug des überall hineinregierenden Staates" voranzutreiben, "das Dirigieren von oben zu beenden" und gesellschaftliches Engagement anzuregen, durch das "die Menschen sich zusammenfinden, um ihre Gemeinschaften bestmöglich zu gestalten". Die genannten Punkte gehören zur oft verspotteten, im Wahlkampf von den Tories thematisierten Big Society, einer großen Gesellschaft mit zivilen Werten (im Unterschied zum Big Government, dem übermächtigen Staat).

Politische Reformen und Neuausrichtung der Politik?

Ein weiteres Gebiet, auf dem die Koalition Bedeutsames versprochen hat, sind institutionelle Reformen. Zum Teil wurde die Initiative durch den Spesenskandal im Unterhaus ins Rollen gebracht, aber im größeren Rahmen spiegeln sich darin Befürchtungen wider, was das tief verwurzelte politische Desinteresse und die abschätzige Haltung der Wähler betrifft. Als Vize-Premier wurde Clegg die umfassende Verantwortung übertragen, politische Reformen einzuleiten, und schon kurz nach der Wahl gab er Pläne zur Einführung eines befristeten Parlaments, eines nach Verhältniswahlrecht gewählten Oberhauses, eines Rechtes der Wähler zum "Rückruf", zur Abwahl korrupter Abgeordneter, sowie eines Referendums über Veränderungen des Wahlsystems bekannt. Er machte geltend, dies werde "die einschneidendste Umstrukturierung in unserer Demokratie seit 1832", als der Great Reform Act (Gesetz zur Umstrukturierung der Wahlkreise) das Wahlrecht über die Klasse des Landadels hinaus ausdehnte.

Der interessanteste Vorschlag ist ein für Mai 2011 angesetztes Referendum darüber, ob Unterhauswahlen künftig nach dem Alternativen Wahlsystem abgehalten werden sollen. Paradoxerweise handelt es sich dabei um ein System, das keiner der Koalitionspartner favorisiert - die Tories wünschen sich die Beibehaltung des jetzigen Systems, die Liberaldemokraten die übertragbare Einzelstimmenabgabe. Doch ist es ein Kompromiss, der auf lange Sicht der Koalition in die Hände spielen könnte. Obwohl die Tories nur ein Referendum versprochen haben, nicht aber, für die Reform des Wahlsystems im Wahlkampf zu werben, könnte das System der übertragbaren Einzelstimme die Koalition zusammenschweißen, denn es würde den Konservativen erlauben, ihren Unterstützern zu empfehlen, ihre Zweitpräferenz den Liberaldemokraten zugutekommen zu lassen, und umgekehrt. Das würde in Einklang stehen mit der sich in Großbritannien herausbildenden Meinung, dass die Koalition den ernstzunehmenden historischen Versuch unternimmt, die Mitte-rechts ausgerichteten Liberalen wieder in die Mitte der Wählerschaft zu führen.

Cameron spricht vom Potential der Koalition, Probleme "durch Übereinstimmung in einer Reihe gemeinsamer Werte" zu lösen. Man kann heraushören, dass der Führer der Tories die politische Situation nutzt, um seine Partei in die liberale Mitte zu manövrieren. Bei der Unterstützung durch 57 liberaldemokratische Abgeordnete im Parlament muss sich Cameron nicht um den Widerstand des rechten Flügels der Konservativen sorgen, die in ähnlicher Weise wie bei Blair in den 1990er Jahren an den Rand gedrängt werden. Wenn es funktioniert, könnte es darauf hinauslaufen, dass die Koalition das vitale Zentrum der britischen Politik beherrschen wird.

Wird die Koalition Erfolg haben? Es gibt massive Hindernisse - nicht zuletzt die Tatsache, dass die meisten Tories gegen eine Reform des Wahlsystems zu Felde ziehen werden; Beobachter gehen davon aus, dass der Vorschlag im Referendum abgelehnt wird. Aber noch wichtiger werden der Haushaltsbericht und der Haushaltsplan sein. Die politischen und konjunkturellen Abläufe werden sich sehr schwierig gestalten, und die Koalition steht zwangsläufig unter dem Einfluss ihrer Folgen. Es sieht bereits so aus, als würden beide Parteien, besonders die Liberaldemokraten, den politischen Preis für ihr Sparprogramm zahlen: Ihre Popularität ist in Meinungsumfragen rasch gesunken. Ende September 2010 war der Rückhalt für die Liberaldemokraten in der Bevölkerung von 23% bei der Wahl auf 14% gefallen, während sich der für die Tories bei 43% hält.

Falls sich die Partnerschaft bewährt und sich die Wirtschaft erholt, stellt sich die Frage, ob die Koalitionspartner 2015 gegeneinander antreten oder sich möglicherweise dazu verleiten lassen, für die Wiederwahl der Koalition anzutreten. Ein Wahlbündnis zur gegenseitigen Unterstützung - eventuell unter dem Alternativen Wahlsystem - könnte sich als sinnvoll erweisen. Wenn dies einträfe, könnte sich die politische Neuausrichtung vom Mai 2010 als dauerhaft erweisen. Abgesehen davon beteuern beide Parteien, dass sie künftige Wahlen getrennt voneinander bestreiten wollen. Dabei gehen sie allerdings ein erhebliches Risiko ein, dass sie von der Wählerschaft abgestraft werden, die hinnehmen muss, dass man die öffentlichen Ausgaben innerhalb von vier Jahren radikal um ein Viertel kürzen will.

Wiedergeburt von Labour?

Es ist fraglich, ob Labour von der Situation profitieren kann. Kurz gesagt, sie kann es wahrscheinlich, solange sie nicht dieselben taktischen Fehler wie Anfang der 1980er Jahre begeht, als sie als Reaktion auf den Amtsverlust mit einem dramatischen Linksruck reagierte. Daraus erwuchs ein erbitterter parteiinterner Konflikt, der zur Abspaltung der Social Democratic Party führte, die sich schließlich mit der alten Liberal Party zu den Liberal and Social Democrats vereinigte, und zum berüchtigten linken Wahlprogramm der Labour-Partei von 1983, vom ehemaligen Minister Gerald Kaufmann sarkastisch als "ausführlichste Selbstmordankündigung in der Geschichte" betitelt. Daraus resultierte das schlechteste Wahlergebnis seit 1918.

Alle Zeichen weisen darauf hin, dass die Partei diese Erfahrung nicht noch einmal machen möchte. Nach dem Rücktritt Gordon Browns nahm Harriet Harman, die stellvertretende Parteivorsitzende, die Zügel der Partei in die Hand, während fünf ihrer Kollegen ihre Kandidatur für die Parteiführung bekundeten. Harman selbst kandidierte nicht, dafür aber der ehemalige Außenminister David Miliband, der als Favorit angesehen wurde. Zur allgemeinen Überraschung entschied sich auch sein jüngerer Bruder Ed, ehemals Energieminister, für eine Kandidatur, des Weiteren der ehemalige Schulminister Ed Balls, der ehemalige Gesundheitsminister Andy Burnham sowie die Abgeordnete Diane Abbot. Auch wenn es für die meisten Beobachter unerwartet gewesen sein mag, wurde die Kandidatur von Ed Miliband zum wichtigsten Motor des Wahlkampfes. Nach nervösem Start entwickelte der jüngere der Miliband-Brüder wachsendes Selbstbewusstsein und erntete Beifall und Unterstützung mit seiner Kritik an New Labour, indem er davon sprach, wie verheerend sich der Irakkrieg, der "Schlendrian" im Umgang mit Bürgerrechten und das Versagen bei einer gründlichen Regulierung der Banken für die Partei ausgewirkt habe.

David Miliband dagegen konzentrierte sich anfangs darauf, wie Labour das Bildungswesen und gesellschaftsfeindliches Verhalten aus dem Fokus verloren hatte, und versuchte stattdessen, bei politischen Reformen, Einwanderung und Wohnungsbau aufzuholen. Am Ende waren der ältere Miliband und andere Kandidaten in Anbetracht der Wahlkampfthemen von Ed gezwungen, ihre Botschaften neu zu definieren. Ed wurde zwar weithin eher als "linker" Kandidat angesehen, der die Interessen der Basisaktivisten und Gewerkschafter ansprach, aber das muss relativiert werden, denn seine Positionen waren nicht im entferntesten so radikal wie die von Michael Foot oder Tony Benn, der linken Kandidaten der frühen 1980er Jahre. Es gab zum Beispiel kein Bekenntnis zum umfassenden Staatseigentum oder gar zum Austritt aus der EU. Es gelang ihm jedoch, den Eindruck zu erwecken, dass er im Unterschied zu seinem Bruder etwas unbefleckter von der aus der Mode gekommenen New-Labour-Linie à la Blair war. Demgegenüber wurde der bei den Abgeordneten und Ministern wegen seiner Nähe zu Brown ohnehin nie populäre Ed Balls abgestraft. Die anderen Kandidaten waren Außenseiter.

Als die großen Gewerkschaften in Eds Richtung schwenkten, brachten Meinungsumfragen zutage, dass der Abstand zwischen den Brüdern zu knapp war, um den Wahlausgang vorherzusagen. Letzten Endes wurde am 25. September 2010 bei der Parteikonferenz in Manchester ein sehr knapper Sieg Eds über seinen älteren Bruder David bestätigt. Die Analyse des Wahlverhaltens erbrachte, dass der Sieg besonders auf die Unterstützung durch Mitglieder parteinaher Gewerkschafter zurückzuführen ist. David war tatsächlich bei den Abgeordneten und den gewöhnlichen Labour-Mitgliedern beliebter als Ed. Dieser wiederum beeilte sich, sich über das Etikett "Red Ed", das ihm einige Medien anheften wollten, lustig zu machen; er wurde nicht müde zu behaupten, die Partei werde unter seiner Führung die "geschröpfte Mitte" der Gesellschaft unter ihre Fittiche nehmen und in die Mitte der Wählerschaft rücken. Ebenso unerschütterlich wies er jeden Hinweis darauf von sich, dass er über Gebühr von den Gewerkschaften abhängig werden könnte, die eine wichtige Rolle dabei gespielt hatten, ihn die Wahl gewinnen zu lassen.

Der neue Labour-Führer sieht sich verschiedenen Herausforderungen gegenüber: Er muss die verletzten Egos der beträchtlichen Anhängerschaft seines Bruders pflegen und dafür sorgen, dass die Situation nicht aus dem Ruder gerät und sich zum schwärenden persönlichen und parteiinternen Zwist auswächst, wie es bei der schwierigen Beziehung zwischen Blair und Brown der Fall war. Ed Miliband muss auch bedenken, dass nichts darauf hindeutet, dass die britischen Wähler den Werten und den politischen Grundsätzen der Regierungen von Blair und Brown ablehnend gegenüberstehen. Vor allem aber muss er die Wählerschaft davon überzeugen, dass es Alternativen zum Vorgehen der Koalition, das Finanzloch zu stopfen, gibt - Alternativen, die dem öffentlichen Dienst und der Wirtschaft im Allgemeinen nicht so großen Schaden zufügen würden.

BA, MSc, PhD, geb. 1959; Professor of Politics, Sussex European Institute, University of Sussex, Falmer, Brighton BN1 9SN, England/UK. E-Mail Link: p.webb@sussex.ac.uk