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Ökonomie des Gesundheitswesens: Genese und Optimierung | Gesundheit | bpb.de

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Ökonomie des Gesundheitswesens: Genese und Optimierung

Stefan Felder

/ 14 Minuten zu lesen

Der Beitrag geht den Gründen für die steigenden Gesundheitsausgaben nach, fragt nach dem optimalen Mix von Staat und Markt und charakterisiert die optimale gesetzliche Krankenversicherung aus ökonomischer Sicht.

Einleitung

Unsere Welt ist (leider) kein Schlaraffenland: Dort hätte die ökonomische Theorie keine Daseinsberechtigung, weil alle Wünsche - etwa die sprichwörtlichen gebratenen Tauben - augenblicklich in Erfüllung gehen, und das ohne jede Anstrengung und eigenes Zutun. In unserer Welt begrenzter Ressourcen dagegen müssen Menschen, ob sie wollen oder nicht, Entscheidungen treffen, die Verzicht bedeuten. So sehr man dies aus ethischer Sicht vielleicht wünschen möchte, der Gesundheitssektor ist ebenfalls nicht im Schlaraffenland angesiedelt. Individuen in einer Gesellschaft müssen entscheiden, ob sie Mittel für ihre Gesundheit einsetzen oder doch lieber an anderer Stelle. Vor der gleichen Entscheidung stehen Akteure im Gesundheitssektor selbst: Sie müssen entscheiden, Mittel entweder für Klinik A oder B, für Vorsorgeprogramm C oder D, für Medikament E oder F zu verwenden.

Die ökonomische Theorie ist eine spezielle Verhaltenstheorie, die für Entscheidungen über die konkurrierende Verwendung knapper Ressourcen entwickelt wurde. Menschen stehen nicht nur "in der Wirtschaft", sondern bei nahezu allen Entscheidungen vor dem gleichen Grundproblem: Sie müssen auch bei Gesundheitsfragen eine Auswahl unter den vorhandenen Handlungsmöglichkeiten treffen. Die Diskussion über die Gesundheitsreform verdeutlicht zudem, dass auch die Gesellschaft insgesamt eine solche Auswahl treffen muss. Die ökonomische Theorie erlaubt es, die optimale Wahl im Hinblick auf individuelle und gesellschaftliche Ziele zu charakterisieren. Darüber hinaus kann sie Gesetzmäßigkeiten erklären, beispielsweise, weshalb wir immer mehr für Gesundheit ausgeben.

Mögliche Erklärungen für steigende Gesundheitsausgaben

Die Tabelle (siehe Tabelle der PDF-Version) zeigt die Entwicklung des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) für einige ausgewählte Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und den Zeitraum von 1970 bis 2005. Die USA erweisen sich als Spitzenreiter: Ihre Gesundheitsausgabenquote (Anteil am BIP) betrug im Jahre 2005 15,3 Prozent. Gegenüber dem Jahr 1970 ist dieser Anteil um 119 Prozent gestiegen und hat sich somit mehr als verdoppelt. Deutschland hat seine Quote seit 1970 um 78 Prozent gesteigert und liegt damit exakt im Durchschnitt aller berücksichtigten 22 OECD-Länder. Der aktuelle Wert in Deutschland liegt etwa auf dem Niveau der USA im Jahr 1990. In den vergangenen 15 Jahren war der Anstieg der Gesundheitsausgabenquote in Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern vergleichsweise gering. In absoluten Pro-Kopf-Größen nimmt Deutschland heute den zehnten Platz ein. Das jährliche Wachstum der Gesundheitsausgaben in den vergangenen 35 Jahren betrug in Deutschland 7,5 Prozent.

Insgesamt stellen wir für alle Länder der OECD einen erheblichen Anstieg der Gesundheitsausgaben fest. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Gesundheitssystem eher privatwirtschaftlich organisiert und prämienfinanziert ist wie in den USA, eher planwirtschaftlich funktioniert und steuerfinanziert ist wie im Vereinigten Königreich und in Kanada oder korporatistisch strukturiert und über Lohnbeiträge finanziert ist wie in Deutschland. Diese Tatsache weist eher auf fundamentale Determinanten der Nachfrage nach Gesundheit hin, die ihre Wirkung unabhängig von Organisation und Finanzierung der Bereitstellung entfalten. Sie zeigt im Übrigen auch die Grenzen staatlicher Regulierung im Gesundheitsbereich auf: Offenbar ist selbst das staatliche Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs nicht in der Lage, den Anstieg der Gesundheitsausgaben auf Dauer zu begrenzen.

Die ökonomische Theorie bietet mehrere mögliche Erklärungen für den ständigen Anstieg der Gesundheitsausgaben in der industrialisierten Welt. Prominent und immer wieder vertreten ist die These, dass die Alterung der Bevölkerung die Ausgaben im Gesundheitsbereich treibe. Wenn überhaupt, so vermag sie jedoch nur einen kleinen Anteil des Anstiegs zu erklären. Der Grund hierfür sind die hohen Kosten im Zusammenhang mit dem Sterben: Der Anstieg der Gesundheitsausgaben im Alter ist nicht so sehr dem Alter an sich zuzurechnen, sondern der Tatsache, dass das Zahlenverhältnis von Sterbenden und Überlebenden mit zunehmendem Alter steigt. Ein Anstieg der Lebenserwartung verschiebt die Todesfälle in ein immer höheres Alter und verdichtet sie gleichzeitig auf weniger Jahre, ohne dadurch die Gesamtausgaben für Gesundheit wesentlich zu beeinflussen.

Eine zweite Erklärung stützt sich auf die These, wonach die Nachfrage nach medizinischen Leistungen in erster Linie durch die Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhäuser, Pharmakonzerne) induziert wird. Beispielsweise lässt sich beobachten, dass die Zahl der Arztbesuche von Versicherten besonders in Regionen mit hoher Arztdichte hoch ist. Diese These ist nicht abwegig, aber sie kann bei Weitem nicht den dramatischen Anstieg der Gesundheitsausgaben über Jahrzehnte hinweg erklären.

Eine dritte Erklärungsmöglichkeit liegt im sogenannten Verhaltensrisiko der Versicherten aufgrund der umfassenden Versicherungsdeckung für die Kosten der medizinischen Versorgung. Einfach gesagt gehen wir zu häufig zum Arzt, weil unsere Zuzahlung zu den Kosten des Arztbesuchs so gering ist. Tatsächlich kennen wir aufgrund des Sachleistungsprinzips in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht einmal die Kosten unserer medizinischen Leistungsinanspruchnahme. Weshalb sollten wir uns also zurückhalten und nicht so oft zum Arzt gehen? Jedoch hat das Verhaltensrisiko wie auch die angebotsinduzierte Nachfrage immer schon bestanden und kann daher die Veränderung über die Zeit in den Gesundheitsausgaben ebenfalls nicht erklären.

Eine vierte Erklärung setzt bei Unterschieden in der Produktion zwischen der Gesundheits- und der übrigen Wirtschaft an. Während die Wirtschaft insgesamt durch eine stetig steigende Kapitalintensität der Produktion gekennzeichnet ist, sind in der Gesundheitswirtschaft dem Ersatz von Arbeitskräften durch Kapital enge Grenzen gesetzt. Da aufgrund der zunehmenden Kapitalintensität die Löhne steigen, müssen daher - so das Argument - die Kosten im Gesundheitsbereich stärker steigen als in der übrigen Wirtschaft. Diese These konnte empirisch bestätigt werden; sie erklärt aber nur maximal zehn Prozent des Gesamtanstiegs der Gesundheitsausgaben. Es wird geschätzt, dass die genannten vier Gründe zusammen etwa ein Viertel des säkularen Anstiegs der Gesundheitsausgaben erklären können.

Ist es schließlich der technische Fortschritt in der Medizin, der das Wachstum des Gesundheitssektors treibt? Unbefriedigend an dieser sehr verbreiteten Erklärung ist, dass sie die Präferenzen der Menschen nicht berücksichtigt. Richtig ist zwar, dass sich die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Medizin laufend verbessern. Aber ohne eine hinreichende Nachfrage nach der neuen Medizin könnte sich das Angebot letztlich nicht realisieren. Es muss also nachfrageseitige Gründe für die sprunghafte Entwicklung der Gesundheitsausgaben geben.

Höheres Einkommen, höhere Gesundheitsausgaben - aber auch mehr Gesundheit?

Das fehlende Glied in der Kette der Erklärung kann ein ökonomisches Standardmodell liefern: Falls der Grenznutzen des Konsums bei zunehmendem Einkommen hinreichend stark fällt, steigt die optimale Gesundheitsausgabenquote über die Zeit. Der Konsum wächst ebenfalls, aber weniger schnell als die Gesundheitsausgaben. Die Begründung hierfür ist ein mit dem Einkommen steigender Wert von Gesundheit und Leben. Wenn die Menschen reicher werden, kaufen sie vor allem mehr Gesundheit und ein längeres Leben und weniger zusätzlichen Konsum. Künftig weiter steigende Einkommen werden somit zunehmend für Gesundheit ausgegeben. Für die USA gibt es seriöse ökonomische Studien, die eine Ausgabenquote für Gesundheit von 40 Prozent im Jahre 2050 prognostizieren. Der treibende Faktor in dieser Schätzung ist die hohe Einkommenselastizität der Nachfrage nach Gesundheit.

Nun stellt sich allerdings die Frage, ob mehr Gesundheit und ein längeres Leben tatsächlich durch höhere Ausgaben erreicht werden können. Milton Friedman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, bezeichnete den Gesundheitssektor als das "schwarze Loch" der Volkswirtschaft: Dieser Sektor verschlinge immer mehr Ressourcen, ohne einen spürbaren Zuwachs an Output zu realisieren. Diese fatalistische Sichtweise, die einst von vielen Ökonomen geteilt wurde, ist mittlerweile aufgrund vieler neuer Untersuchungen der Einsicht gewichen, dass die zusätzlichen Ausgaben im Gesundheitsbereich die Lebenserwartung und die Lebensqualität der Bürger deutlich verbessert haben. Insbesondere neue Behandlungen von Erkrankungen am Anfang und am Ende der Lebensspanne eines Menschen haben zu einer deutlichen Reduktion der Sterblichkeit geführt und damit zu einer höheren Lebenserwartung beigetragen. Zudem revolutionieren neue Arzneimittel die Behandlung von psychisch Erkrankten und verbessern ihre Lebensqualität signifikant.

Die Säuglingssterblichkeit ist in der OECD in den vergangenen 35 Jahren von 21,4 auf 4,9 Todesfälle pro 1000 Lebendgeburten zurückgegangen. Zwischen der Gesundheitsausgabenquote und der Säuglingssterblichkeit in diesem Zeitraum existiert eine hohe Korrelation (0,73). Betrachtet man die Länder dagegen nur im Querschnitt des Jahres 2005, so lässt sich kein signifikanter negativer Zusammenhang mehr feststellen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der medizinische Fortschritt in der Neonatologie inzwischen offenbar an eine Grenze gestoßen ist, an der die Säuglingssterblichkeit nicht mehr wesentlich reduziert werden kann. Heutzutage betrifft der medizinisch-technische Fortschritt stärker das Alter und reduziert dort die Sterblichkeit: Zwischen 1970 und 2005 ist die Lebenserwartung in den OECD-Ländern im Schnitt von 71,9 auf 79,8 Jahre gestiegen. Die Korrelation zwischen der Gesundheitsausgabenquote und der Lebenserwartung für die 22 OECD-Länder in den Jahren 1970 und 2005 ist hoch (0,81): Zunehmende relative Ausgaben für Gesundheit sind mit einem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung einhergegangen. Der Zusammenhang hat sich allerdings über die Zeit auch hier abgeflacht. Dies ist ein Indiz dafür, dass eine weitere Reduktion der Sterblichkeit nur mit einem überproportionalen Ressourceneinsatz zu erreichen ist.

Für einen kausalen Zusammenhang zwischen Gesundheitsausgaben und Gesundheitszustand der Bevölkerung spricht auch die unterschiedliche Entwicklung der Lebenserwartung in Ost- und Westdeutschland vor und nach der deutschen Vereinigung. Zwischen 1980 und 2000 stieg die Lebenserwartung im gesamten (neuen) Bundesgebiet, wobei die Gewinne nach 1990 in den neuen Bundesländern wesentlich stärker ausfielen als in den alten. In den neuen Bundesländern waren die Zugewinne im Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung für beide Geschlechter um ein Vielfaches größer als im Jahrzehnt davor. Die damit einhergehende Konvergenz der Lebenserwartung zwischen Ost und West hält bis heute an. Die gewonnenen Lebensjahre sind vor allem ein Resultat der verbesserten medizinischen Versorgung in den östlichen Bundesländern. Insbesondere die Fortschritte bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben die Lebenserwartung beträchtlich erhöht.

Marktordnung im Gesundheitswesen - Steuerung durch Markt oder Staat?

Wenn man über Gesundheitsmärkte spricht, bildet die Sicht der Nachfrager von medizinischen Leistungen die normative Basis für eine Beurteilung. Dies bedeutet, dass alleiniger Referenzpunkt für ein Werturteil über die Institutionen des Gesundheitswesens letztlich die Krankenversicherten sind.

Der Markt für Gesundheitsleistungen weist allerdings Charakteristika auf, die ihn von anderen Märkten deutlich unterscheiden. Diese Besonderheiten lassen sich im Wesentlichen auf Informationsprobleme zurückführen. Patienten sind bei medizinischen Leistungen häufig nicht in der Lage, die Rolle eines souverän entscheidenden Konsumenten einzunehmen, etwa im bewusstlosen Zustand, in Todesangst oder mit starken Schmerzen. Doch selbst wenn Zeit für eine überlegte Auswahl vorhanden wäre, verfügen Patienten in aller Regel nicht über die notwendigen Informationen, Angebote zu vergleichen. Weder wissen sie, was in ihrem Fall die Therapie der Wahl wäre, noch können sie in den meisten Fällen weder vor noch nach Inanspruchnahme die Qualität der erbrachten Leistung beurteilen. Schließlich besteht für die meisten medizinischen Leistungen Versicherungsdeckung, so dass selbst für informierte Patienten keine Notwendigkeit bestünde, Preis und Leistung einer Therapie gegeneinander abzuwägen. Die Folge der zahlreichen Besonderheiten von Gesundheitsmärkten wäre, überließe man den Markt sich selbst, erhebliches Marktversagen.

Bei einer reinen Marktlösung müsste befürchtet werden, dass zu viele teure, nicht zielführende Leistungen minderer Qualität erbracht und den Versicherungen in Rechnung gestellt werden. Es gibt darum kaum Ökonomen, welche die grundsätzliche Notwendigkeit staatlicher Eingriffe auf Gesundheitsmärkten in Zweifel ziehen. Nötig ist, dass der Staat das Gesundheitswesen auf eine Art und Weise reguliert, die ein Marktergebnis entsprechend den Konsumentenpräferenzen hervorbringt. Markt oder Staat ist dabei ein falsches Gegensatzpaar; die Kritik, wo sie geübt wird, bezieht sich vielmehr auf die Art der staatlichen Rahmensetzung.

Die Regulierung des deutschen Gesundheitswesens verfolgt jedoch nicht nur Effizienzziele - die Beitragszahlenden erhalten Gesundheitsgüter in der gewünschten Menge und Qualität zu einem möglichst günstigen Preis -, sondern auch Gerechtigkeitsziele. Die Gerechtigkeitsziele auf Gesundheitsmärkten kann man folgendermaßen beschreiben: Der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen soll unabhängig vom Einkommen und insbesondere unabhängig vom individuellen Krankheitsrisiko möglich sein. Auch Kranken und finanziell schlecht Gestellten soll Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verschafft werden.

Die zur Durchsetzung von Effizienz- und Gerechtigkeitszielen vorgenommenen staatlichen Eingriffe bewirken, wie alle Regulierungen, leider nicht nur den gewünschten Effekt, sondern auch unerwünschte Nebenwirkungen. Patienten und Leistungserbringer gleichermaßen verhalten sich in einem staatlich regulierten Gesundheitswesen ganz anders, als sie es in einem marktwirtschaftlich gesteuerten Umfeld täten. Die gesundheitsökonomische Analyse erlaubt es, die staatlichen Eingriffe in ihrer tatsächlichen Wirkung zu beschreiben - entspricht die tatsächliche Wirkung der intendierten, welche unerwünschten Nebenwirkungen gibt es? - und gegebenenfalls alternative institutionelle Lösungen vorzuschlagen.

Korporatismus als grundlegender Ordnungsfaktor

Im deutschen Gesundheitswesen fällt die im Vergleich zu anderen Staaten außerordentlich große Anzahl der Sachwalter auf allen Ebenen auf. Mindestens drei staatliche Ebenen und die dazugehörigen Bürokratien, zahlreiche private und gesetzliche Krankenversicherungen (PKV und GKV), karitative, staatliche und private Leistungserbringer sowie ihre jeweiligen Standes- und Abrechnungsorganisationen fühlen sich legitimiert - und sind es zum großen Teil de jure auch -, im Auftrag und zum Wohle der Versicherten tätig zu werden. Die Marktordnung im Gesundheitssektor ist stark korporatistisch geprägt und orientiert sich damit an wirtschaftspolitischen Vorstellungen des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Der Staat versteht sich im Verhandlungsprozess um diese vielfältigen Interessen, bei dem die Konsumenten außen vor bleiben, als neutraler Moderator. Dabei ist es üblich, die Interessen aller Lobbygruppen als gleichermaßen berücksichtigenswert zu betrachten. Diese merkwürdige ordnungspolitische Sichtweise gilt für die Republik insgesamt, sie findet sich jedoch besonders ausgeprägt bei den politischen Bemühungen um Strukturreformen im Gesundheitssektor.

Die gegenwärtige Marktordnung räumt Vertretern der Leistungserbringer und Vertretern der Regionalpolitik weitgehende Mitspracherechte bei der Planung und Steuerung des Gesundheitswesens ein, so etwa bei Entscheidungen über die Kapazitäten im stationären Bereich. Beide Sachwalter betonen zwar in ihrem öffentlichen Auftreten immer ihre Rolle als Interessenvertreter der Patienten. Verschwiegen wird dabei jedoch, dass Leistungserbringer auch eigene Interessen haben, etwa - was nicht verwerflich ist - ein Interesse an einer möglichst hohen Entlohnung und einer sicheren Beschäftigung. Problematisch ist nur, dass diese Interessen nicht mit denen der Beitragszahlenden übereinstimmen. An der korporatistischen Grundverfassung des Gesundheitswesens ist aus ökonomischer Sicht auszusetzen, dass sie Wettbewerb nicht nur dort verhindert, wo er möglicherweise Effizienz- und Gerechtigkeitsziele behindert - auf der Ebene Leistungserbringer/Konsument -, sondern auch dort, wo er diesen Zielen in höchstem Maße dienlich wäre - zwischen den verschiedenen Leistungserbringern und zwischen den verschiedenen Versorgungssystemen.

Statt auf die Gemeinwohlverpflichtung der Verbände zu vertrauen, käme es darauf an, die Stellvertreter der Patienten von vornherein zielgenauer auszuwählen. Der Vorschlag der Gesundheitsökonomik für eine Strukturreform lautet daher, die Sachwalterfunktion zukünftig von den Leistungserbringern und der Regionalpolitik auf die Krankenkassen zu übertragen. Die grundlegende Idee dieses Vorschlages ist es, wettbewerbliche Steuerungsinstrumente dort einzusetzen, wo sie zu aus Beitragszahlendensicht gewünschten Resultaten führen, also im Verhältnis Leistungserbringer/Krankenkasse und im Verhältnis der Krankenversicherungen untereinander. Im Wettbewerb stehende Krankenkassen, die ein in Umfang und Qualität identisches Leistungspaket wie in der Gesetzlichen Krankenversicherung anbieten, hätten ein unmittelbares Interesse daran, wirksame Leistungen in guter Qualität und möglichst preiswert einzukaufen. Die Krankenkassen wären also - unter dem Druck knapper Mittel und steigender Beiträge - bestrebt, den Faktoreinsatz über eine Strukturplanung zu optimieren und auch möglichst günstig zu beziehen. Im Gegensatz zu den Patienten hätten die Krankenkassen als Sachwalter ihrer Versicherten die Möglichkeit, die vorhandene Evidenz zu erschließen und zu bewerten und auf diese Weise das Preis-Leistungs-Verhältnis der angebotenen Dienstleistungen einzuschätzen.

Eine solche alleinige Sachwalterrolle der Krankenkassen wäre ein Bruch mit der korporatistischen Grundverfassung des deutschen Gesundheitswesens, könnte aber vergleichsweise leicht herbeigeführt werden: Es genügte, den Sicherstellungsauftrag an die gesetzlichen Krankenkassen zu delegieren und den Zwang zu Kollektivverträgen zwischen den Kassen und den Spitzenverbänden der Leistungserbringer - seien es die kassenärztlichen Vereinigungen oder die Landeskrankenhausgesellschaften - aufzuheben. Dies bedeutete, dass die einzelne Krankenkasse zwar einem Zwang unterläge, die gesetzlich in Qualität und Umfang definierten Leistungen für ihre Versicherten einzukaufen, zu diesem Zweck aber nicht mehr mit jedem einzelnen in den Verbänden organisierten Leistungserbringer abrechnen müsste. Jede Krankenkasse könnte selbst entscheiden, mit welchem Leistungserbringer sie zu welchen Konditionen Verträge abschließt.

Die Vertragsfreiheit würde einen grundlegenden Strukturmangel des deutschen Gesundheitswesens beseitigen, weil die Verhandlungsmacht der Leistungsanbieter fortan durch einen Preiswettbewerb beschränkt wäre. Die Leistungserbringer im stationären oder ambulanten Sektor stünden untereinander nicht mehr länger nur in einem Qualitätswettbewerb, sondern auch in einer Konkurrenz um die günstigsten Preise. Eine solche Entwicklung wäre ein nachhaltiger Bruch mit den gewachsenen Strukturen der Verbändelandschaft und würde von den Verbänden der Leistungsanbieter sicherlich erbittert bekämpft. Dennoch ist der Abschied von der Verbänderepublik vielleicht weniger utopisch, als man meinen könnte. Wenn der Eindruck nicht täuscht, sind selbst die Nutznießer - in erster Linie die organisierten Leistungserbringer - mit den Resultaten der gegenwärtigen Marktordnung im Gesundheitswesen nicht mehr länger zufrieden. Die Ergebnisse, ausgehandelt von den eigenen Funktionären, werden von den Verbandsmitgliedern zunehmend in Frage gestellt. Wenn aber der Korporatismus nicht mehr länger in der Lage ist, eine einvernehmliche und insbesondere für alle Akteure verbindliche Lösung hervorzubringen, verliert er seine Raison d'être. Von dieser Erkenntnis ist es nur ein kleiner Schritt zum Verzicht auf den Kontrahierungszwang. Er wird der Politik umso leichter fallen, je deutlicher die Nachteile der gegenwärtigen Marktordnung in den Vordergrund treten.

Gesetzliche Krankenversicherung nach dem Geschmack des Ökonomen

Ein Vorschlag, der gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt, liegt in der Trennung zwischen einer sozial gestalteten Grundversicherung und individuell abgeschlossenen und finanzierten Zusatzverträgen. Der Bereich der Grundversicherung wäre für alle Bürgerinnen und Bürger obligatorisch und würde die Kosten für eine Grundversorgung in einem für alle verbindlichen Umfang decken. In diesem Bereich erfolgen Markteingriffe nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern auch mit dem Zweck, Gerechtigkeitsziele zu erreichen. Der Bereich der Zusatzversicherung diente dazu, den Mindestschutz je nach den individuellen Präferenzen nach oben anzupassen. Gerechtigkeitsziele würden in diesem Bereich nicht angestrebt. Eine solche Trennung hätte eine Reihe von Vorteilen.

  1. Die Abweichung der Zwangsversicherung von den individuellen Präferenzen wird geringer, da nur noch eine Grundversicherung vorgeschrieben würde. Die Bürgerinnen und Bürger hätten auf diese Weise die Wahl zwischen verschiedenen Versorgungssystemen, die sie ihren eigenen Bedürfnissen anpassen können. Die größere Wahlfreiheit bedeutet einen Effizienzgewinn.

  2. Die Grundversicherung bewirkte eine Konzentration der Transferzahlungen zur Erreichung von Gerechtigkeitszielen auf das Wesentliche, nämlich auf diejenigen Risiken, die individuell nicht tragbar sind.

  3. Die Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung würde aufgehoben. Es gibt keinen Grund, von einer Transferleistung, die im Rahmen der sozialen Grundversicherung vorgenommen wird, ausgerechnet die Bezieher hoher Einkommen auszunehmen. Ebenso wenig gibt es einen Grund, Menschen aufgrund einer bestimmten Einkommensgrenze den Abschluss einer Versicherung nach dem Kapitaldeckungsverfahren zu verwehren. Vielmehr könnten GKV und PKV grundsätzlich beide Vertragsarten anbieten - die soziale, obligatorische Grundversicherung und die freiwillige, individuell gestaltete Zusatzversicherung.

  4. Die Lücke zwischen dem medizinisch Machbaren und den im Rahmen der Grundversicherung zur Verfügung stehenden Mitteln würde immer größer werden. Eine Trennung zwischen Grund- und Zusatzversicherung würde diese nicht zu leugnende Tatsache transparent machen und die Möglichkeit eröffnen, individuellen Versicherungsschutz zu kaufen, bevor der Krankheitsfall eintritt.

Eine obligatorische Krankenversicherung mit gesetzlich vorgeschriebenem Umfang stellt immer einen Kompromiss zwischen konkurrierenden Zielen dar. Solange Menschen bezüglich ihrer individuellen Absicherung unterschiedliche Wünsche haben, wird ein solcher Kompromiss nie wohlfahrtsmaximierend sein. Die aufgrund von Gerechtigkeitserwägungen gewünschte Umverteilung kann demzufolge immer nur durch einen Verzicht auf Effizienz "erkauft" werden: je umfangreicher die obligatorische Deckung, umso mehr wird umverteilt, umso höher aber auch die Effizienzverluste durch das Verhaltensrisiko und überproportionale Transaktionskosten. Die Vorschläge der Gesundheitsökonomik laufen darauf hinaus, durch Abkehr von der Vollversicherung - Trennung zwischen Grund- und Zusatzversicherung, absolute und proportionale Zuzahlungen - die Effizienzverluste einzuschränken und gleichzeitig die Abweichung der kollektiven Lösung von den individuellen Präferenzen möglichst klein zu halten, ohne aber die Gerechtigkeitsziele bei den großen finanziellen Risiken im Rahmen der Grundversicherung aufzugeben.

Dr. rer. pol., geb. 1960; Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Gesundheitsökonomik an der Universität Duisburg-Essen, Schützenbahn 70, 45117 Essen. E-Mail Link: stefan.felder@uni-due.de