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Vom Umgang mit der Diktaturvergangenheit

Klaus Hart

/ 10 Minuten zu lesen

Während Argentinien große Fortschritte bei der Aufarbeitung seiner Diktaturvergangenheit macht, ist Brasilien weit davon entfernt. Die mangelnde Aufarbeitung begünstigt auch heutige Erscheinungen von institutioneller Gewalt.

Einleitung

In Lateinamerika liegt Brasilien, die größte Demokratie des Kontinents, bei der Aufklärung und Bestrafung von Verbrechen aus Zeiten der Diktatur noch weit zurück, während Nachbarstaaten auffällige Fortschritte erreichten. Nach Ansicht von Rechtsexperten sowie von Amnesty International hat die für Aktivisten des damaligen Regimes geltende Straflosigkeit gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung des brasilianischen Rechtsstaats. So wird auch die bedrückende Menschenrechtslage als direktes Erbe der nicht bewältigten Diktaturvergangenheit (1964-1985) angesehen.

Erst jüngst hat der Kampf der demokratischen Öffentlichkeit um eine angemessene Vergangenheitsbewältigung einen erneuten Rückschlag erlitten. Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte sich bis zum Ende seiner zweiten Amtsperiode Zeit gelassen, um im Dezember 2009 ein Dekret zu unterzeichnen, das die Schaffung einer Wahrheitskommission zur Aufklärung von Diktaturverbrechen vorsieht. Außerdem sollte ein Amnestiegesetz aufgehoben werden, dessen völkerrechtswidrige Auslegung es bisher unmöglich macht, berüchtigte Folteroffiziere oder Mörder von Diktaturgegnern zu bestrafen. Nicht zum ersten Mal kam es wegen dieser Problematik prompt zu einer Regierungskrise. Verteidigungsminister Nelson Jobim und die Kommandanten der Teilstreitkräfte reichten ihren Rücktritt ein - und waren mit dieser Taktik erfolgreich. Staatschef Lula hätte als militärischer Oberbefehlshaber die entsprechenden Posten sofort neu besetzen können, zog es jedoch vor, die Rücktrittsgesuche abzulehnen und eine Neuformulierung des Dekrets ganz im Sinne der Militärs vorzunehmen sowie Schlüsselbegriffe wie "politische Repression" zu streichen.

Überraschend gab auch Lulas Menschenrechtsstaatssekretär im Ministerrang, Paulo Vannuchi, nach, der immer wieder scharfe Kritik an alltäglichen Folterpraktiken und polizeilichen Mordkommandos übt. Vannuchi sagte zu, dass das Amnestiegesetz nicht angetastet werde und eine künftige Wahrheitskommission nicht gegen die Militärs gerichtet sei. Dass diese den Putsch von 1964 an dessen Jahrestag stets öffentlich als "Revolution" verteidigen und die Generalspräsidenten und deren Repressionsmethoden ausdrücklich würdigen, weist auf die besondere politische Situation in Brasilien auch unter der Lula-Regierung hin. So hätte das Präsidentendekret in seiner ursprünglichen Form vermutlich auch nicht die nötige Zustimmung des Nationalkongresses erhalten, in dem konservative und rechte Kräfte überwiegen.

José Sarney, der während der Diktaturjahrzehnte als Chef der Regimepartei ARENA fungierte, wurde 1985 erster demokratischer Staatspräsident, führt heute den brasilianischen Kongresssenat und damit de facto das gesamte Parlament. Lula, dessen Vize José Alencar ein Diktaturaktivist war, schloss Regierungsbündnisse mit dem konservativen und rechten Lager. Sein Nachfolger im Präsidentenpalast dürfte es genauso halten. Dies verringert die Chancen, dass endlich die geheimen Archive der Militärs restlos geöffnet werden, um die nach wie vor sehr dünne Faktenlage zu verbessern. Namhafte Menschenrechtsaktivisten wie der UNO-Berater Paulo Sérgio Pinheiro betonten nach der Dekret-Modifizierung, es gehöre nicht zur politischen Tradition Brasiliens, die historische Wahrheit klarzustellen. Staatschef Lula wurde zudem vorgeworfen, nunmehr die Diktaturgegner den Folterern, Mördern und Verantwortlichen für das "Verschwindenlassen" gleichzustellen und das Menschenrechtsdekret sinnentleert zu haben.

Kirche drängt auf Wahrheitskommission

Der Primas von Brasilien, Kardinal Geraldo Majella Agnelo erklärte, bis heute wüssten viele Brasilianerinnen und Brasilianer nicht, was mit ihren Angehörigen während der 21 Regimejahre geschehen sei. Nicht einmal Pensions- und Entschädigungsansprüche könnten daher geltend gemacht werden. Wenn die demokratischen Regierungen und selbst die jetzige einfach nicht handeln wollten, werfe das Fragen auf: "Hat man ein Interesse daran, bestimmte Personen für das Verschwindenlassen von Staatsbürgern nicht verantwortlich zu machen? Wollen die Streitkräfte nicht zulassen, dass noch ganz andere Verantwortlichkeiten bekannt werden?" Brasiliens Kirche hat ein spezielles Interesse an Wahrheitskommission und Geheimarchivöffnung - zahlreiche kirchliche Menschenrechtsaktivisten wurden ermordet, Geistliche entführt und zur Diskreditierung nackt neben Frauen fotografiert.

Da in Brasilien im Oktober 2010 Präsidentschaftswahlen stattfinden, sehen die einheimischen Politikexperten mittelfristig wenig Chancen für Fortschritte bei der Vergangenheitsbewältigung. Die Militärs, und mit ihnen die gesamte Rechte, haben damit die Gelegenheit, einen noch größeren Teil der Bevölkerung von ohnehin auffällig populären Argumenten zu überzeugen. Danach sei nicht hinnehmbar, nur die "Rechtsverletzungen" des Militärs, das damals "den Staat, Recht und Ordnung" verteidigt habe, zu untersuchen, jene der "bewaffneten terroristischen Gegner" aber einfach zu ignorieren. Das Amnestiegesetz, das vernünftigerweise für beide Seiten gelte, müsse daher in Kraft bleiben.

In- und ausländische Völkerrechtsexperten stellen indessen klar, dass der bewaffnete Widerstand gegen die durch einen Putsch an die Macht gelangten Militärs legal war und auch gemäß UN-Konventionen keineswegs als terroristisch eingestuft werden kann. Die Militärs seien auch gegen die nicht-militanten Regimegegner mit aller Härte und größtenteils außerhalb geltender Gesetze vorgegangen. Die eine Seite sei daher durchweg "bestraft" worden, ob durch Folter, Tötung, "Verschwindenlassen", Haft oder Exil, die andere dagegen bis heute überhaupt nicht. Wie hoch der Aufklärungsbedarf ist, zeigen die bemerkenswert niedrigen amtlichen bzw. halbamtlichen Opferzahlen. Danach seien durch Diktaturangehörige 376 Menschen getötet worden, durch den bewaffneten Widerstand 119.

Bruch internationaler Abkommen?

Der deutschstämmige Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert in São Paulo hält die Bestrafung von Diktaturverbrechern für unverzichtbar und hat deshalb 2008 sein eigenes Land sogar vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten in Washington angeprangert: "Der brasilianische Staat erfüllt auch seine internationalen Verpflichtungen nicht. Er kann Verbrechen gegen die Menschlichkeit gar nicht amnestieren - wie es in Brasilien aber geschehen ist. Wenn man jene davonkommen lässt, die gestern Verbrechen gegen die Menschenrechte begingen, und wenn man solche Taten sogar vertuscht, stärkt man jenen den Rücken, die heute im Staatsapparat Menschenrechte verletzen wollen. Man beschützt Mörder, Folterer, Vergewaltiger und Entführer aus der Zeit des Militärregimes. Leider gibt es in Brasilien die Überzeugung, dass man die Wahrheit verbergen müsse und dass es vorteilhafter sei, über alle diese Probleme nicht zu reden. Das ist eine Frage der Werte und der Kultur. Käme die Wahrheit heraus, müssten Biografien völlig umgeschrieben werden."

Der UN-Berichterstatter für Folter, Manfred Nowak aus Österreich, unterstützt ausdrücklich die Forderungen von Weichert, der eng mit dem spanischen Richter Baltasar Garzón zusammenarbeitet. Dieser hatte 1998 die Verhaftung von Chiles Ex-Diktator Pinochet angeordnet. "Was die Auslegung der brasilianischen Gesetze und die Verpflichtungen des brasilianischen Staates betrifft, stimme ich mit Garzón völlig überein", betont Weichert. Im brasilianischen Justizapparat vertritt er jedoch eine Minderheitsposition. Der Bundesstaatsanwalt sieht voraus, dass sich Brasilia womöglich schon in absehbarer Zeit vor internationalen Gerichtshöfen verantworten muss. Erste Anzeichen gibt es bereits. Die italienische Justiz hat Haftbefehl gegen drei brasilianische Militärs erlassen, die seinerzeit im Rahmen grenzüberschreitender Diktaturzusammenarbeit drei Italo-Argentinier an Buenos Aires auslieferten, wo sie für immer "verschwanden".

Amnesty International analysiert Brasiliens Diktaturerbe

Aus nachvollziehbaren Gründen vermeidet es Brasiliens Rechte, sich zu den fatalen Auswirkungen nicht bewältigter Diktaturvergangenheit auf den Entwicklungsgrad der heutigen Demokratie zu äußern. In- und ausländische Menschenrechtsorganisationen sowie frühere politische Gefangene tun dies dafür umso intensiver. Tim Cahill, Brasilienexperte von Amnesty International in London, bezeichnete Ende 2009 in São Paulo die besorgniserregende Menschenrechtslage des Tropenlandes als Diktaturerbe, überall im Staatsapparat treffe man auf Diktaturaktivisten. Straflosigkeit für Regimeverbrecher fördere heutige Straffreiheit: "Es wird weiter gefoltert und außergerichtlich exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft - und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Da wird also Früheres fortgesetzt - Brasilien ist in Lateinamerika bei der Vergangenheitsbewältigung am weitesten zurück. Das große Problem des Landes ist heute, dass der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat."

"Öffentliche Sicherheit" ist in Brasilien fast durchweg Aufgabe der Militärpolizei - ein Relikt der Militärdiktatur. Frühere politische Gefangene wie Ivan Seixas, der im einstigen Repressionszentrum von São Paulo heute ein "Memorial des Widerstands" leitet, weisen auf absurde, bizarre Zustände: "Jene, die mich in der Diktaturzeit barbarisch gefoltert haben, waren später in der Demokratie auf der Polizeischule die Folterlehrer. Auf den brasilianischen Polizeiwachen gehört Folter zum Alltag, mit den gleichen Methoden wie damals." Laut Seixas waren die Foltersäle von den Gefangenenzellen nicht akustisch isoliert. "Hatte man in den Repressionszentren jemanden totgefoltert oder schlichtweg exekutiert, warfen die Folterer den politischen Häftling nicht selten vor dem Gebäude auf die Straße, schossen gleichzeitig wie wild mit Platzpatronen in die Luft. Der Vorfall wurde fotografiert und offiziell so hingestellt, als hätte der Mann gerade die Armee- oder Polizeibasis bewaffnet angegriffen und sei dabei getötet worden - in legitimer Verteidigung. Unsere Folterer sagten dann immer selber, jetzt spielen wir mal wieder Theater." Grotesk wird es für Seixas, wenn er abends in den TV-Nachrichten den damaligen Chef des Folterzentrums von São Paulo und heutigen Kongresssenator Romeu Tuma an der Seite von Staatspräsident Lula wiedersieht. Tuma gehört heute zum Regierungsbündnis.

"Institutionalisierte Barbarei"

Regelmäßig befassen sich auch die Sozialwissenschaften mit den Folgen nicht bewältigter Diktaturvergangenheit. So wurde Ende 2009 in der brasilianischen Soziologie-Zeitschrift "Sociologia" in einer ausführlichen Studie konstatiert: "Die Praxis der Folter ist als Form institutioneller Gewalt im Alltag des Sicherheitsapparats weiter präsent und richtet sich besonders gegen die Armen." Frei Betto, Dominikanermönch und Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe, der einst zur Stadtguerilla gehörte, als "Terror-Mönch" gesucht und vier Jahre eingekerkert wurde, analysiert: "Gegen Verdächtige aus der Unterschicht wird heute nicht ermittelt, sondern man foltert sie, um Geständnisse zu erpressen. Viele bekennen sich daraufhin zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben und kommen deshalb für viele Jahre hinter Gitter." Durch Folter, so die katholische Gefangenenseelsorge, entstünden zudem falsche Zeugenaussagen, würden Unschuldige schwer belastet. Menschenrechts-Staatssekretär Vannuchi prangerte die hemmungslosen Aktionen der Todesschwadronen und die "institutionalisierte Barbarei" an. Bei den Todeskommandos bestehe eine enge Allianz zwischen Vertretern des Staates (agentes publicos) und Personen außerhalb des Staatsapparats.

Angesichts der über 55000 jährlich in Brasilien verübten Morde und einer Aufklärungsrate weit unter zehn Prozent wäre nach Vannuchis Einschätzungen ein öffentlicher Aufschrei durchaus verständlich gewesen. Dieser blieb indessen aus. Führende Intellektuelle sprechen von einer immensen Apathie und Passivität des Durchschnittsbrasilianers, was vor allem auf mangelnde Bildung zurückzuführen sei. Fast 60 Prozent der Brasilianer ab 15 Jahren sind gemäß den PISA-Kriterien funktionelle Analphabeten, schätzen Schulexperten. Das führt zu der beklemmenden Situation, dass gemäß seriösen Umfragen 82 Prozent der Landesbewohner über 16 Jahren noch nie etwas von den berüchtigten Ausnahmegesetzen ("AI-5": Ato Institucional Número Cinco von 1968) der Militärdiktatur gehört haben. Auch unter den Historikern hat das Umfrageergebnis Enttäuschung und Entsetzen ausgelöst. Es weise auf Entpolitisierung, ein armseliges Schulwesen und fehlendes geschichtliches Erinnerungsvermögen in Brasilien. Damit sei möglich, dass sich jemand, der eng mit der Diktatur kooperierte, heute als Demokrat ausgebe.

Die Diskussion um die Bestrafung von Diktaturverbrechern, gar über Menschenrechtsverletzungen von heute, geht daher an den allermeisten der über 190 Millionen Brasilianer völlig vorbei. Der renommierte Autor und Kolumnist Gilberto Dimenstein aus São Paulo sieht darin einen grundlegenden Unterschied zur Situation im benachbarten Argentinien. "Unser funktioneller Analphabetismus ist das Schlimme. Die Leute verstehen nicht, was sie im Radio hören, was in der Zeitung steht. Die meisten lesen ohnehin keine Zeitung. In Argentinien wird die Bevölkerung in Krisenzeiten gewöhnlich aktiv, weil das Bildungsniveau dort viel höher ist." 2009 hatte das Goethe-Institut São Paulo in der städtischen Rechtsfakultät zahlreiche hochkarätige lateinamerikanische Rechtsexperten, darunter auch Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert, zu einer einwöchigen öffentlichen Tagung über Vergangenheitsbewältigung versammelt. Die brasilianischen Medien jedoch ignorierten die Veranstaltung; in einem Saal mit rund 1000 Plätzen waren stets nur zwischen 15 und 50 besetzt. Dies spricht Bände.

Kontrast Argentinien

In Argentinien, mit weniger als einem Viertel der Bevölkerungszahl Brasiliens, macht die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit dagegen erstaunliche Fortschritte. Anfang 2010 ordnete Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner die Öffnung sämtlicher Geheimarchive der letzten Militärdiktatur (1976-1983) an - ausgenommen sind lediglich Dokumente über den Falklandkrieg. Die Staatschefin stellte ausdrücklich klar, damit die Verurteilung von Diktaturverbrechern erleichtern zu wollen. Denn seit ihr Mann und Amtsvorgänger Néstor Kirchner 2005 die Amnestiegesetze unter anderem wegen Nicht-Übereinstimmung mit internationalen Abkommen aufheben ließ, waren die Geheimarchive bereits zugänglich, jedoch nur per richterlicher Erlaubnis, die für jeden Sachverhalt einzeln beantragt werden musste. Diese bürokratische Hürde ist nunmehr gefallen. Die Kirchners machten zudem die Vergangenheitsbewältigung sowie die Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen zu einem Schwerpunkt ihrer Regierungsarbeit.

Brasilianische Politikwissenschaftler ziehen daher entsprechende Vergleiche: Anders als in Argentinien gebe es in Brasilien keine feste zivile demokratische Kontrolle über die Militärs. Bereits 1979, in Zeiten schärfster Repression, hätten sie das Gesetz zur Selbstamnestierung definiert und 1985 die Macht keineswegs als Unterlegene, Demoralisierte abgegeben, wie es in Argentinien geschehen war. Dort wurden die Amnestiegesetze erst nach der Diktatur während der Regierungszeit des ersten demokratischen Präsidenten Raúl Alfonsín erlassen. Cristina Fernández de Kirchner spricht klar von "Staatsterrorismus der Streitkräfte", was für das offizielle Brasilia mit Rücksicht auf das Militär nie infrage käme. In Brasilien bewegt man sich landesweit auf Autobahnen und Avenidas, die nach Generalspräsidenten und anderen hohen Diktaturoffizieren benannt sind - in Argentinien wurden diese teilweise sogar zu lebenslanger Haft verurteilt oder stehen vor Gericht. Lebenslänglich erhielt auch ein deutschstämmiger katholischer Priester, der frühere Polizeikaplan Christian von Wernich. Derzeit laufen Prozesse gegen die Ex-Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone sowie gegen 19 berüchtigte Folter-Militärs, darunter der Ex-Marinekapitän Alfredo Astiz, der als finsterste Symbolfigur der Repression gilt. Allen werden Entführung, Folter und Mord an Regimegegnern zur Last gelegt.

Laut amtlicher Angaben sind während der Diktaturjahre über 11000 Menschen getötet worden oder "verschwunden" - die argentinische Menschenrechtsbewegung spricht dagegen von etwa 30000. Dafür müssen sich gemäß neuester Angaben aus Buenos Aires bis zu 2500 Militärs vor Gericht verantworten. Ende 2009 hatte die argentinische Justiz von diesen bereits über 200 in Untersuchungshaft genommen. Anders als in Brasilien ist das öffentliche Interesse an der Problematik in Argentinien enorm, begünstigen der Politisierungsgrad der Bevölkerung und das allgemeine gesellschaftliche Klima die Geschichtsaufarbeitung sehr. Gerichtsverhandlungen werden gefilmt und sogar live im Fernsehen übertragen, Richtersprüche auf den Straßen mit Hupkonzerten gefeiert. Ausländische Expertinnen und Experten, darunter der spanische Richter Baltasar Garzón, stellen daher die Vergangenheitsbewältigung in Argentinien als beispielhaft heraus. Gemäß einer neuen vergleichenden Studie aus den USA ist in jenen Ländern, die Diktaturverbrechen bestraften, der Demokratisierungsgrad weit höher und die Polizeigewalt deutlich geringer. Wo dies nicht geschieht, ist danach die Nicht-Respektierung der Menschenrechte sowie das Gefühl von Straflosigkeit größer.

Geb. 1949; seit 1986 Brasilien-Korrespondent für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz; lebt in São Paulo.