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Vom Umgang mit Mehrsprachigkeiten

Volker Hinnenkamp

/ 15 Minuten zu lesen

Mehrsprachigkeit in Deutschland ist ein Politikum. Zu der Frage, ob Mehrsprachigkeit von Migranten ihre Integration fördert oder erschwert, gibt es auch in der Forschung unterschiedliche Ansichten.

Einleitung

Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist deutsch." Dieser Satz steht nicht in der Verfassung. Er ist nirgendwo festgeschrieben. Hingegen findet sich im Grundgesetz (Art. 3) einzig die Aussage "Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt oder bevorzugt werden." Sprachenrechte sind zum Teil in Abkommen zu anerkannten autochthonen (alteingesessenen) Minderheiten geregelt, etwa in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955. Auch im deutsch-deutschen Einigungsvertrag von 1990 wird in einer Protokollnotiz das Recht auf den Gebrauch der sorbischen Sprache (der Niederlausitzer Sorben) anerkannt. Erwähnenswert - weil umstritten - ist noch der Paragraph 23 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, in dem es heißt: "Die Amtssprache ist deutsch." Es gibt also nur wenige rechtliche Festlegungen zum Status von Deutsch im Verhältnis zu anderen Sprachen und den damit verbundenen Rechten und Pflichten ihrer Sprecherinnen und Sprecher.

Die Bundesrepublik Deutschland ist allerdings in mehrfacher Hinsicht mit dem Problem der Mehrsprachigkeit konfrontiert. Das führt zu großen Unsicherheiten über das Verhältnis des Deutschen als Mehrheitssprache gegenüber Menschen mit anderer Muttersprache. Auch wenn es keine gesicherten Zahlen gibt - rund neun Prozent der Bevölkerung haben einen ausländischen Pass -, so ist der Anteil derjenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, beträchtlich. Der Großteil davon geht auf die Einwanderung seit der Anwerbung sogenannter Gastarbeiter seit Mitte der 1950er Jahre zurück. Mit etwa zwei Millionen Muttersprachlern ist Türkisch dabei am stärksten vertreten.

Anders- und Mehrsprachigkeit ist in einem Land, dem die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin einen "monolingualen Habitus" vorhält, in vielerlei Weise problematisch. Von daher gab und gibt es immer wieder den Vorschlag, die deutsche Sprache im Grundgesetz festzuschreiben. Aufgrund der tatsächlichen Vielsprachigkeit in Deutschland könnte aber verfassungsmäßig genauso gut die Mehrsprachigkeit verankert werden. Was das jeweils für die sprachenrechtliche und sprachenpolitische Praxis bedeuten würde, muss ungeklärt bleiben. Aber die Probleme liegen auf der Hand: So sind zum Beispiel die meisten Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund immer noch Bildungsbenachteiligte. Für diese Tatsache sind viele Faktoren verantwortlich - aber Defizite im Deutschen sind wohl der meistgenannte.

Streitfall Zweisprachigkeit

Die sprachenpolitische Debatte um Einwanderung dreht sich größtenteils um den Stellenwert von bestimmten Sprachigkeitskonstellationen für und wider den Integrationsprozess: Das Verhältnis von mitgebrachten Sprachen bzw. Herkunftssprachen zur Mehrheitssprache Deutsch ist ein leidenschaftlich und höchst kontrovers diskutiertes Thema, gar ein "Streitfall". Auf der einen Seite stehen die Verfechter einer Sprachpolitik, welche die Mehrsprachigkeit über die reine Anerkennung hinaus auch instrumentell für eine wichtige Ressource mit großem Potenzial halten, das im Rahmen einer einsprachig fixierten Gesellschaft systematisch an seiner Entfaltung gehindert wird; auf der anderen Seite stehen die Befürworter einer forcierten Eingliederungspraxis (Assimilation) über die Förderung der Mehrheitensprache, wobei die Herkunftssprachen als hinderlich bzw. keinesfalls als "Kapital" gesehen werden: "In keinem Fall gibt es für die multiple Inklusion im Vergleich zur Assimilation eine Prämie auf dem Arbeitsmarkt (...). Die zur Zweitsprache zusätzliche Beherrschung der Muttersprache (...) bringt auf dem Arbeitsmarkt offenbar so gut wie nichts." Der Urheber dieses Zitats, Hartmut Esser, ist ein typischer Vertreter erklärender Soziologie, dem es um die statistische Verallgemeinerbarkeit und die systematische Prüfung kausaler Zusammenhänge geht. Er stützt sich dabei auf die jährlich erhobenen Daten des SOEP (Socio-oeconomisches Panel). Gogolin und andere wiederum greifen sprachenpolitische und Bildungstraditionen auf, setzen sich mit Ideologien, Interessen und Machtkonstellationen von "Sprachigkeit" auseinander, blicken auf Modellversuche und Fallanalysen.

Ich möchte im Folgenden vor allem soziolinguistische Aspekte der Mehrsprachigkeitsproblematik in den Blick nehmen. Zur Debatte um die Rolle der Mehrsprachigkeit ließe sich zunächst die weniger instrumentelle oder effektivitätsorientierte Frage stellen, über welches scheinbar so besondere Gut eigentlich gestritten wird. Denn mit Blick auf die Sprachigkeitszustände weltweit ist Mehrsprachigkeit zunächst einmal der Normalfall.

Die Welt ist mehrsprachig

Ab wann gilt ein Individuum, eine Gesellschaft als zwei- oder mehrsprachig? Die Wissenschaft ist sich hier nicht einig, auch wenn anerkannt ist, dass die meisten Menschen zwei- und mehrsprachig sind (allerdings mit unterschiedlichen Schätzungen über den genauen Anteil, der zwischen 60 und 75 Prozent liegen dürfte). Es gibt dazu keine klaren Aussagen, weil erstens nicht klar ist, wie viele Sprachen in der Welt überhaupt existieren; zweitens können Sprachen nicht einfach gezählt werden; drittens ist unklar, wo die Grenze zwischen Ein-, Zwei- und Mehrsprachigkeit liegt.

Ob man eine Sprache als selbstständig zählt oder einer anderen Sprache als Dialekt zuordnet, ist letztendlich willkürlich. Der meist mühselige Prozess der Standardisierung von Sprachen hat sich in historischen Prozessen herauskristallisiert. In Europa hat sich ein Verständnis von Sprache entwickelt, das zumeist identisch mit Nationalsprache ist. Daneben werden Sprachen von Minderheiten nur als Zweitsprachen toleriert. Dennoch gilt Vielsprachigkeit auch für alle europäischen Länder. Je nach Zählweise gibt es zwischen 5000 und 6800 Sprachen auf der Welt. Bei etwa 200 Staaten (die UNO hat 192 Mitgliedstaaten) verteilt sich im Durchschnitt also die 20 bis 30-fache Menge an Sprachen auf die Länder. Andererseits decken 100 Großsprachen gut 90 Prozent der Weltbevölkerung ab. Diese hegemoniale Tendenz nimmt weiter zu. Der weitaus größte Teil der Sprachen wird von Gruppen von weniger als einer Million Menschen gesprochen, wobei viele Sprachen über weniger als 1000 Sprecher verfügen. Selbst für Deutschland sind 69 Sprachen indexiert - Migrantensprachen immer eingeschlossen.

Es gibt individuelle und gesellschaftliche Zwei- und Mehrsprachigkeit; mehrsprachige Individuen leben nicht unbedingt in einer mehrsprachigen Gesellschaft; letztere besagt noch nicht, dass die Gesellschaftsmitglieder zwei- oder mehrsprachig sind. Zwei- und Mehrsprachigkeit kann mündlich und schriftlich zum Ausdruck kommen, sie kann aktiv oder auch nur passiv sein.

Soziolinguistik der Mehrsprachigkeit

Ein soziolinguistisches Interesse an gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit gilt unter anderem der Frage, welche Sprache als Nationalsprache dienen soll oder welche Sprachen institutionell gefördert werden sollen. In Gesellschaften mit vielen allochthonen (zugewanderten) Sprachgruppen bedeutet dies die Wahl zwischen zu fördernder Mehrsprachigkeit oder deren Aufgabe zu Gunsten der Mehrheitssprache. Die Soziolinguistik erforscht die gesellschaftlichen und interaktiven Funktionen von Mehrsprachigkeit, was sich in der folgenden Frage zusammenfassen ließe: "Wer spricht wann wem gegenüber welche Sprache und zu welchem Zweck?" Dies bezieht sich sowohl auf Individuen als auch auf gesellschaftliche Gruppen. In der neueren Forschung zur Sprachwahl stehen Fragen zur interaktiven Funktion der jeweils verwendeten Sprache bzw. Sprachvarietät im Vordergrund sowie nach dem Zusammenhang von Identität und Sprachwahl.

Der dänische Soziolinguist Jens Normann JØrgensen ist der Auffassung (und mit ihm viele andere), dass die sprachpolitischen Verdikte zu Mehrsprachigkeit allesamt einen zu kurz gegriffenen Begriff von Mehrsprachigkeit zu Grunde legen, der sich nie vom Maximalismus verabschiedet habe, dass wahrer Bilingualismus "die Beherrschung zweier Sprachen wie Muttersprachen" bedeute. JØrgensen bezeichnet diese herkömmliche Auffassung in Anlehnung an die problematische Etikettierung einer "doppelseitigen Halbsprachigkeit" als die doppelte Monolingualismusnorm: "Menschen, die zwei Sprachen beherrschen, werden zum gegebenen Zeitpunkt jeweils die eine und nur die eine Sprache verwenden; und dabei werden sie die jeweilige Sprache in einer Weise nutzen, die sich im Prinzip nicht davon unterscheidet wie Einsprachige diese Sprache nutzen." Nur einer kleinen privilegierten Bildungsschicht in der Welt ist das möglich. Dies bei Menschen zum Maßstab zu erheben, die zum Beispiel durch Migration oder Flucht gezwungen sind, Sprachen dazuzulernen, ist vermessen.

Eine Erweiterung sieht JØrgensen in der integrierten Bilingualismusnorm: "Menschen, die zwei Sprachen beherrschen, werden ihre ganze linguistische Kompetenz in zwei verschiedenen Sprachen zum jeweils gegebenen Zeitpunkt auf die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gesprächs ausrichten, und dabei auch die linguistischen Fertigkeiten der Gesprächspartner berücksichtigen." Dies geht auf die Realität von face-to-face-Interaktionen ein, in denen mehrsprachige Akteure aus denselben soziolinguistischen Gründen, mit denen sie auch ein einsprachiges Gespräch führen, die unterschiedlichen Sprachen zum Einsatz bringen. Die Polylingualismusnorm schließlich geht noch einen Schritt weiter: "Sprachbenutzer setzen alle zur Verfügung stehenden linguistischen Mittel ein, um ihre kommunikativen Ziele so gut wie möglich zu erreichen, auch unabhängig davon, wie gut sie die betreffenden Sprachen beherrschen; dabei nehmen die Sprachbenutzer durchaus in Kauf - ja nutzen es sogar aus -, dass bestimmte sprachliche Merkmale als nicht zueinander passend empfunden werden."

In dieser Konzeptualisierung umfasst Mehrsprachigkeit ein weites Spektrum von Kompetenzen oder besser: Sprachigkeitskonstellationen. Festschreibungen, wie eine nützliche oder effektive Mehrsprachigkeit auszusehen hat, sind demnach künstlich. Ein Teil der soziolinguistischen Mehrsprachigkeitsforschung arbeitet im Rahmen der Kommunikationsethnografie oder der Interaktionalen Soziolinguistik. Diese "richtet sich auf die Erfassung des engen Zusammenspiels zwischen Sprache, Gesellschaft, Kultur und kommunikative Verschiedenheit", und ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Akteure Sprachigkeit verwenden, um ihre kommunikativen Ziele in typischen Alltagssituationen (real life situations) zu erreichen. Dabei stellen sich Sinn und Bedeutungen nicht automatisch ein, sondern werden vor dem Hintergrund lebensweltlicher Annahmen stetig ausgehandelt (negotiation of shared interpretations) - es liegt auf der Hand, dass dem Alternieren zwischen Sprachen (codeswitching) dabei eine große Rolle zukommt.

Zwei Stichwörter sind hier besonders hervorzuheben: real life situations, also eine Empirie situierter Sprachverwendung, und negotiation, das interaktive Aushandeln von Bedeutungen. Diese Aushandlungsprozesse finden auf allen Ebenen der komplexen Interaktionsstruktur statt; sie sind zumeist unausgesprochen und schaffen die jeweils bedeutsamen Handlungskontexte, auf die sich die Akteure ja irgendwie abstimmen müssen, um sich zu verstehen. Die Verwendung von verschiedenen Sprachen und auch Sprachvarietäten sind Teil dieses Aushandlungsprozesses: "Jedes Mal, wenn wir etwas in der einen Sprache sagen, das wir vielleicht auch in einer anderen hätten sagen können, stellen wir eine Verbindung her zu Menschen, zu Situationen, zu Machtkonstellationen aus unserer eigenen Geschichte vergangener Interaktionen. Gleichzeitig drücken wir dieser Geschichte und den beteiligten Menschen und Sprachen unseren eigenen Stempel auf. Es ist die Sprachwahl, mit der wir Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit und persönlicher Beziehungen aufrecht erhalten oder ändern; es ist die Sprachwahl, mit der wir uns und die Anderen im Rahmen politisch-ökonomischer und historischer Kontexte konstruieren und definieren."

Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

Je mehr gelebte kommunikative Welten mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in den Blick einbezogen werden, umso mehr verlieren starre Begrifflichkeiten und variablenabhängige Kausalzusammenhänge ihre Bedeutung, und es treten differenzierte, interaktionsbezogene Untersuchungsergebnisse an ihre Stelle. Als "funktional" kann diese Art von Mehrsprachigkeit also dann bezeichnet werden, wenn sie aufgaben- und kompetenzspezifisch und nicht als von außen vorgeschrieben, also "präskriptiv" eingesetzt wird.

Ich will im Folgenden eine Sequenz eines Sprechers aus einem mehrsprachigen (deutsch-türkischen) Gespräch vorstellen, in der die lokalen Funktionen des codeswitching deutlich werden:

Indim, Sema'yi ari yom baki yom. Bi bakti m Matthias'i diyor: "Hey, kannsch du mi' mitnehmen?" Is'n Freund von mir, mit dem ich früher inner Klasse war. "He, kannschte mi' mitnehmen?", diyo, "I hab niemand", diyo, "sonst muss ich mit'm Bus oder mit der U-Bahn (...)." In dieser Sequenz wechselt (switcht) der Erzähler in dem Moment vom Türkischen ins Deutsche, als er seinen alten Schulfreund Matthias zitiert. Er gibt ihm sozusagen seine authentische Stimme. Diese Zitate sind mit dem türkischen Verb diyor bzw. diyo (er sagt) eingeklammert. Gleichzeitig wechselt er auch ins erzählerische Präsens und leiht seinem Freund die dialektale (schwäbische) Stimme: "Kannschte mi' mitnehmen (...) I hab niemand". Bei der Erläuterung in Deutsch, woher er Matthias kennt ("Is'n Freund von mir"), handelt es sich um eine Qualifizierung des Gesagten bzw. des eingeführten neuen Protagonisten. Da es sich um eine Nebensequenz der Erzählung handelt, wird sie in Deutsch wiedergegeben. Die Haupterzählung geht auf Türkisch weiter. Gleichzeitig wird in dieser Nebensequenz kein Schwäbisch mehr gesprochen und steht so in Kontrast zur wörtlichen Rede.

Diese Sequenz ist ein kleiner Ausschnitt aus einem über halbstündigen Gespräch, in dem alle beteiligten Sprecher zwischen Sprachen und zwischen Varietäten hin und her wechseln. In der kleinen Beispielsequenz zeigt der Sprecher, wie er zwei Sprachen und unterschiedliche Varietäten (Schwäbisch, Hochdeutsch; türkische Umgangssprache) einsetzt, um seine kommunikativen Intentionen differenziert und gleichzeitig verschiedene Zugehörigkeiten auszudrücken. Hier handelt es sich im Sinne von JØrgensen um eine Spielart der integrierten Bilingualismusnorm.

Polylinguale Sprachbasteleien

Sprache hat viele Funktionen, auch expressiv-performative und poetische. In meinen Untersuchungen von polylingualen Jugendlichen bin ich auch immer wieder auf spontane - mitunter dichterische - Sprachbasteleien gestoßen. Dabei wird das Potenzial aller zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten genutzt - JØrgensens Polylingualismusnorm. Dazu gehören neben Stilisierungen, Verdrehungen und Verulkungen anderer Sprachen und Varietäten (z.B. Imitationen von "Gastarbeiterdeutsch", amerikanischem Akzent u.a.), Zitate aus den Medien, vor allem aber auch das Ausschöpfen von Mehrdeutigkeiten bei Sprachähnlichkeiten von Deutsch und Türkisch und witzige deutsch-türkische Kombinationen, wie im folgenden Beispiel:

Wolfgang adi Wolfgang
Wolfgang Wolf'un oğlu Molf
Wolfgang Wolf'un oğlu Molfgang
Wolfgang Wolf'un oğlu in Wolfsburg
Adam drei mal Wolf oldu Doppelwolf
Ama Wolfsburg'da oynuyor
Wolfgang oynuyor ama wo wo Diese Reihung entstand im Rahmen eines kleinen verbalen Austausches von zwei 15-Jährigen. Deutlich kann man das Spiel mit "o" und dunklen Lauten (o, a) sehen; deutlich auch die türkischen Verdopplungen mit "m" im Anlaut: "Wolfgang Molfgang", was so viel wie "Wolfgang usw." heißt. Bei einer anderen Gelegenheit beispielsweise wird aus hava (Wetter, Luft) der rhythmische Abzählvers "Bir sana bi hava / bir sana bi hava" ("Einen für dich, einen in die Luft / Einen für dich, einen in die Luft"), was zur "Hava Ana", der "Mutter Eva", führt, um dann schließlich ganz profan in "Havanna Zigarre" übergeleitet zu werden.

Ich nenne diese Spiele und andere Performances "virtuos", weil in ihnen nicht nur die poetische Funktion im Vordergrund steht, denn das teilen sie zweifelsohne mit der Spontanpoesie und den Wortspielereien anderer Kinder und Jugendlicher. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese Sprachspielereien all die ihnen zur Verfügung stehenden kommunikativen Elemente souverän als Ressource ihrer Polylingualität nutzen. Die Sprachspieler zeigen dabei ein hohes normatives Bewusstsein für Sprache und Varietäten, sowie Wissen über Wortbildungsprozesse.

Weiterhin könnte man aus den Daten über polylinguale Jugendliche Rückschlüsse auf die Sprachaneignungsgeschichte dieser Jugendlichen außerhalb des Schulunterrichts ziehen und stieße auf ein bislang wenig beachtetes Kompetenzprofil: Die Fähigkeit, Sprachen bei jeder Gelegenheit zu lernen, auf der Straße, aus den Medien, in alltäglichen Kommunikationssituationen - und vielleicht selbst noch in der Schule.

Fazit

Mehrsprachigkeit in Deutschland ist wie ein Flickenteppich mit vielen Löchern. Die Löcher sind dabei die Zonen der Einsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist aber auch ein politischer Affront, persönlich wie institutionell; sie fordert ihre Anerkennung und ihre Normalisierung. Sie kann nicht allein auf ihren Integrations- oder Mobilitätsnutzen reduziert werden, also nicht rein instrumentell definiert werden. Eine solche Sichtweise würde eine einseitige Bringschuld unterstellen und ein reines Nutzenkalkül beinhalten, das die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für ihre Akteure übersieht, da es Fragen der Identität als auch sprachökologische Fragen ethnolinguistischer Vitalität ignoriert.

Doch zunächst einmal gilt es, eine nicht-essentialistische Sicht auf Sprache und auf Mehrsprachigkeit bzw. die vielen Arten der Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Der österreichische Linguist und Mehrsprachigkeitsexperte Mario Wandruszka hat bereits vor über dreißig Jahren folgende Erkenntnis formuliert: "Für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Es gibt nie und nirgends ein perfektes, homogenes Monosystem, immer und überall nur unvollkommene heterogene Polysysteme. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist nicht das der vollkommenen Einsprachigkeit, sondern im Gegenteil das der unvollkommenen Mehrsprachigkeit und der mehrsprachigen Unvollkommenheit." Es scheint noch ein langer Weg zu sein, bis sich diese Erkenntnis entgegen abstrakten Maximalismen als Grundlage von sprachpolitischen Erwägungen durchsetzen kann.

Eingangs habe ich aus dem Grundgesetz zitiert: "Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt oder bevorzugt werden." Wenn wir nun auf den "Streitfall" Zweisprachigkeit schauen, können wir mit Blick auf die nunmehr kritische und differenzierte Sichtweise von Mehrsprachigkeiten - hier würde ich gerne den Plural benutzen - wohl kaum Deutsch als einzigen anerkennungswürdigen Dreh- und Angelpunkt für die Förderung von Integration und Mobilität innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft betrachten. Auch wenn dies vielleicht im Sinne der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung, der Bildungsinstitutionen und eines Großteils des Arbeitsmarktes wäre, so entspräche es weder einem grundgesetzlich festgeschriebenen politischen Ethos noch der Anerkennung von Rechten jenseits eines vordergründigen Nutzenkalküls.

Zudem bleibt ein Aspekt bislang völlig unterbewertet: Potenziale von Mehrsprachigkeit sind bislang immer nur in einem direkten Abbildungsverhältnis zu seinen unmittelbaren Verwendungszwecken betrachtet worden, aber so wie es nach Erkenntnissen der Neurobiologie einen Zusammenhang zwischen dem Erklettern von Bäumen und dem Verstehen von mathematischen Aufgaben gibt, so könnten auch polylinguale Kompetenzen ganz andere Potenziale beinhalten. Anerkennung von vielsprachigen Realitäten, wie immer unvollkommen, kann den Weg für neue, bislang ungedachte Zusammenhänge eröffnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So heißt es in der Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter II, 2: "Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen am Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden." Online: www. wahlrecht.de/doku/doku/19550329.htm (15. 1. 2010).

  2. Vgl. Einigungsvertrag, Anlage I, Kap. III, Sachgebiet A, Abschnitt III, Nr. 1.

  3. Online: www.gesetze-im-internet.de/vwvfg/__23.ht ml (15. 1. 2010).

  4. Ingrid Gogolin, Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, Münster-New York 20082.

  5. Vgl. dies./Ursula Neumann (Hrsg.), Streitfall Zweisprachigkeit - The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009.

  6. Vgl. z.B. Bernd Meyer, Nutzung der Mehrsprachigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund, Expertise für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Hamburg 2008, online: www.integration-in- deutschland.de/cln_101/nn_282954/
    SharedDocs/Anla gen/DE/Integration/
    Publikationen/Sonstige/
    Expertis eMehrsprachigkeit.html (15. 1. 2010).

  7. Vgl. neben vielen Beiträgen in I. Gogolin/U. Neumann (Anm. 5) auch Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz u.a. (Hrsg.), Migration und sprachliche Bildung, Münster 2005 sowie weitere Schriften aus der Reihe "Interkulturelle Bildungsforschung".

  8. Hartmut Esser, Der Streit um die Zweisprachigkeit: Was bringt die Bilingualität?, in: I. Gogolin/U. Neumann (Anm. 5), S. 84. Mit "multipler Inklusion" meint Esser das jeweils gleichzeitige Auftreten ethnischer und aufnahmelandbezogener Eigenschaften wie Bilingualität oder ethnisch gemischte Identitäten. Vgl. ebd., S. 82.

  9. Vgl. ders., Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten, Frankfurt/M.-New York 2006.

  10. Vgl. Peter Burke, Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit, Berlin 2006.

  11. Vgl. Lewis M. Paul (ed.), Ethnologue. Languages of the World, Dallas 200916, Statistical Summaries, online: www.ethnologue.com/ethno_docs/
    distribution.asp?b y=country (15. 1. 2010).

  12. Vgl. Daniel Nettle/Suzanne Romaine, Vanishing Voices. The Extinction of the World's Languages, Oxford 2000.

  13. Vgl. L. M. Paul (Anm. 11).

  14. Schon die Begrifflichkeit ist mitunter verwirrend: Einsprachige werden auch monolingual, Zweisprachige bilingual und Mehrsprachige auch vielsprachig oder multilingual genannt. Zweisprachigkeit, Bilingualität, Bilinguismus, Mehrsprachigkeit, Multilingualität etc. werden in der Regel alternierend verwendet. In Konkurrenz dazu steht der neuere Begriff "polylingual".

  15. Erweiterte Fassung nach Joshua Fishman, Sociolinguistics. A Brief Introduction, Rowley, MA 1970.

  16. Vgl. exemplarisch dazu Peter Auer (ed.), Code-Switching in Conversation: Language, Interaction and Identity, London 1998.

  17. Vgl. Jens Normann JØrgensen, Introduction: Polylingual Languaging Around and Among Children and Adolescents, in: International Journal of Multilingualism, 5 (2008) 3, S. 161 - 176.

  18. Leonard Bloomfield, Language, New York 1933, S. 55 (alle Übersetzungen: VH).

  19. Vgl. Volker Hinnenkamp, Semilingualism, Double Monolingualism and Blurred Genres - On (Not) Speaking a Legitimate Language, in: Migration. Onlinejournal für Sozialwissenschaften und ihre Didaktik, (2005) 1, online: www.sowi-onlinejournal.de/2005 - 1/index.html (15. 1. 2010).

  20. J. N. JØrgensen (Anm. 17), S. 163.

  21. Ebd.

  22. Ebd.

  23. Vgl. Dell Hymes, Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation, Frankfurt/M., 1979; Volker Hinnenkamp, Interaktionale Soziolinguistik und Interkulturelle Kommunikation. Gesprächsmanagement zwischen Deutschen und Türken, Tübingen 1989; Inken Keim, Interaktionale Soziolinguistik und kommunikative, soziale Stilistik, in: Sociolinguistica, 20 (2006), S. 70 - 91.

  24. I. Keim (Anm. 23), S. 70.

  25. John J. Gumperz, On Interactional Sociolinguistic Method, in Srikant Sarangi/Celia Roberts (eds.), Talk, Work and Institutional Order, Berlin-New York 1999, S. 454.

  26. Li Wei, Dimensions of Bilingualism, in: ders. (ed.), The Bilingualism Reader, London-New York 2000, S. 15.

  27. Vgl. Suzanne Romaine, Sprachmischung und Purismus: Sprich mir nicht vom Mischmasch., in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, (1986) 62, S. 92 - 107.

  28. Vgl. Volker Hinnenkamp, "Zwei zu bir miydi?" - Mischsprachliche Varietäten von Migrantenjugendlichen im Hybriditätsdiskurs, in: Volker Hinnenkamp/Katharina Meng (Hrsg.), Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis, Tübingen 2005, S. 61f.

  29. Es handelt sich um ein Transkript aus der Erforschung des Gemischtsprechens von Jugendlichen mit Migrationshintergrund; vgl. ebd. Die Verschriftlichung berücksichtigt die jeweils umgangssprachliche Sprechweise im Türkischen und Deutschen. Dank für die Unterstützung bei der Datenbeschaffung geht an Tuna Döger.

  30. Übersetzung (Türkische Elemente kursiv): Bin ausgestiegen, bin los nach Sema schauen. Auf einmal seh ich Matthias, sagt er: "Hey, kannsch du mi' mitnehmen?" Is'n Freund von mir, mit dem ich früher inner Klasse war. "He, kannschte mi' mitnehmen?", sagt er, "I hab niemand", sagt er, "sonst muss ich mit'm Bus oder mit der U-Bahn (...)."

  31. Übersetzung: Wolfgang sein Name ist Wolfgang / Wolfgang Wolf sein Sohn ist Molf / Wolfgang Wolf sein Sohn ist Molfgang / Wolfgang Wolf sein Sohn ist in Wolfsburg / Der Mensch war drei mal Wolf Doppelwolf / Aber er spielt in Wolfsburg / Wolfgang spielt aber wo wo.

  32. Es gibt mittlerweile eine große Anzahl von soziolinguistischen Untersuchungen, die diese Mehrsprachigkeiten unter unterschiedlichen Fragestellungen gerade bei Jugendlichen untersuchen. Vgl. u.a. Ben Rampton, Crossing, London-New York 1995; Inci Dirim/Peter Auer, Türkisch sprechen nicht nur die Türken, Berlin-New York 2004; H. Julia Eksner, Ghetto Ideologies, Youth Identities and Stylized Turkish, Berlin 2006; Inken Keim, Die "türkischen Powergirls", Tübingen 20082.

  33. Mario Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, München 1979, S. 313 (Hervorhebungen: VH).

Dr. phil. habil., geb. 1951; Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Hochschule Fulda, Marquardstraße 35, 36039 Fulda.
E-Mail: E-Mail Link: volker.hinnenkamp@sk.hs-fulda.de
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