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Ein ganz normaler Präsident - Essay | USA | bpb.de

USA Editorial Ein ganz normaler Präsident - Essay Obamas Präsidentschaft: Wandel und Kontinuität Kooperation oder Konkurrenz? Obamas Russland- und Chinapolitik Obama und Europa Obama - Architekt einer neuen Finanzordnung? Obamas (versuchte) Gesundheitsreform

Ein ganz normaler Präsident - Essay

Thomas Kleine-Brockhoff

/ 9 Minuten zu lesen

Ein Jahr nach Amtsantritt ist Barack Obama in den Niederungen der Politik angekommen. Unter jedem realistischen Maßstab zeigt sich aber, dass er keineswegs versagt hat.

Einleitung

Ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist der amerikanische Präsident Barack Obama in den Niederungen der Politik angekommen. Der Messias der Moderne hat sich binnen Monaten in einen beinahe normalen Politiker verwandelt. Nicht länger trägt er Episteln vom Berge der Verheißung vor, und wenn doch, so mischt sich bei den Zuhörern in Bewunderung zunehmend Skepsis. Sein Charisma hat Obama nicht verloren, aber den Politikwechsel zu fordern ist eben etwas anderes als ihn durchzusetzen. Zu Beginn seiner Amtszeit schien er unantastbar, eine Menschheitshoffnung, welche die USA und den gesamten Planeten im Moment der Krise in ein neues goldenes Zeitalter führen würde. Skeptiker erschienen wie schlecht gelaunte Zwischenrufer. Doch inzwischen hat der Chor der Kritiker eine Partitur gefunden. Ihr Lied verwandelt sich in einen Ohrwurm. Sie singen von einem hyperaktiven Präsidenten, der tausenderlei anfasst und nichts zu Ende führt. Der überkomplexe und höllisch teure Gesetzentwürfe einbringt und sich wundert, wenn sie im amerikanischen Parlament steckenbleiben. Der Visionen globaler Zusammenarbeit verbreitet und zusehen muss, wie seine Appelle verhallen. Am treffendsten fasst Simon Serfaty vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies die Stimmung zusammen: "Die Erinnerungen an gescheiterte Präsidentschaften verbinden sich mit wachsender Sorge über den Amtsinhaber."



Doch ist diese Kritik selbst Ausdruck des Zeitgeistes, einer nagenden Unsicherheit über die zukünftige Rolle Amerikas und aller westlichen Gesellschaften in einer neu zu vermessenden Welt. In solchen Phasen wird der Anführer der freien Welt gern zur Projektionsfläche von Hoffnungen und Enttäuschungen. Besonders dann, wenn er selbst es war, der den Neuanfang verlangt und verkündet hatte. Doch sogar ohne jene Erwartungen, die er auf sich gezogen hat und die nun wie selbst zugefügte Wunden wirken, müsste jeder Bewohner des Weißen Hauses unter der Last der Agenda stöhnen, die ihm sein Vorgänger George W. Bush hinterlassen hat. Drum empfiehlt sich der nüchterne Blick auf das, was ein amerikanischen Präsidenten leisten kann und was ein Jahr erlaubt. Unter jedem realistischen Maßstab zeigt sich nämlich, dass Obama keineswegs versagt hat. Gewiss, ein paar Enttäuschungen sind zu vermerken, erste Fehler zu besichtigen. Doch genauso mischen sich Erfolge mit der Erwartung von Durchbrüchen. Angesichts der Vielfalt der Aufgaben und Projekte geraten die drei monumentalen Errungenschaften des ersten Jahres leicht aus dem Blick: Unter der Führung Obamas wurde erstens die Reaktion der großen Länder der Welt auf die Finanzkrise koordiniert, ein gewaltiges Konjunkturpaket verabschiedet und damit der Absturz in eine globale Wirtschaftskatastrophe verhindert sowie die Neuordnung der Finanzaufsicht eingeleitet. Zweitens hat Obama ein Paket von sozialen und ökonomischen Reformen geschnürt, die sein Land zukunftsfähig machen sollen. Und drittens hat er Amerikas Rolle in der Welt neu definiert. Was anfangs bloß wie eine Anti-Bush-Agenda erschien, entwickelt sich zu einer umfassenden Neuausrichtung amerikanischer Außenpolitik. Man mag - je nach politischer Heimat - Zugriff oder Ziele kritisieren. Ein Mangel an strategischer Klarsicht wäre aber das Letzte, was diesem Präsidenten vorzuwerfen wäre.

Beschränkung auf das Mögliche

Barack Obamas außenpolitisches Ziel besteht zunächst darin, Amerikas Ambitionen und seine Mittel wieder in Einklang zu bringen. Das ist nicht weniger als die Essenz allen strategischen Denkens. Statt sich am Unmöglichen zu überheben, strebt Obama das Mögliche an. Derlei Selbstbeschränkung setzt eine schonungslose Analyse von Amerikas weltpolitischer Überdehnung sowie seiner geschwundenen moralischen Autorität voraus. Zu seinen Zielen zählt die Schaffung von Frieden und Sicherheit (und in ferner Zukunft eine atomwaffenfreie Welt), aber nicht länger die Demokratisierung des Globus. Die überlässt er jenen, die sich von ihren Regimen unterdrückt fühlen. Das missionarische Zeitalter, das der Welt amerikanische und westliche Werte aufdrängte, notfalls mit Waffengewalt, ist zu Ende. In seiner Rede von Kairo im Juni 2009 hat Obama keinerlei Zweifel gelassen: "Kein Regierungssystem kann oder sollte einem Land von irgendeinem anderen Land aufgezwungen werden." Auch die Beschränkung der Ziele in Afghanistan folgt der Einsicht in die Begrenztheit der Mittel: Das Land soll zwar nicht länger Exportplattform für globalen Terror sein und braucht deshalb eine starke und verantwortliche Regierung, aber die Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten gehört nicht länger zu den Einsatzzielen.

Es ist nicht unbemerkt geblieben, dass Obama das iranische Regime erst dann hart kritisierte, als bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung nach den gestohlenen Wahlen im Juni 2009 Blut floss. Menschenrechtsverletzungen in Russland und China werden vorzugsweise hinter verschlossenen Türen angesprochen. Den Boykott des Regimes im Sudan ersetzt Obama durch eine differenzierte Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Obama habe eine "starke Aversion gegenüber Predigten aus der Position moralischer Überlegenheit", sagt Tom Malinowski von Human Rights Watch. Das sei eine "angemessene Reaktion auf den kreuzzüglerischen Moralismus der Regierung Bush". Sie gehe aber "zu weit", wenn "Übergriffe von Diktatoren" nicht länger angeprangert würden.

Im Bemühen um Frontbegradigung hat Obama nicht nur seine demokratischen Verbündeten in Europa durch eine Charme-Offensive bezirzt. Auch zweifelhaftere Regime wie jene in Peking oder Moskau werden zu Partnern. Obamas Maxime ist, Beziehungen zu anderen Staaten nicht "durch die Differenzen definieren" zu lassen, sondern durch die "gemeinsamen Interessen". Drum fokussiert Obama beim neuen Verständigungsversuch mit Russland auf Abrüstung und Sicherheit im Cyberspace. Hier hat Russland Interessen und kann mit Amerika auf Augenhöhe reden. Erste Erfolge sind schon nach Monaten zu besichtigen. Nicht nur stehen beide Staaten vor dem Abschluss eines neuen START-Raketenabkommens. Das Angebot an den Iran, sein angereichertes Uran nach Russland auszuführen und später in Frankreich in Brennstäbe zu verwandeln, ist Folge einer entspannteren russisch-amerikanischen Beziehung. Lehnt der Iran ab, wonach es aussieht, hat Obama zumindest die Vertrauensgrundlagen für eine neue Boykottallianz gegen den Iran geschaffen. Amerika braucht Russland als Partner im Iran, in Afghanistan und einem halben Dutzend anderen Orten. Dass beide Länder weiterhin über Klimawandel streiten, die Zukunft Georgiens und die europäische Sicherheitsarchitektur, muss nicht länger Fortschritte in allen anderen Fragen verhindern. Es ist diese Nuancierung, die Obamas neue Politik kennzeichnet.

Gemeinsame Verantwortung

In der Welt, wie Obama sie sieht, gibt es nicht einen Staat, der andere dominiert, sondern eine Gemeinschaft von Staaten, die alle Rechte und Pflichte haben. Dies ist das Leitmotiv seiner Reden, ob in Prag oder in Kairo, in Moskau oder in Akkra. Schon in seiner Rede zur Amtseinführung ist es angelegt. Darin spricht er von einer "neuen Ära der Verantwortlichkeit", von "wechselseitigen Interessen und wechselseitigem Respekt". Er sieht internationale Beziehungen in einem Rechtsrahmen, spricht von Verpflichtungen, Regeln und Normen. Er sieht Amerika bei Amtsantritt in der Bringschuld. Darum kündigt er an, die Geheimgefängnisse der CIA und das Gefangenenlager Guantanamo zu schließen; er lässt Amerikas Schulden bei der UNO begleichen und wirbt beim Senat für die Ratifizierung des Seerechtsübereinkommens; er setzt durch, dass Amerika dem UN-Menschenrechtsrat beitritt und plädiert für die Reform des UN-Sicherheitsrats; auch in eine konstruktive Rolle bei den UN-Klimaverhandlungen führt er sein Land zurück.

Nach einigen Monaten des Abwartens regt sich in den Vereinigten Staaten nun Kritik an Obamas neuer Strategie. In den Zeitungen und den Publikationen der Think Tanks fragen die Analysten: Was bringt's? Wo sind die Ergebnisse? Wird Obamas Theorie der Vorleistungen jemals Früchte tragen? Die Europäer sind deutlich langmütiger als ihre Verwandten von der anderen Seite des großen Teiches. Obama ist zwar Amerikaner, und doch so wunderbar europäisch, dass ihm auf dem "alten Kontinent" die Herzen zufliegen. Seine Sicht der internationalen Beziehungen ähnelt der europäischen Haltung. Was hier zählt, ist der Prozess. Solange das Vorgehen legitim ist, werden sich konkrete Resultate schon noch einstellen. Aus dieser Perspektive ist der Friedensnobelpreis auch nicht voreilig, sondern Belohnung für eine Politik, die Amerika wieder hineinführt in das Rahmenwerk der internationalen Beziehungen. Erfolge praktischer Politik sind dann nur noch eine Frage der Zeit.

Doch offenbar schwindet sogar bei Obama die Geduld. In seiner Rede vor der Generalversammlung der UNO im September 2009 lässt der Präsident wissen, dass es nun Zeit sei, dass andere ihren Anteil am globalen Tauschgeschäft übernähmen. Erstmals scheint es, als gehe die Zeit der Vorleistungen zu Ende und Obama erwarte nun von anderen, dass sie Handeln. Das wird die Europäer schmerzen, die Obama bisher zwar applaudieren, ansonsten aber wenig in seine Weltsicht (und damit die eigene) investieren. Seine Enttäuschung über die Europäer verbirgt Obama bislang, weil er sich eine öffentliche Debatte über die Lastenverteilung mit Europa nicht erlauben will. Gut möglich, dass er nunmehr in die zweite Phase seiner Präsidentschaft eintritt. Nach mäßig erfolgreichem Einsatz von Charisma und verhallten Hinweisen auf wechselseitige Verpflichtungen tritt er neuerdings entschiedener auf. Es scheint, als seien die Grenzen der Konsenspolitik von Seiten einer Weltmacht erreicht. Die Vorbereitungen von verschärften Sanktionen gegen den Iran, der sein Verhandlungsangebot bislang ausschlug, deuten darauf hin. Genauso verhält es sich mit seiner bislang schwersten Entscheidung, der Entsendung zusätzlicher Kampftruppen nach Afghanistan. Die härtere Gangart war nicht zuletzt Thema seiner Preisrede in Oslo.

Auf Normalmaß geschrumpft

Im Inland ist die Erosion des Vertrauens seit längerem im Gange. Die einst gewaltige Zustimmungsquote des Präsidenten sinkt beständig. In den Augen der Bevölkerung schrumpft der Präsidenten-Riese Obama auf Normalmaß. Noch beunruhigender wirkt für seine Berater, dass inzwischen keines der großen politischen Projekte noch auf eine Mehrheit in der Bevölkerung bauen kann: nicht die Gesundheitsreform, nicht die Politik im Irak und in Afghanistan, nicht die Wirtschafts- oder die Einwanderungspolitik. Wie ein Weckruf mussten die Regionalwahlen im November wirken, als die Demokraten in zwei Bundesstaaten dramatisch einbrachen. Es waren die ungebundenen Wähler, die Obama zum Sieg verholfen hatten. Fast 60 Prozent dieser Wechselwähler hatten in Virginia Obama gewählt. Genau zwölf Monate später verpasste ihm dieselbe Wählergruppe einen Denkzettel, indem zwei Drittel von ihnen Republikaner ankreuzten.

Als Brückenbauer und als Pragmatiker war Obama angetreten. Doch dann, behauptet der konservative Publizist Charles Krauthammer, "stellte Obama sich als Linksliberaler heraus, anders als Bill Clinton". Obama habe das "Mandat des Wählers missverstanden". Er verspreche, die Grundpfeiler der amerikanischen Gesellschaft - Gesundheitsversorgung, Bildung, Energie - zu verrücken und Amerika "in eine sozialdemokratische Gesellschaft nach europäischem Vorbild" zu verwandeln. Tatsächlich sind sich die Wahlforscher einig, dass Obama aus seinem Sieg nicht den Auftrag zu sozialdemokratischer Politik ableiten kann. Die Wähler wollten ganz einfach die Republikaner mit George W. Bush an der Spitze feuern und sie waren besorgt über die Finanzkrise. Daraus lässt sich nicht unbedingt jener Reformwille ableiten, den die Massendemonstrationen für Obama im Wahlkampf andeuteten.

Als Barack Obama ins Amt gewählt wurde, stand Amerika am Abgrund. Eine Investitionsblase am Finanzmarkt war geplatzt, und niemand wusste, ob aus der Krise ein globales Drama wie in den 1930er Jahren werden würde. Zwölf Monate später kann sich kaum noch jemand an diese Bedrohung erinnern. Die Finanzmärkte haben sich erholt, Amerikas Wachstum betrug im dritten Quartal 2009 etwa 3,5 Prozent. Der Staat hat bewiesen, allerdings um den Preis eines gewaltigen Schuldenberges, dass er den freien Fall der Wirtschaft bei beherztem Eingreifen verhindern kann. Ebendies ist Obamas bisher größtes Verdienst.

Vom ersten Tag im Amt an hat Obama im Eingreifen des Staates mehr als nur Nothilfe gesehen. Er wollte die Krise nicht verstreichen lassen, ohne die Grundlagen für die Erneuerung des Landes zu legen. Die gewaltigen Summen des Konjunkturpaketes sah Obamas Berater John Podesta als "Anzahlung" auf die notwendigen Investitionen in Gesundheit, Bildung und vor allem Energie. Eine nachhaltige Konjunkturerholung sei nur möglich, wenn Amerika die tieferen Ursachen der Krise angehe. Natürlich erhöhen Obamas Großprojekte Reichweite und Einfluss der Bundesregierung sowie die Staatsquote. Aber sie müssen nicht unbedingt geboren sein aus dem Drang zur Sozialdemokratisierung Amerikas. Es kann genauso gut Obamas systemisches Denken sein, das hier die Triebfeder ist.

"Kleingeist hat uns in die gegenwärtige Lage geführt", sagt Obama. Er führt stattdessen komplexes Denken ein. Die Folge ist, das die Gesetzentwürfe aus dem Obama-Lager, ob Konjunkturpaket, Gesundheitsreform oder Emissionshandel, mindestens 1000 Seiten umfassen. Die Zeitungen zeigen immer wieder Abgeordnete, die mit riesigen Aktenbündeln auf der Schulter im Kongress herumlaufen. Wer soll das noch lesen? Oder gar verstehen? So langsam schaffen Komplexität und Wucht des Reformprogramms ihre eigene Geschichte: Obama sei ein Mann des großen, des bürokratischen Staates; er bündele Macht in Washington, lebe überkomplexe Gesetzentwürfe vor und finanziere alles auf Pump. Obama, schreibt "Politico", die Gazette der Washingtoner Insider, habe "im ersten Amtsjahr mehr frisches Geld ausgeben lassen als Bill Clinton in acht Amtsjahren". Kurzum: Seinen Kritikern gelingt es zunehmend, Obama das Etikett vom Steuern erhöhenden und staatsverliebten Linken anzuheften.

Das alles muss nicht heißen, dass Obama politisch verloren ist. Er hat fast drei Jahre lang Zeit, sich zu erholen. Bei den Zwischenwahlen im Herbst 2010 werden die Demokraten wohl verlieren. Ob Obama die Wiederwahl 2012 erreichen kann, ist völlig offen. Erst mal muss sich ein glaubwürdiger und chancenreicher, republikanischer Herausforderer finden. Außerdem wird Obama dann tun, was er bis jetzt unterlässt: seine Erfolge an den Wähler bringen. Nach einem Jahr gerät das System Obama an seine Grenzen. Der Präsident braucht bald einen strategischen Durchbruch.

Geb. 1960, Mitglied der Geschäftsleitung des German Marshall Fund of the United States, zuvor sechs Jahre lang Korrespondent von "Die Zeit" in Washington. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.
E-Mail: E-Mail Link: tkleinebrockhoff@gmfus.org