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Neuanfang 2021? | bpb.de

Neuanfang 2021? Was die neue Bundesregierung nun tun muss - Essay

Sophie Pornschlegel

/ 14 Minuten zu lesen

Trotz der ideologischen Unterschiede zwischen den politischen Parteien gab es in der diesjährigen Kampagne zur Bundestagswahl eine gemeinsame Devise: die Zukunft Deutschlands gestalten. Die SPD nannte ihr Wahlprogramm "Zukunftsprogramm"; die CDU versprach ein "modernes Deutschland"; die Grünen warben mit dem Slogan: "Bereit, weil Ihr es seid"; die FDP fasste den Bedarf nach Veränderung in den Satz "Nie gab es mehr zu tun". In der Tat, es gibt in der Bundesrepublik zahlreiche Herausforderungen, die in den vergangenen Jahren entweder unzureichend oder gar nicht angegangen worden sind: die Bekämpfung des Klimawandels beziehungsweise der Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft; die Digitalisierung, ob in der öffentlichen Verwaltung oder in den Schulen; große Infrastrukturprojekte in den Bereichen Mobilität, Energie oder der Telekommunikation. Die Botschaft der Parteien war jedenfalls eindeutig: Die nächste Bundesregierung muss die Weichen für die Zukunft stellen.

Leider hielten die Kampagnenslogans nicht, was sie versprachen. Die Wahlkampagne selbst war so gut wie gar nicht auf die Zukunft ausgerichtet. Das politische System schien in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Es ist zwar verständlich, dass die Öffentlichkeit sich nach dem Ende der "Ära Merkel" vor allem für die Personalien der unterschiedlichen Kanzlerkandidat*innen interessiert, dennoch war das Ausbleiben inhaltlicher Auseinandersetzungen zu den anstehenden Zukunftsthemen und Sachfragen bemerkenswert: Es gab keine Diskussionen zu den unterschiedlichen Lösungsansätzen der Parteien, Klimaneutralität zu erreichen; es wurde nicht deutlich, was unter der Floskel "Digitalisierung" jeweils gemeint war; es gab keine Auseinandersetzungen zur Frage, wie die dringend benötigten öffentlichen Investitionen mit der im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenbremse kompatibel gemacht werden könnten. Stattdessen wurden die deutschen Wähler*innen mit Fotos eines im Kontext der Flutkatastrophe ungehörig lachenden Armin Laschet oder mit medial aufgebauschten Plagiatsvorwürfen gegen Annalena Baerbock beschäftigt, kurzum: mit emotionalisierenden Personalfragen, hinter denen die Sachfragen verschwanden.

Themen der Europa- und Außenpolitik tauchten in der Wahlkampagne ebenfalls nicht auf. Die EU wurde in den Triell-Talkshows mit den Kandidat*innen nicht ein einziges Mal erwähnt. Dabei stehen wir vor globalen Herausforderungen, die auf nationaler Ebene bekanntlich nicht gelöst werden können. Es wird wenig nützen, wenn Deutschland 2050 klimaneutral ist, in Polen aber weiterhin Braunkohle gefördert wird. Eine deutsche Besteuerung von Tech-Unternehmen ist ohne eine internationale Kooperation sinnlos. Genauso wenig ist eine deutsche China-Strategie erfolgversprechend, wenn sie nicht europäisch abgestimmt ist. Und schließlich sind deutsche Bürger*innen weitaus stärker von den Entscheidungen in Brüssel betroffen, als ihnen in der Regel bewusst ist. Es wäre deswegen ihr gutes Recht gewesen, zu erfahren, was die nächste Bundesregierung in diesem Bereich plant. Nichts von alledem wurde diskutiert.

Die Kampagne hinterließ das etwas beunruhigende Gefühl, dass unsere Entscheidungsträger*innen – und womöglich auch viele unserer Mitbürger*innen – sich der Dimension der globalen Herausforderungen, mit denen wir in den nächsten Jahren konfrontiert sein werden, nur vage bewusst sind. Und noch besorgniserregender ist der Umstand, dass die Entscheidungsträger*innen im Wahlkampf so gut wie gar nicht über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Transformationsprozesse gesprochen haben, die uns in den nächsten Jahren, ja Jahrzehnten bevorstehen. Man kann nur hoffen, dass die nächste Bundesregierung diese großen Aufgaben tatsächlich auch angehen wird.

Große Transformationsprozesse

Zunächst einmal wird es darum gehen, einen konkreten Fahrplan zu entwickeln für die Einhaltung des Ziels von maximal 1,5 Grad Erderwärmung sowie der rechtlich bindenden europäischen Klimaziele: Klimaneutralität bis 2050, Reduktion des CO2-Ausstoßes um 55 Prozent bis 2030. In Deutschland selbst sind ebenfalls Zielsetzungen fixiert, so beispielsweise in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Darüber hinaus gilt es, die diesjährige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimapaket zu berücksichtigen, die feststellt, dass die Bundesregierung die zukünftigen Generationen nicht ausreichend vor den Folgen des Klimawandels schützt, das Klimapaket deswegen teilweise verfassungswidrig ist. Diese Zielsetzungen sind, wie gesagt, rechtlich verbindlich. Was zur Debatte steht, ist die konkrete Umsetzung der Maßnahmen, die zu ihrer Realisierung notwendig sind. Um sie auch nur annähernd zu erreichen, sind enorme Veränderungen unserer Wirtschaft und unseres Lebensstils notwendig. Die nächste Bundesregierung sollte deshalb in den nächsten vier Jahren massive öffentliche Investitionen ins Auge fassen und so schnell wie möglich konkrete Schritte einleiten. Die Zeit ist beim Klimawandel ein kritischer Faktor. Wenn wir die "sozial-ökologische Transformation" nicht schnell genug angehen, werden wir es nicht mehr schaffen, die Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen zu schützen. Das Ausmaß der dann anstehenden Krisen wäre unabsehbar.

Die Gestaltung eines solchen Transformationsprozesses ist politisch hochkomplex. Die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, bringen harte politische Auseinandersetzungen mit sich und werfen eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen auf: Wie definieren wir als Gesellschaft Freiheit? Wie viel kann und soll der Markt übernehmen, welche Rolle soll der Staat spielen? Neben den politischen Auseinandersetzungen, die mit dem Transformationsprozess einhergehen, ist die Politik zusätzlich mit einem Umsetzungsproblem konfrontiert: Wie können wir derart tiefgreifende Veränderungen in kurzer Zeit auf den Weg bringen? Wie lässt sich der Umbau unseres Wirtschaftsmodells erfolgreich bewerkstelligen? Darüber hinaus gilt es, die anstehenden Veränderungen so gerecht wie möglich zu gestalten. Die Kosten der Transformation dürfen nicht einfach auf die Ärmeren abgewälzt werden. Das Risiko ist groß, dass unsere Gesellschaft sich noch stärker spaltet und polarisiert, wenn die Frage der Gerechtigkeit nur unzureichend berücksichtigt wird. Und schließlich muss der gesamte Transformationsprozess in einen breiteren europäischen und internationalen Rahmen eingebettet werden, der noch viel zu oft als bloßes Anhängsel betrachtet wird. Deutschland kann nur im Rahmen der EU eine handlungsfähige Rolle in internationalen Verhandlungen spielen, die auch die Staaten mit den größten CO2-Emissionen dazu bewegt, verbindliche Klimaziele zu akzeptieren.

Auch im Bereich der Digitalisierung ist in den letzten Jahren viel zu wenig geschehen. Der Befund lautet: Deutschland hinkt im europäischen Vergleich hinterher. Es wurde nicht genügend in den Breitbandausbau investiert, zum Teil wurden kontraproduktive Fördermodelle eingesetzt. Bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und des Schulsystems ist Deutschland noch lange nicht da, wo es sein könnte und sollte. Auch hier spielt die europäische Dimension eine bedeutende Rolle. Es wird unmöglich sein, eine wertebasierte künstliche Intelligenz durchzusetzen, wenn die Bundesrepublik sich nicht europäisch verbündet und Standards international verbindlich macht. Auch werden wir allein auf nationaler Ebene die großen Tech-Unternehmen nicht ausreichend regulieren können. Um Druck auf die Tech-Giganten auszuüben, bedarf es einer engen europäischen Kooperation. Und nicht zuletzt gilt es auch, die Digitalisierung prinzipiell stärker in ihrer geopolitischen Dimension zu denken, etwa im Bereich der Industriepolitik, wo es darum gehen wird, "staatliche und unternehmerische Investitionen zu verknüpfen, um den aggressiven Riesen China und USA Paroli zu bieten – ob bei Chips, E-Autos, Pharma oder künstlicher Intelligenz".

Viele dieser Transformationsprozesse sind bereits durch die Coronakrise beschleunigt worden: Wir haben unsere Arbeitsweise schneller digitalisieren müssen; mit den Einschränkungen wurden der Fernreiseverkehr lahmgelegt und die CO2-Emissionen drastisch reduziert. Dabei sind zahlreiche wirtschaftliche und soziale Missstände sichtbar geworden. Gesellschaftlich wichtige Berufe – Krankenpfleger, Kassiererin, Post- und Paketbote etwa – müssen dringend aufgewertet werden. Kürzungen im Gesundheitswesen führen zwar zu weniger Schulden, kosten aber Patientenleben. Gleichberechtigung ist ein fragiles Konstrukt, das politisch wesentlich stärkeren Rückhalt braucht, damit nicht wieder nur die Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind, sobald Krippe oder Kita geschlossen werden. Mit der Coronakrise haben sich überdies die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft verschärft. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind im wohlhabenden Deutschland keine Seltenheit. Viele Menschen haben mit der Krise ihren Lebensunterhalt verloren und sind sozial "abgestiegen". Kinder aus ärmeren Verhältnissen wurden weiter benachteiligt. Sie hatten keinen Zugang zu IT-Geräten, die sie für den Unterricht gebraucht hätten; sie hatten keine Rückzugsorte, um ihre Hausaufgaben zu machen; ihnen standen keine Eltern helfend zur Seite. Zwar scheinen wir das Gröbste der Krise überwunden zu haben, doch der soziale Ausgleich sollte für die nächste Bundesregierung eine klare politische Priorität darstellen. Konkret würde das etwa bedeuten, den Mindestlohn anzuheben, Hartz IV zu reformieren, die Steuerlasten gerechter zu verteilen und das Bildungssystem inklusiver und fairer zu gestalten.

Dabei ist es wichtig, die zukünftigen Ausgaben in den Bereichen Klima, Digitalisierung und Soziales nicht als leidige Kosten zu verstehen, sondern als Investitionen in die Lebensqualität aller Bürger*innen – insbesondere der jüngeren Generation. Allzu oft werden öffentliche Investitionen noch als Schulden verstanden, die uns und die zukünftigen Generationen "belasten". Das bloße Schuldenkalkül ist allerdings kurzschlüssig: Nicht zu handeln und nicht zu investieren wäre weitaus gefährlicher. Ohne Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz werden wir für die Zukunft nicht gerüstet sein. Was bringt eine "schwarze Null", wenn in den Schulen keine digitalen Kompetenzen vermittelt werden können, wenn die Gesundheitsämter ihre Nachrichten weiterhin per Fax verschicken müssen, wenn wir keine Häuser haben, deren Isolation auch vor Hitzewellen schützt?

Für einen neuen Politikmodus

Dass die Wähler*innen sich Wandel wünschen, geht aus dem Ergebnis der Bundestagswahl deutlich hervor. Zunächst einmal haben sie sich eindeutig gegen ein Weiterregieren der Union ausgesprochen. CDU und CSU rutschten von 32,9 Prozent der Stimmen 2017 auf 24,1 Prozent 2021, ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Rund zwölf Millionen Wähler*innen gaben ihre Zweitstimme der SPD und ihrem Kandidaten Olaf Scholz. Die Deutschen bevorzugen also mehrheitlich einen Mitte-Kurs der Volksparteien. Zweitens ist die Kluft zwischen Jung und Alt gewachsen. Die jungen Wähler*innen haben massiv für die Grünen und die FDP gestimmt, die mit den Themen Klimawandel und Digitalisierung Wahlkampf gemacht haben, während die älteren Bevölkerungsgruppen weiterhin SPD und CDU/CSU wählten. Schließlich zeigt sich, dass die AfD trotz des durchwachsenen Gesamtergebnisses in den ostdeutschen Bundesländern dauerhaft Fuß gefasst hat; die Partei konnte in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt 16 Direktmandate ergattern. Auch 32 Jahre nach der Wende gibt es noch massive, mittlerweile konsolidierte Unterschiede zwischen Ost und West. Insgesamt macht die Bundestagswahl deutlich, dass es nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels zwar einen Wunsch nach Wandel gibt, dass sich gleichzeitig aber auch neue Risse in unserer Gesellschaft aufgetan haben, die dringend gekittet werden müssen. Ohne starken gesellschaftlichen und demokratischen Rückhalt werden die anstehenden Transformationsprozesse politisch scheitern.

Zweifellos wird es mit einer neuen Bundesregierung auch zu politischen Veränderungen kommen. Doch sollte man auch eine radikale Änderung unseres bisherigen Politikmodus ins Auge fassen. Bisher verhindern unsere politischen Rahmenbedingungen den sozial-ökologischen Transformationsprozess eher, als dass sie ihn aktiv vorantreiben. Der traditionelle deutsche Inkrementalismus, wie er für die Merkel-Kanzlerschaft der vergangenen 16 Jahre prägend war, ist angesichts der gegebenen Herausforderungen unangemessen. Die letzten Jahre zeichneten sich vor allem durch ein auf Dauer gestelltes Krisenmanagement aus, das viele strategische Debatten links liegen ließ. Natürlich gehört Krisenmanagement zum politischen Alltag. Wenn allerdings nur noch "gemanagt" wird, kommen die langfristigen politischen Prozesse zu kurz und werden die politischen Anreize vermindert, die großen Transformationsprozesse anzugehen. Die mediale Öffentlichkeit spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ob Druck auf die Politik ausgeübt wird oder nicht, liegt vor allem an ihr. Schaut man sich die Inhalte der Pressekonferenzen von Frau Merkel in den letzten Jahren an, wird man schnell bemerken, dass es darin vor allem um Themen ging, die nur sehr kurzfristig relevant waren. Grundsätzliche (und langfristige) Fragen der Europa-, Klima- oder Wirtschaftspolitik haben das Interesse der Journalist*innen kaum geweckt.

Ein weiteres Problem ist der Zeithorizont der Politik. Angesichts der kurzen Legislaturperioden schauen Politiker*innen viel stärker auf schnelle Erfolge als auf langfristige Gewinne. Letztere werden nur selten belohnt. Wie soll man wiedergewählt werden, wenn die Ergebnisse bestimmter Entscheidungen (noch) nicht abschätzbar sind? Und warum sollten Entscheidungsträger*innen tiefgreifende Transformationsprozesse angehen, wenn viele Bürger*innen Stabilität und Status quo bevorzugen? Veränderung bedeutet Unsicherheit, und Unsicherheit ist ein Angstfaktor, den man möglichst zu vermeiden versucht. Das politische System müsste deswegen politischen Mut viel stärker belohnen als bisher, insbesondere dann, wenn unbequeme Entscheidungen dazu beitragen, langfristige Ziele – Klimaneutralität zum Beispiel – zu realisieren. Man sollte deswegen versuchen, "Zukunftsräte", wie sie von Patrizia Nanz und Claus Leggewie vorgeschlagen worden sind, zu institutionalisieren.

Darüber hinaus stellt unsere "Fehlerkultur" ein ernstzunehmendes Hindernis für die Handlungsfähigkeit der Politik dar. Ein anderer Umgang mit Fehlern im politischen Tagesgeschäft könnte dazu führen, dass Fehler nicht dadurch noch verschlimmert werden, dass man sie, wie bislang üblich, permanent zu verheimlichen oder zu vertuschen sucht. Insbesondere bei komplexen und offenen Prozessen, die in der Geschichte einmalig sind, werden zwangsläufig Fehlentscheidungen getroffen. Politiker*innen sind keine unfehlbaren Wesen, und geschichtliche Prozesse sind kontingent. Eine mangelhafte Fehlerkultur führt dazu, dass politische Entscheidungsträger*innen dazu neigen, sich aus Angst vor einem Gesichts- und Machtverlust ihrer Verantwortung zu entziehen. Genau das aber führt zu schlechten Entscheidungen. Statt sachorientiert nach tragfähigen neuen Lösungen oder Korrekturen zu suchen, versucht man, die Verantwortung für getroffene Entscheidungen schnell auf andere abzuwälzen. Dieses System gilt es zu durchbrechen. Die kommende Bundesregierung könnte sich hier etwa die Prinzipien des "humble government" zu eigen machen, wie sie von der finnischen Denkfabrik Demos Helsinki entwickelt worden sind und von der finnischen Regierung bereits umgesetzt werden. Im Kern geht es um eine "lernende Regierung", die iterativ vorgeht und aus ihren eigenen (eingestandenen) Fehlern lernt. Prozessverläufe werden nicht von vornherein unveränderlich festlegt, sondern Entscheidungen müssen ständig neu justiert werden. Gleichzeitig gilt es, die Verantwortung für prinzipielle politische Zielsetzungen wiederherzustellen. So fehlt es etwa an einer Rechenschaftspflicht für absehbare Folgen des Nichthandelns: Im Jahr 2050 werden vermutlich keine Entscheidungsträger*innen mehr im Amt sein, die für ihre nicht getroffenen politischen Entscheidungen zum Klimawandel politisch geradestehen.

Damit verbunden ist die Frage, wie man Politiker*innen dazu verpflichtet, sich mit komplizierten, kontroversen, sachlich unübersichtlichen Themen auseinanderzusetzen, die nicht unmittelbar im eigenen machtpolitischen Interesse liegen. Populäre Entscheidungen sind bekanntlich nicht unbedingt die besten Entscheidungen. Zwar ist es demokratisch, die Mehrheitsmeinung zu berücksichtigen, allerdings kann das Mehrheitsprinzip auch zu gefährlichen Schieflagen führen. So repräsentieren die Parteien eine Mehrheit der (älteren) Bevölkerung in Deutschland, während die 18- bis 29-Jährigen nur gut 14 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen. Die über 60-Jährigen bringen es dagegen auf rund 37 Prozent. Das Problem liegt auf der Hand: Die Jüngeren werden die Kosten für ein Scheitern der Klimapolitik zu tragen haben. Dabei wird es nicht nur darum gehen, immer "mehr und drastischere Reduktionslasten zu schultern, um die Klimakrise zu begrenzen, sondern auch die immer schlimmeren Folgen der Klimakrise selbst zu bewältigen". Um hier eine Machtbalance herzustellen, könnte man etwa ein Wahlrecht ab 16 Jahren in Erwägung ziehen.

Gleichzeitig werden politisch sehr oft Partikularinteressen vertreten, die für die Mehrheit schädlich sind. Beispiel Energiewende: Wir wissen alle, dass erneuerbare Energien ausgebaut werden müssen. Viele Bürger*innen möchten jedoch weder Stromtrassen noch Windräder in ihren Hintergärten sehen, und Politiker*innen wiederum möchten nicht die Unterstützung dieser Wählergruppe verlieren und ziehen es deshalb vor, weitreichende Entscheidungen für den Klimaschutz vor sich herzuschieben. Die Überrepräsentation von Partikularinteressen in unserem politischen System wird besonders dann problematisch, wenn sie dazu führt, dass die Politik sich nicht mehr auf das Grundsätzliche fokussiert, nämlich eine faire und gute Zukunft für alle Bürgerinnen und Bürger – auch für diejenigen, die weniger (finanzielle) Mittel haben, ihre Interessen durchzusetzen. Die Wiederherstellung politischer Gleichheit erfordert mithin neue "Anreizsysteme", damit jene Politiker*innen nicht machtpolitisch benachteiligt werden, die sich, jenseits jeder Klientelpolitik, für Bildung, Gesundheit und Wohnraum für alle einsetzen.

Demokratie erweitern – und dabei Europa mitdenken

Über die Veränderung des bisherigen Politikmodus hinaus wird die nächste Bundesregierung auch daran arbeiten müssen, die demokratischen Prozesse in unserer Gesellschaft zu erweitern und zu vertiefen. Nur dann, wenn alle Bürgerinnen und Bürger des Landes gleichermaßen an den Transformationsprozessen beteiligt werden, kann die Politik die anstehenden, weitreichenden Veränderungen erfolgreich umsetzen. Dazu muss auch ein öffentlicher Raum wiederhergestellt werden, der es erlaubt, die damit verbundenen Konflikte auszutragen, und der zu einem Ausgleich der verschiedenen Interessen beiträgt, während gleichzeitig Minderheiten geschützt werden. Das erfordert vor allem auch, dass die nächste Bundesregierung sich wesentlich stärker, als es bislang der Fall war, dafür einsetzt, die Polarisierung unserer Gesellschaft zu überwinden, etwa indem effiziente Regelungen gegen die im Netz grassierende Desinformation durchgesetzt werden.

Diese Erweiterung der Demokratie bedeutet auch, dass wir die nationale Politik noch viel stärker mit der europäischen Ebene verknüpfen. Viele Kompetenzen liegen längst nicht mehr in Berlin, sondern in Brüssel, wo die Bundesregierung regelmäßig mit 26 anderen Regierungen mitentscheidet. Trotzdem werden die meisten politischen Themen nach wie vor ausschließlich im nationalen Rahmen diskutiert, ohne dass über die Grenzen hinweg gedacht würde. Das mangelnde Interesse an Europa in Deutschland ist politisch außerordentlich problematisch. Das viel beschworene "Demokratiedefizit" der EU ist hierbei nicht die hauptsächliche Herausforderung, sondern das mangelnde Interesse der nationalen Politiker*innen, sich ernsthaft mit der EU zu beschäftigen. Auch hier geht es letztlich wieder um eine simple machtpolitische Frage: Welches Interesse haben nationale Politiker*innen, Macht an die EU abzugeben, auch wenn die EU dadurch handlungsfähiger würde? Es ist bequem, Brüssel in schwierigen Situationen als Sündenbock zu benutzen, anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen. Ein schlagendes Beispiel für das gängige Prinzip "Erfolge nationalisieren, Scheitern europäisieren" waren die Impfstoffbeschaffungsmaßnahmen der EU-Kommission. Die EU wurde für ihre Politik von nationalen Entscheidungsträger*innen permanent kritisiert, obwohl Bund und Länder für Fehlentscheidungen nicht minder verantwortlich waren.

Die nächste Bundesregierung sollte sich deswegen intensiver als bisher mit Demokratisierungsprozessen auseinandersetzen, und zwar auf nationaler, lokaler, regionaler und europäischer Ebene. Unsere Demokratie braucht Reformen, die das Gemeinwohl wieder ins Zentrum der politischen Interessen stellen und die Politiker*innen dazu veranlassen, sich verantwortungsbewusst auch gegenüber den zukünftigen Generationen zu verhalten. Es dürfen nicht diejenigen benachteiligt werden, die langfristige politische Veränderungen voranbringen wollen. Und nicht zuletzt braucht es Prozesse und Institutionen, die einen gerechten Interessenausgleich ermöglichen.

Radikale Veränderung statt Trippelschritte

Im europäischen und internationalen Vergleich nimmt Deutschland eine privilegierte Position ein. Es weist eine niedrige Arbeitslosigkeit auf, kann sich auf eine starke Wirtschaft stützen und befindet sich auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau. Das Land verfügt über ein stabiles politisches System mit starken demokratischen Parteien und vergleichsweise rationalen Entscheidungsträger*innen. Doch diese Verhältnisse sind nicht in Stein gemeißelt. Viele wichtige Entscheidungen sind in den letzten Jahren nicht getroffen worden, die jetzt dringend nachgeholt werden müssen.

Deshalb ist nach 16 Jahren "Merkel-Ära" ein politischer Wandel in der Tat zu begrüßen. Alles andere wäre aus demokratietheoretischer Sicht auch fragwürdig. Es besteht die Chance, dass mit einem neuen politischen Spitzenpersonal auch neue Ideen und eine neue Dynamik in die deutsche Politik kommen. Fortschritte in der Klimapolitik, der Digitalisierung und im Bereich der sozialen Gerechtigkeit wären wünschenswert.

Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird es sein, die hier skizzierten Herausforderungen so schnell und so effektiv wie möglich anzugehen. Eine Fortsetzung der Trippelschrittpolitik wäre für die Zukunft des Landes verheerend. Im Jahr 2025 werden wir sehen, ob die Kluft zwischen dem, was noch zu tun ist, und dem, was man erreicht hat, noch weiter angewachsen sein wird – oder ob die nächste Bundesregierung einen mutigeren Weg eingeschlagen hat, um unsere Zukunft zu sichern.

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ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel und Policy Fellow des Progressiven Zentrums in Berlin.
E-Mail Link: s.pornschlegel@epc.eu