Zu einem europäischen Gedächtnisraum? Erinnerungskonflikte als Problem einer politischen Union Europas
In der EU ist eine homogene Erinnerungsgemeinschaft nicht erkennbar. Versuche, die unterschiedlichen Erinnerungskulturen zu vergemeinschaften, sind weder aussichtsreich noch erscheinen sie notwendig für eine politische Union.Einleitung
"Die Euro- oder Schuldenkrise hat zur Genüge gezeigt, dass der alte, konfliktträchtige Zustand Europas nicht einfach vergessen und vergeben ist, sondern im kollektiven Gedächtnis der Völker nachwirkt oder von Politikern und Medien wieder in Erinnerung gerufen werden kann. Wer darin eine Bestätigung dafür sieht, dass 60 Jahre Europa-Politik vergebens gewesen seien, hat keine Vorstellung davon, was eine solche Krise zu früheren Zeiten angerichtet hätte, als es noch keine gemeinsamen Institutionen und regelmäßig tagenden Räte gab, in denen (...) immer wieder neue - und sei es kurzfristig unzureichende - Kompromisse geschmiedet werden." [1]Zweifellos haben die Gemeinschaftsinstitutionen der EU einen erheblichen Beitrag zur Zivilisierung der Interessenkonflikte geleistet, die 2008 mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ausbrachen, in der Staatsschuldenkrise seit Ende 2009 eskalierten und schließlich zur Eurokrise führten. Aber gemessen am Regelungsbedarf des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus wie auch der unter Konstruktionsschwächen leidenden Währungsunion fällt die Bewertung der Europäischen Zentralbank, des Europäischen Rates und der Kommission sowie des Europäischen Parlaments schlechter aus: Für den "Aufbau politischer Handlungsfähigkeiten jenseits der Nationalstaaten" fehle ihnen die Kraft, so der Philosoph Jürgen Habermas.[2] Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und die Währungsunion aufs engste miteinander verflochten, stoßen sie auf Widerstände, welche die gemeinsame politische Bewältigung der tiefsten Krise seit ihrer Gründung blockieren. Diese Blockaden wurzeln nicht nur in den widersprüchlichen Interessenlagen des demokratischen Kapitalismus oder sind der Führungsschwäche nationaler und europapolitischer Eliten zuzuschreiben. Nicht zuletzt liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der komplexen Krisendynamiken in "Europas bedrückender Erbschaft"[3] - Erinnerungskonflikten zwischen den kollektiven Gedächtnissen der Völker. Denn die in den europäischen Kriegen des 20. Jahrhunderts und unter zwei totalitären Regimes erlittenen Gewaltexzesse und Zivilisationsbrüche sind bislang weder völlig vergessen noch vergeben.
Als ein Beispiel mögen die im Kontext der südeuropäischen Staatsschuldenkrise wieder aufkommenden Forderungen nach deutschen Kriegsreparationszahlungen dienen: In der Perspektive historischer Gerechtigkeit wird der ökonomische Terminus der Staatsschulden zur "staatlichen Schuld" umgedeutet - und damit der Anspruch auf Leistungen Deutschlands zur Rettung des Euro als verspätete Kriegsreparationszahlung gerechtfertigt.[4] Auch geht die Furcht vor einem erneuten Versuch der Germanisierung Europas - diesmal vermittelt durch deutsche Spardiktate - um. Andererseits lassen sich unter den Deutschen leichter als anderswo kollektive Erinnerungen an traumatische Inflationserfahrungen gegen eine "Transferunion" mobilisieren.[5] Zusammengefasst stellt sich das Europa des 21. Jahrhunderts, durch das Prisma gegenläufiger kollektiver Erinnerungen betrachtet, als ein diskursives "Schlachtfeld" dar, in welchem "der Kampf um die europäische Erinnerung" zur Normalität geworden ist.[6] Imre Kertész sprach in diesem Zusammenhang von europäischen Wunden, die noch nicht verheilt seien: Es sei viel von der Kultur des alten Europa die Rede, unberücksichtigt aber bliebe, dass in Europa der größte Zivilisationsbruch seinen Anfang genommen habe; Ergebnis dieses beredten Schweigens sei ein immer noch geteiltes Europa.[7]
In seiner 1996 publizierten Diagnose des Dilemmas von "Integration und Demokratie" hatte Peter Graf Kielmansegg dieses Fehlen einer "europäischen Erinnerungsgemeinschaft" als Legitimitätsschwäche der EU interpretiert: "Es sind Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft."[8] Soweit es aber "keine belastbare kollektive Identität der Europäer als Europäer" gebe, argumentierte Kielmansegg, sei die EU nur in sehr begrenztem Maße "demokratiefähig" und müsse ihre Legitimation wesentlich aus den Mitgliedstaaten beziehen.[9]
Gegenüber solchen homogenisierenden, staatszentristischen Projektionen auf die EU zeigt die neuere Debatte zur Frage einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft stärker differenzierte Perspektiven auf.[10] Die Heterogenität und Dynamik des "Erinnerungsraums Europa" wird zum Gegenstand eines interdisziplinären Forschungsfeldes, zu dessen Vermessung sowohl historische[11] , literatur- und kulturwissenschaftliche[12] sowie kultursoziologische[13] als auch rechtswissenschaftliche[14] , sozialpsychologische[15] und sozial-[16] und politikwissenschaftliche[17] Ansätze und Methoden beitragen. Darin geht es um unterschiedlichste kommunikative und kulturelle Medien der Erinnerung beziehungsweise des kollektiven Gedächtnisses, wobei Literatur, Film, wissenschaftliche Publikationen, Massenmedien, Gerichtsakten und öffentlich zugängliche Archive gleichermaßen einbezogen werden wie die räumliche Dimension von Erinnerungsorten, mit ihrem Zusammenspiel von lokalen, regionalen und nationalen Verflechtungen und Zirkulationen.[18]
Der folgende Abriss zu dieser Debatte um Gedächtniskulturen und Erinnerungskonflikte in Europa stellt drei Kernfragen in den Mittelpunkt: Welches sind die Konfliktmuster von Erinnern und Verschweigen im "alten Europa"? Welche neuen kollektiven Gedächtniskonstellationen zeichnen sich im Osten Europas ab? Und auf welche Weise lassen sich Konflikte innerhalb der zerklüfteten europäischen Erinnerungslandschaft vermitteln? Damit soll gezeigt werden, dass in der nach Ost- und Südosteuropa erweiterten EU eine gesamteuropäische homogene Erinnerungsgemeinschaft nicht erkennbar ist und dass Versuche, die unterschiedlichen Erinnerungskulturen der alten und neuen Mitgliedstaaten zu vergemeinschaften, weder aussichtsreich noch - unter dem Gesichtspunkt einer politischen Union Europas - notwendig erscheinen.