Politischer Islam in Indonesien seit 1998
Moderater Islam in der Parteipolitik
Obwohl sich seit den 1950er Jahren nach Ansicht der meisten Indonesien-Experten und Islamwissenschaftler eine viele Bereiche umfassende Islamisierung vollzogen hat, lässt sich eine Schwächung islamischer bzw. islamistischer Parteien konstatieren. 1955 bekamen die beiden stärksten islamischen Parteien (die in der Verfassunggebenden Versammlung Ende der 1950er Jahre islamistische Positionen einnahmen), Nahdatul Ulama und Masyumi, zusammen knapp 40 Prozent der Stimmen. Damals ergab sich eine Art Pattsituation zwischen säkularen und islamischen bzw. islamistischen Parteien. Bei den Wahlen 1999, den ersten fairen und freien Wahlen seit 1955, waren hingegen säkular orientierte Parteien eindeutig am erfolgreichsten. Zu den säkularen Kräften zählen unter anderem viele Mitglieder der Partei der Ex-Präsidentin Megawati Sukarnoputri, PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan, "Demokratische Partei Indonesien-Kampf"), der Partai Golkar (die unter Suharto Regierungspartei gewesen ist) und der relativ neuen Partai Demokrat des jetzigen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono. Die drei größten islamistischen Parteien erhielten dagegen zusammen nur rund 14 Prozent (1999), 18 Prozent (2004) bzw. 13 Prozent (2009) der Stimmen.[22]Die wichtigsten Ämter werden entweder von den Säkularisten oder von den laizistisch orientierten Muslimen besetzt, die unter anderem zur PKB (Partai Kebangkitan Bangsa, "Partei des Volkserwachens") und der PAN (Partai Amanat Nasional, "Partei des Nationalen Mandats") gehören. Die PKB entstand im traditionalistischen Milieu, in dem alte javanische Glaubenspraktiken eher toleriert und Angehörige aus bestimmten ulama-Familien besonders verehrt werden. Diese ulama betreiben in vielen Fällen Internate (pesantren) und stehen an der Spitze der schon erwähnten Nahdatul Ulama, die eine Zeit lang selbst eine politische Partei gewesen ist und heute - in einer sehr vagen Definition - 40 Millionen Mitglieder haben soll. Die PAN entstammt im Gegensatz dazu einem modernistischen, urban geprägten Milieu im Umfeld der angeblich 30 bis 35 Millionen Mitglieder starken Muhammadiyah. Allerdings sind die Beziehungen dieser insgesamt moderaten, zum Teil liberalen Massenorganisationen zu den beiden Parteien in den vergangenen Jahren immer mehr gelockert worden.[23]
Warum spiegeln sich die oben angeführten Umfrageergebnisse und der allgemein verzeichnete Aufstieg eines zunehmend kämpferischen Islams nicht in den Wahlergebnissen wider? Offensichtlich trennen die indonesischen Wählerinnen und Wähler zwar häufig nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis zwischen Religion und Politik, denn die religiösen Parteien haben durch Korruption und Machtpolitik ihre Glaubwürdigkeit zum Teil verspielt. Das gilt auch für die PKS, die mehrere Jahre lang als die einzige Partei galt, die nicht von money politics beschmutzt worden ist.[24] Politiker egal welcher Partei werden häufig als Teil der kartellartig zusammengeschlossenen politischen Klasse angesehen, die in großen Koalitionen und in Hinterzimmern Posten auskungeln und Schmiergelder zahlen. Die PKS kommt aber auch deshalb über ihre knapp acht Prozent nicht hinaus, weil sie - anders als die AKP in der Türkei oder die Islamisten in Ägypten - bisher nicht in der Lage war, neue Wählergruppen für sich zu gewinnen und ihren relativ engen Fokus auf urbane Mittelschichten zu weiten. Die Partei ist aber im Laufe der Jahre pragmatischer geworden.[25] Beim nationalen Kongress im Juli 2010 präsentierte sie sich als Partei der Mitte, die auch Nicht-Muslime aufnimmt. Und bei dem Parteitag 2011 in Yogyakarta öffnete sie sich sogar der javanischen, synkretistischen Kultur.[26]