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Digitale Politik und Partizipation: Möglichkeiten und Grenzen

Daniel Roleff

/ 15 Minuten zu lesen

Die Ausweitung der Bürger-Staat-Beziehung auf den digitalen Raum ist weder ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit noch ein Angriff auf das demokratische System. Die digitalen Medien ergänzen Altbewährtes.

Einleitung

Vor etwa zehn Jahren befand sich der Londoner Bezirk Redbridge in einem Dilemma. Zum einen war die Kommune durch gesetzliche Vorgaben dazu gezwungen, bestimmte Investitionen in die lokale Infrastruktur zu tätigen, insbesondere in die Bildungseinrichtungen. Allerdings litt der Bezirk wie die meisten britischen Kommunalverwaltungen unter chronischer Unterfinanzierung. Zum anderen scheute sich die konservative Führung aber vor einseitig verordneten Steuer- und Gebührenerhöhungen, da dies den seit den 1980er Jahren stetigen Abwärtstrend der Partei in Redbridge weiter befeuert hätte. Roger Hampson, der oberste Verwaltungsbeamte des Bezirks, initiierte daraufhin 2008 das Projekt "Redbridge Conversation", eine Mischung aus Bürgerhaushalt und Wirtschaftssimulation. Ziel war es, die Bürgerinnen und Bürger Einsparvorschläge formulieren zu lassen und somit bei der Gestaltung der Investitions- und Sparmaßnahmen einzubinden. Die Beteiligung am Konsultationsverfahren war online wie auch offline möglich, die Mehrheit der Teilnehmenden allerdings übermittelte ihre Vorschläge über das Internet. Die Ergebnisse der Befragung lieferten der Verwaltung eine eindeutige Handlungsempfehlung: lieber Grundstücksverkäufe statt Steuererhöhung, eher bessere Schulausstattung statt sozialem Wohnungsbau.

Ähnlich wie in Redbridge gibt es seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland einen Trend zu mehr Bürgerbeteiligung über das Internet. In gut 94 Kommunen werden mittlerweile Bürgerhaushalte organisiert oder sind zumindest angedacht. Auch der Bund und die Länder greifen in ihren Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen vermehrt auf digitale Kanäle zurück, sei es zu Kommunikations-, Verwaltungs- oder Konsultationszwecken. Umgekehrt finden auch immer mehr politisch interessierte und engagierte Bürger, Vereine und Initiativen den Weg ins Netz, um ihre Meinung zu äußern, für politische Anliegen zu streiten oder Entscheidungen zu beeinflussen. Es etabliert sich eine digitale Bürger-Staat-Beziehung: die "E(lektronische)-Demokratie".

Teilweise teilhaben

Staat und Bürger nutzen das Netz in wachsendem Maße aus einem einfachen Grund: Weil es möglich ist. Die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft führt zu Veränderungen der Teilhabemöglichkeiten und zu einem neuen Selbstverständnis im Kommunikations- und Interaktionsverhalten. War die Ursprungsform des Internets, das sogenannte Arpanet (Advanced Research Projects Agency Network), nur mit komplizierten Kommandozeilen bedienbar, sind die heutigen Instrumente der Interaktion für die Allgemeinheit viel leichter nutzbar. Ehemalige mediale gatekeeper, seien es staatliche oder private Stellen, haben nur noch beschränkte Zugangs- und Verbreitungskontrolle über Inhalte oder Angebote, und auch das nicht, ohne grundlegende rechtsstaatliche Fragen aufzuwerfen. Programmier- und IT-Kenntnisse verbreiten sich in der Bevölkerung immer weiter und werden in vielen Berufsbereichen als selbstverständliche Basisqualifikationen vorausgesetzt. Technische Infrastruktur ist finanziell erschwinglich, bequem erreichbar und innerhalb von Minuten einzurichten. Und dieses Angebot wird auch angenommen. Laut dem (N)Onliner Atlas 2011 sind drei Viertel der Deutschen regelmäßig online, Tendenz steigend. Fast jede Stadt oder Kommune sowie jedes Landes- und Bundesministerium verfügen mittlerweile über eigene Portal- und Serviceseiten.

Diese Tendenz kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Bezug auf die digitale Teilhabe auch in Deutschland noch infrastrukturelle und sozial-gesellschaftliche Ungleichheiten existieren. Ein immer wiederkehrender Begriff in der Diskussion um den gleichberechtigten Zugang zum Internet ist der digital divide, die digitale Spaltung bzw. Kluft. Die klassische Definition der digitalen Spaltung beschreibt den Unterschied zwischen den "Onlinern" und den "Offlinern", also zwischen jenen, die Zugang zum Internet haben, und jenen, die über keinen Zugang verfügen. Diese Kluft ist in Deutschland relativ klein und nur in einer differenzierten Betrachtung von Breitbandverfügbarkeit in den Städten und in ländlichen Regionen messbar. Dem Breitbandatlas 2011 zufolge haben 98,7 Prozent der deutschen Haushalte die Möglichkeit, mit einem Internetanschluss mit einer Datenübertragungsrate von mindestens einem Megabit pro Sekunde (Mbit/s) versorgt zu werden. Dabei sind die Städte in Deutschland (99,9 Prozent Breitbandausbau) nahezu komplett digital erschlossen, in den ländlichen Regionen (88,6 Prozent) finden sich noch vereinzelte weiße Flecken. Die östlichen Bundesländer (außer Berlin) sind dabei im Vergleich schlechter versorgt als die westlichen.

Anders verhält es sich bei der Versorgung der Haushalte mit Internetanschlüssen jenseits der Grundversorgung von einem Mbit/s. Hier fällt der Unterschied zwischen Internetnutzern mit langsamem und Nutzern mit schnellem Breitbandzugang sehr viel größer aus. Rund 85 Prozent der deutschen Haushalte könnten mit einem Anschluss von sechs Mbit/s ausgestattet werden, 69 Prozent mit 16 Mbit/s und 41 Prozent mit der neuen VDSL-Technologie, die eine Downloadgeschwindigkeit bis zu 50 Mbit/s bietet. Die Ost-West-Spaltung bzw. der Unterschied von ländlichen und städtischen Gebieten ist in diesen Breitbandkategorien sehr auffällig. Die digitale Kluft bei der Versorgungsgeschwindigkeit wirkt sich besonders für die Nutzung von sogenannten Web-2.0-Angeboten aus, da dort teilweise große Datenmengen übertragen werden. Zum Beispiel ist der Livestream einer Bundestagssitzung für einen Hamburger sehr viel leichter zu empfangen als für einen Haushalt im brandenburgischen Landkreis Uckermark.

Die Politik hat dieses Problem erkannt und versucht mit verschiedenen Ansätzen, die infrastrukturelle Kluft bei der Internetversorgung zu schließen. Neben der Breitbandinitiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie gibt es auch in vielen Bundesländern die Absicht zur Breitbandförderung wie etwa den Breitband-Masterplan in Nordrhein-Westfalen. Die Handlungsspielräume von Bund, Ländern und Kommunen sind dabei allerdings beschränkt, da der Telekommunikationssektor privatisiert ist und der Ausbau der Kommunikationsinfrastruktur dem Markt überlassen wird. Politische Unterstützung beim Breitbandausbau beschränkt sich daher meist auf finanzielle Förderung und strategische Kooperationsvereinbarungen.

Neben der infrastrukturellen Kluft lassen sich jedoch auch sozial-gesellschaftliche Unterschiede bei der Internetnutzung belegen. Laut (N)Onliner-Atlas nutzen Männer das Netz häufiger als Frauen, Jüngere öfter als Ältere, Westdeutsche mehr als Ostdeutsche, Menschen mit formal hohem Bildungsgrad intensiver als Menschen mit formal einfachem Bildungsgrad, Reiche eher als Arme. Gerade bei Alter, Bildung und Einkommen ist der Graben zwischen "Onlinern" und "Offlinern" sehr groß.

Eine der Hauptursachen für den digital divide zwischen den Generationen ist sicherlich die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts. Das Internet in seiner massentauglichen Präsentationsform gibt es seit Anfang der 1990er Jahre, ähnliches gilt für das Mobilfunknetz. Das bedeutet, dass viele der Menschen, die bis zum Jahr 2000 aus dem Beruf ausgeschieden sind, kaum oder gar nicht mit diesen neuen Kommunikationsmedien in Berührung gekommen sind. Eine ähnliche Schere lässt sich beobachten, wenn man die Internetnutzer nach ihrem Bildungsgrad und Einkommen differenziert. Der Anteil der "Onliner" bei Bevölkerungsgruppen mit Abitur liegt bei rund 90 Prozent, der Anteil bei Befragten mit Volksschulabschluss bei 51 Prozent. Die Nutzung des Internets scheint auch eine Kostenfrage zu sein: Haushalte mit mehr als 3000 Euro Monatseinkommen nutzen zu 92 Prozent das Internet, bei Haushalten unter 1000 Euro Monatseinkommen liegt die Nutzungsrate bei 53 Prozent.

Die Implikationen dieser infrastrukturellen und sozial-gesellschaftlichen Unterschiede in der Internetnutzung sind nicht trivial. Auf der einen Seite steht der Prozess der Demokratisierung von "politischen Produktions- und Aktionsmitteln" und die teilweise Digitalisierung der Staat-Bürger-Beziehungen. Auf der anderen Seite ist das Internet eben doch kein eindeutiges Massenmedium, sondern spricht tendenziell einige Zielgruppen mehr an als andere. Regieren und Verwalten im und über das Internet ermöglicht in vielen Punkten eine erweiterte demokratische Teilhabe, aber eben nicht für alle Bürger in gleichem Maße. E-Demokratie ist insofern nicht nur elektronisch, sondern in gewisser Weise auch exklusiv.

Das große E

Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Bürger-Staat-Beziehungen wurde auch der Diskurs über diese Entwicklung mit neuen Begriffen angereichert. Die prominentesten dieser Wortneuschöpfungen sind "E-Demokratie", "E-Government" und "E-Partizipation", die allesamt eng miteinander verknüpft sind und in den Debatten über digitale Politik manchmal fälschlicherweise synonym verwendet werden. Dabei entspricht die Beziehung zwischen E-Demokratie auf der einen sowie E-Government und E-Partizipation auf der anderen Seite derselben hierarchischen Abstufung wie auch Demokratie, Regierung und Bürgerbeteiligung in der "analogen" Welt: E-Demokratie spiegelt einen Ausschnitt von demokratischen Prozessen und Strukturen zwischen Bürger und Staat im Internet wider. E-Government dagegen bildet eine Unterkategorie der elektronischen Demokratie, nämlich "die elektronische Abwicklung der Geschäftsprozesse von Verwaltung und Regierung", was auch die sogenannte E-Administration (elektronische Verwaltung) einschließt. E-Partizipation schließlich bildet die zweite Unterkategorie der E-Demokratie, allerdings ist diese weniger in Gesetzesbüchern als im wissenschaftlichen Diskurs konstituiert.

In der Demokratieforschung werden gewöhnlich drei essenzielle Grundpfeiler für eine nachhaltige und stabile demokratische Staatsform unterschieden: Transparenz, Legitimation und Partizipation. Angewandt auf die E-Demokratie in Deutschland sind die Herstellung von Offenheit von Regierungshandeln (Transparenz) und die Beteiligung von Bürgern (Partizipation) in der Praxis die beiden relevantesten Handlungsfelder. E-Voting, das heißt die elektronische Umsetzung von freien und geheimen Wahlen (Legitimation), spielt dagegen weder im netzpolitischen Diskurs noch in der Anwendung eine bedeutende Rolle. Die technischen Unsicherheiten und die Manipulationsanfälligkeit von Wahlcomputern wurden nicht zuletzt 2009 vom Bundesverfassungsgericht bemängelt.

Die E-Demokratie bildet eine Ergänzung und Erweiterung der Bürger-Staat-Beziehungen auf digitaler Ebene. Und ähnlich wie in der Offline-Welt gibt es auch beim E-Government und der E-Partizipation die gleichen Transferrichtungen: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich "von unten" (bottom up), der Staat agiert "von oben" (top down).

Partizipation von unten

Die überwiegende Mehrheit der bottom-up-Bewegungen im Internet lassen sich entweder als Partizipationsplattformen oder Transparenzinitiativen einordnen. Partizipationsformate reichen von Kampagnenplattformen über Online-Petitionen bis hin zum Internet-Ratgeber. Die Initiatoren sind dabei sowohl einzelne Bürgerinnen und Bürger als auch Nichtregierungsorganisationen.

Transparenzinitiativen untersuchen häufig Abstimmungsverhalten, Spendenpraktiken oder Anwesenheitszeiten der Abgeordneten im Parlament. Mehr Transparenz fördert mehr Demokratie - so zumindest die Annahme der Initiatoren. Sie durchleuchten oder hinterfragen die parlamentarische Arbeit von Politikern, etwa auf dem Portal "abgeordnetenwatch.de". Die Quellen, aus denen sich viele Transparenzportale speisen, sind öffentlich zugängliche Daten, ihre Werkzeuge sind oft visuelle Applikationen, welche die Fülle von Informationen verdichten und über eine grafische Ausgabe einen niedrigschwelligen Zugang zu komplexen Prozessstrukturen bieten.

Regieren von oben

Das E-Government teilt sich hauptsächlich in zwei große Bereiche: die elektronische Verwaltung und die digitale Konsultation. Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen in der Verwaltung soll administrative Prozesse vereinfachen und den Bürgern mehr Service bieten. Ferner soll die Verbesserung der Zusammenarbeit verschiedener Verwaltungsstellen untereinander mit Hilfe der elektronischen Medien Kosten einsparen.

Noch gibt es keine aussagekräftigen und fundierten Studien, die diese Ansprüche bestätigen. Allerdings ist es Fakt, dass der Bürgerservice im Internet seit Ende der 1990er Jahre stetig ausgeweitet wurde, entscheidend gefördert durch die von 1999 bis 2003 laufende Initiative " E-Mail Link: Media@Komm" der Bundesregierung. Formulare erhalten, Termine vereinbaren, Informationen einholen: Teile der klassischen Dienstleistungen von deutschen Amtsstuben gehören mittlerweile zum Standardrepertoire von Kommunal- und Städteportalen im Internet. Und auch die Fortschritte im Bereich der elektronischen Zertifizierung und Signatur lassen theoretisch immer umfangreichere rechtsverbindliche Verwaltungsakte über das Netz zu. Dort sind die Vorbehalte allerdings auf Seiten der Anbieter wie auch der "Kunden" noch relativ hoch, da zeitgleich mit der Ausweitung der digitalen Möglichkeiten auch die Missbrauchsmöglichkeiten steigen. Die Kriminalstatistik bestätigt die Skeptiker: Für das Jahr 2010 weist sie einen enormen Anstieg der sogenannten Internetkriminalität aus, besonders im Bereich Daten- und Identitätsklau.

Während die Digitalisierung der Verwaltung als Pflichtprogramm angesehen werden kann, haben sich im Bereich des E-Governments einige konsultative und "kollaborative" Formate zu einer Art Kür entwickelt, die mittlerweile von immer mehr staatlichen und privaten Akteuren angenommen werden. Dazu gehört insbesondere die Einführung der bereits erwähnten Beteiligungshaushalte, bei denen Bürger über Teile der Haushaltsmittel mitentscheiden können. Weitere Beispiele sind interaktive Bauleitplanungen oder themenbezogene Internetdiskurse, wie zum Beispiel die von der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags "Internet und digitale Gesellschaft" eingesetzte Diskussionssoftware "Adhocracy", durch welche sich Bürgerinnen und Bürger direkt in die Kommissionsarbeit einbringen können.

Der Sinn solcher Bürgerkonsultationen dient zum einen der Erweiterung des Sichtfeldes bei politischen Fragen: Durch die Einbeziehung einer größerer Anzahl von Akteuren vergrößert sich die zur Verfügung stehende Informationsmasse und Ideenvielfalt. Zum anderen stärkt der vorangestellte Bürgerdialog auch die Legitimation von politischen Entscheidungen, insbesondere von so unpopulären wie zum Beispiel Sparmaßnahmen. Ein Vorwurf, dem sich viele solcher Konsultationsformate ausgesetzt sehen, ist die fehlende Verbindlichkeit von Ergebnissen am Ende des Prozesses. Wozu soll ein Dialog geführt werden, wenn er nicht in konkreten Resultaten mündet? Einige Studien argumentieren dagegen, dass Rechtsverbindlichkeit bei konsultativen Partizipationsprozessen weder ein Erfolgs- noch Misserfolgsfaktor ist.

Open Government - eine neue Staatskunst?

Die neue Art des "kollaborativen" und offenen Regierens, die eng mit der Kommunikation über digitale Kanäle verknüpft ist, wird oftmals auch als Open Government beschrieben. Dieser Sammelbegriff steht für eine ganze Reihe unterschiedlicher Konzepte und Visionen, die sich mit bestimmten Facetten einer Öffnung von Staat und Verwaltung auseinandersetzen. Unter Schlagworten wie "Transparenz 2.0", "Partizipation 2.0" oder "Kollaboration 2.0" sind damit unter anderem Überlegungen zu freien Daten, offenen Standards, offenen Schnittstellen, quelloffener Software und offenen Kommunikationssystemen verbunden.

Die Bundesregierung ist auf diesem Gebiet bereits aktiv. Das Bundesministerium des Innern (BMI) zum Beispiel arbeitet bereits an einer Open-Government-Plattform. Der IT-Planungsrat beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit dem Thema, und das Finanzressort arbeitet an einer Plattform für einen "offenen Haushalt", eine niedrigschwellige und grafisch leicht zugängliche Darstellung des Bundeshaushalts. Auch das Regierungsprogramm "Vernetzte und transparente Verwaltung" beinhaltet Open Government als Mittel zur Verwaltungsmodernisierung. Zurzeit sind die treibenden Kräfte dieser Bewegung oftmals noch außerhalb der Regierung und den Verwaltungen zu finden, es ist auf diesem Gebiet aber eine steigende Tendenz von öffentlich-privaten Kooperationen erkennbar.

Eine solche Änderung vom "klassischen" Regieren hin zu einer neuen, offenen Staatskunst bedeutet nicht nur die reine Implementation von Portalen und Software, sondern auch einen Kulturwechsel, insbesondere auf höchster politischer Ebene. Als positive Beispiele werden in diesem Zusammenhang oft US-Präsident Barack Obama und der frühere britische Ministerpräsident Gordon Brown genannt, die durch klare Direktiven ihren jeweiligen Regierungen und Verwaltungen eine Open-Government-Strategie verschrieben, in der Verantwortung, Rechenschaft und die zu liefernden Leistungen definiert sind.

Offene Staatskunst mit offenen Daten

Die Debatte um die Offenlegung von öffentlichen Datenbeständen im Internet hat in den vergangenen Jahren stark an Fahrt aufgenommen. Im Kern geht es bei der Diskussion darum, inwiefern die von öffentlichen Stellen erhobenen Daten allgemein zugänglich gemacht werden sollen. Die Befürworter von offenen Daten argumentieren, dass die von Verwaltung und Politik generierten Datenbestände eine bislang kaum erschlossene Wissensressource darstellen. Die strukturierte Veröffentlichung von Informationen aus Bereichen wie Verbraucherschutz, Umwelt, Verkehr oder Gesundheit seien ebenso wie politische Datensammlungen die Grundlage für innovative Angebote und Dienstleistungen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Politisch wird zudem oft mit der Bedeutung von Transparenz argumentiert: Nur aufgeklärte und wissende Bürger könnten ernsthaft an demokratischen Prozessen teilhaben. Wer zum Beispiel wisse, wohin Steuergelder fließen oder wie Subventionen genau verteilt werden, sei auch in der Lage, diese Prozesse kritisch und konstruktiv zu begleiten.

Häufige Gegenargumente der Verwaltung, Daten nicht freizugeben, sind die Mehrkosten und die Vertraulichkeit von einigen Datenbeständen. Besonders das Kostenargument hat dabei Gewicht. Denn damit offene Daten überhaupt genutzt werden können, müssen sie in maschinenlesbaren Formaten vorliegen. Der Bundestag zum Beispiel veröffentlicht die meisten seiner Daten als Drucksache im Portable Document Format (PDF), ein Format, das nur schwer bis gar nicht von Computern ausgelesen werden kann. Eine Umstellung bei der Bereitstellung von Daten ist mit Mehrkosten verbunden, die größtenteils aus den laufenden Haushalten bestritten werden müssten, das heißt, für die de facto kein Geld übrig ist.

Dennoch wächst auch hier die Bereitschaft auf Seiten der Politik und der Verwaltung, sich dem Thema zu öffnen. So unterstützt das BMI einen Open-Data-Wettbewerb ("Apps für Deutschland") und arbeitet an einer Open-Data-Plattform, die auf Open-Data-Angebote in Bund, Ländern und Gemeinden verlinkt. Vorbilder sind auch hier die USA und Großbritannien, die mit "data.gov" bzw. "data.gov.uk" solche Plattformen bereits realisiert haben.

Netzpolitik - eine neue Politik

Netzpolitik beschreibt im Kern ein Politikfeld um netzkulturelle Fragen und gehört zu den neuesten Ressorts, die in Politik und Verwaltung als solches wahrgenommen werden. Sowohl die öffentlichen Stellen wie auch die Parteien haben sich in der Vergangenheit schwergetan, sich ernsthaft und nachhaltig mit diesem Gesamtkomplex auseinanderzusetzen. Dies liegt hauptsächlich daran, dass Netzpolitik ein Querschnittressort ist, das in jedem bereits seit langem etablierten Politikfeld in irgendeiner Form seine Anwendung findet. Das Internet ist für einige Referate im Bundeswirtschaftsministerium genauso von Bedeutung wie für das BMI oder das Bundesministerium der Justiz - jedoch immer mit einem anderen Fokus. Denn die Politik kann sich mit dem Internet an sich auseinandersetzen (seiner Architektur, seiner Steuerung, Standardisierungsfragen) oder aber auch Problemfragen behandeln, die mit der verstärkten Nutzung des Internets auftreten (Jugendschutz, Datenschutz, Urheber- und Verwertungsrechte, Persönlichkeitsrechte). Standen diese beiden Themenkomplexe schon seit längerem bei Politik und Verwaltung auf der Tagesordnung, ist ein dritter Aspekt - Politik durch das Netz - erst seit ein paar Jahren in den Vordergrund gerückt.

Einen großen Schub hat das Thema in Deutschland seit der Bundestagswahl 2009 erfahren. Bereits der Wahlkampf stand ganz im Zeichen des Internets, geprägt auch durch die digitale Wahlschlacht zwischen Nicolas Sarkozy und Marie-Ségolène Royal um das französische Präsidentenamt 2007 sowie den erfolgreichen Online-Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama 2008. Thematisch wurde der Wahlkampf in Deutschland wie auch der Start der schwarz-gelben Koalition nach der Wahl maßgeblich von der Diskussion um das Zugangserschwerungsgesetz ("Gesetz zur Erschwerung des Zugang zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen") begleitet. Diese rief eine bisher beispiellose Aktivität von Gegnern und Befürwortern sowohl im als auch außerhalb des Internets hervor. Die Spiegelung dieses Themas in klassischen Leitmedien trug dazu bei, den Begriff "Netzpolitik" in weiten Kreisen der Bevölkerung zu verankern. Schließlich fand das Politikfeld auch institutionell nach der Wahl 2009 einen Rahmen, sowohl durch die Einsetzung der Internet-Enquête wie auch durch die erstmalige Benennung von netzpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen.

In den vergangenen drei Jahren haben die im Bundestag vertretenen Parteien auch begonnen, spezielle netzpolitische Grundsatzpapiere oder -positionen zu formulieren. Viel Beachtung gefunden hat zum Beispiel das Positionspapier des CSU-Netzrates vom Januar 2011. Dort werden die Themen E-Government, Open Government, Open Data und Transparenz als große Chancen für die Weiterentwicklung der Demokratie beschrieben. Für Bündnis 90/Die Grünen sind viele Ziele des Open-Government-Grundsatzes ureigene Parteimerkmale - insbesondere die basisdemokratische Ausprägung der digitalen Teilhabe -, die in mehreren Fraktionsbeschlüssen noch einmal betont wurden. Auch die FDP hat in ihrem Deutschlandprogramm von 2009 den Anspruch formuliert, dass sie durch mehr Transparenz und mehr Beteiligungsmöglichkeiten die Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirken lassen möchte.

Digital entert Politik

Ein besonderes Phänomen der erweiterten netzpolitischen Debatte der vergangenen Jahre ist die Entstehung und die Etablierung einer "Internet-Partei", der Piratenpartei. Ihr Hauptanliegen ist die informationelle Selbstbestimmung; ihren inhaltlichen Fokus legt sie dabei auf digitale Kommunikationstechniken. Neben einigen Achtungserfolgen bei Wahlen auf bundes-, landes- und kommunaler Ebene - unter anderem ist die Piratenpartei seit Oktober 2011 im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten - fand auch ein neues, von den Piraten vertretenes und praktiziertes Demokratiekonzept viel Beachtung: liquid democracy.

In der Essenz handelt es sich bei diesem Konzept um eine Mischform von repräsentativer und direkter Demokratie. In der klassischen repräsentativen Demokratie wird ein Delegierter für eine bestimmte Zeitspanne gewählt und trifft alle Entscheidungen im Parlament stellvertretend für die Wähler. Die Idee von liquid democracy ist es, dieses System etwas flexibler zu gestalten und die eigene Stimme ständig "im Fluss" zu halten, das heißt, von Fall zu Fall zu entscheiden, wann man seine Stimme an jemand anderen delegieren will und wann man lieber selbst abstimmen möchte. Anwendung findet diese Form von Entscheidungsfindung in verschiedenen Softwarelösungen. Von der Piratenpartei wird die Anwendung "Liquid Feedback" genutzt, um über das Netz zu innerparteilichen Entscheidungen zu gelangen. Eine weitere, bereits erwähnte Anwendung ist "Adhocracy", die nicht nur von der Internet-Enquête, sondern auch von der SPD oder der Linkspartei genutzt wird.

E-valuierung

Die fortschreitende Ausweitung der Bürger-Staat-Beziehungen auf den digitalen Raum ist weder ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit, wie von vielen Befürwortern suggeriert wird, noch ein Angriff auf die Demokratie, wie manche befürchten. Im kleinsten gemeinsamen Nenner ist es eine logische Entwicklung, gefördert durch die neuen technischen Möglichkeiten und einem damit einhergehenden demokratischen Selbstverständnis in Deutschland. Regieren und Verwalten bedeutet nicht mehr nur noch Gesetzgebung und Amtsstube, sondern auch Bürgerhaushalt und Formular-Download. Gleichfalls bedeutet demokratische Staatsbürgerschaft nicht mehr nur Wählen und Demonstrieren, sondern auch voten und posten. Demokratie wird ergänzt durch E-Demokratie, Regieren durch E-Government, Bürgerbeteiligung durch E-Partizipation.

In der empirischen Bewertung ist die digitale Politik jedoch noch weit entfernt vom Champion-Status. Die eingangs genannte "Redbridge Conversation" 2008 konnte zum Beispiel nur 3.900 Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen, ihre Vorschläge für den Bürgerhaushalt einzureichen - gemessen an der Gesamteinwohnerzahl von knapp 271.000 ein verschwindend geringer Prozentsatz. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die mehrheitlich geforderten Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung bis heute nicht von den lokalen Behörden umgesetzt worden sind. Andererseits gibt es einen generellen Konsens darüber, dass sich Politik und Bürger immer häufiger in der digitalen Polis gegenüberstehen werden. Die Erfahrungen von Redbridge 2010 sind gerade ausgewertet worden, die Vorbereitungen für die nächste Runde laufen bereits.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Initiative D21/TNS Infratest (Hrsg.), (N)Onliner Atlas 2011. Eine Topographie des digitalen Grabens durch Deutschland, Juli 2011, online: www.nonliner-atlas.de (4.1.2012).

  2. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Breitbandatlas 2011, online: www.zukunft-breitband.de/BBA/Navigation/breitbandatlas.html (4.1.2012).

  3. Vgl. (N)Onliner Atlas (Anm. 1).

  4. Bernd W. Wirtz/Sebastian Lütje/Paul G. Schierz, Electronic Procurement in der öffentlichen Verwaltung: Eine Analyse der Barrieren und Widerstände, Speyer 2008, S. 15.

  5. Vgl. Herbert Kubicek/Barbara Lippa/Alexander Koop, "Erfolgreich beteiligt?" Nutzen und Erfolgsfaktoren internetgestützter Bürgerbeteiligung, Gütersloh 2010; Kerstin Arbter, Handbuch Bürgerbeteiligung, Wien-Bregenz 2010.

  6. Vgl. Jörn von Lucke, Open Government. Öffnung von Staat und Verwaltung, Gutachten für die Deutsche Telekom AG zur T-City Friedrichshafen, Version vom 9.5.2010, online: www.zeppelin-university.de/deutsch/lehrstuehle/ticc/JvL-100509-Open_Government-V2.pdf (4.1.2012).

  7. Vgl. online: www.csu.de/dateien/partei/dokumente/
    110131_positionspapier_netzrat.pdf (4.1.2012).

  8. Vgl. online: www.fdp.de/files/565/Deutschland
    programm09_Endfassung.pdf (4.1.2012).

  9. Vgl. den Beitrag von Christoph Bieber in dieser Ausgabe.

M.A., geb. 1976; Politikwissenschaftler, Mitbegründer und Gesellschafter der Agentur buero fuer neues denken, Prenzlauer Allee 217, 10405 Berlin. E-Mail Link: roleff@bfnd.de