Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall
Ad-hoc-Entscheidungen werden immer häufiger notwendig oder eingefordert – über demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie durch Online-Abstimmungen und "Gefällt mir"-Klicks. Dies kann auch Auswirkungen auf die Qualität von Entscheidungen haben.Einleitung
Zeit ist eine Chiffre der Freiheit. Das Kennzeichen einer digital beschleunigten Demokratie ist jedoch Zeitarmut. Spitzenakteure müssen zunehmend in Echtzeit handeln. Exekutives und legislatives Politikmanagement haben sich extrem dynamisiert, ohne strukturell über adäquate zusätzliche Ressourcen zu verfügen. Die repräsentative parlamentarische Demokratie aber ist tendenziell entschleunigt getaktet. Parlamente sollen durch sorgfältige Beratung nach drei Lesungen zu einem Ergebnis kommen. Doch beschleunigte Ad-hoc-Entscheidungen werden immer häufiger notwendig oder eingefordert - über populäre direkte und demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie mit Online-Abstimmungen und "Gefällt-mir"-Klicks, welche die Politik zunehmend antreiben. So dominiert mittlerweile das dezisionistische Prinzip, das primär das schnelle Entscheiden, das Regieren im Minutentakt zum Ziel hat. Digitale Formate sind dabei die neuen Taktgeber.Auf die Zeitkrise des Politischen[1] - entschleunigte Beratung auf der einen Seite und beschleunigte Entscheidung auf der anderen - muss Politik reagieren. Nur wer Zeit für Entscheidungen hat, kann über Optionen nachdenken. Zeitknappheit ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, vielmehr leidet durch Rasanz in der Regel auch die Qualität der Entscheidungsfindung. Dies gilt im Hinblick auf fehlende Handlungsalternativen angesichts des Zeitdrucks, aber auch bezüglich der Transparenz der Entscheidungsvorbereitung. Die moderne Regierungsforschung kann zeigen, wie sich unter den Bedingungen der Beschleunigung die notwendige Balance zwischen Formalität und Informalität verschoben hat.[2] Wenn Zeit fehlt, wird jede Vorbereitung von politischen Entscheidungen in Regierungszentralen von Informalität dominiert. Dadurch minimiert sich nicht nur die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Recherche, auch die Legitimität des Verfahrens ist bedroht. Entscheidungsvorgänge in der Politik müssen deshalb immer mit der Frage verknüpft werden, wer letztlich die Entscheidungen fällt, wer sie zu verantworten hat, wie transparent sie fallen. Insofern ist das Suchen nach Informalitätskulturen auch immer mit der zentrale Frage "who governs?" verbunden.[3] Da digitale politische Prozesse (Stichwort E-Government[4] ) extrem abhängig sind von denjenigen, welche die Software erarbeiten, stellen sich neue Machtfragen zur Legitimität von Entscheidungsprozessen.[5]
Die digitale Demokratie arbeitet nicht nur mit anderen Instrumenten als die analoge Politik, digitale Kontexte bedeuten eine neue formative Phase für das politische Gemeinwesen und speziell für das politische Entscheiden. Nicht nur Stile und Modi des demokratischen Entscheidens ändern sich, sondern eine neue politische Arena öffnet sich. Diese Arena bedingt Zeitläufe, die eine enorme Ereignisdichte mit sich bringen und seit einigen Jahren das Risiko zum Regelfall der Politik machen. Für die politischen Spitzenakteure kommen infolge dieser Veränderungen immer mehr Entscheidungen als purer Stresstest daher. Ohne Risikokompetenz droht den Akteuren das politische Aus. Wie könnte so eine Risikokompetenz unter digitalen Bedingungen aussehen? Die aktuelle Kaskade von Krisen stellt jede Regierung vor besondere Probleme. Denn im Zentrum steht dabei nicht nur die Bewältigung im Sinne einer Problemlösung in Zeiten entfesselter Dynamiken, vielmehr zeigt sich im Politikmanagement um das Primat der Politik ein Kampf um den Ort und die Verteilung politischer Entscheidungsmacht.[6] Politische Akteure können sich aber durchaus auch in Zeiten des Gewissheitsschwundes strategische Potenziale erarbeiten, die ein nicht allein durch Zufälle und Inkrementalismus[7] dominiertes Politikmanagement ermöglichen. Risikokompetenz wäre dabei das auszubauende Potenzial.[8]
Parallel zu wachsenden Risiken entwickelt sich exponentiell politische Komplexität mit überraschenden Rückkopplungseffekten.[9] Immer mehr Akteure arbeiten in immer stärker globalisierten Verhandlungsformaten ohne hierarchische Handlungskoordination an Lösungen von komplexen Problemen.[10] Unter dem Druck der Ereignisdichte scheint sich ein neuer Rhythmus der Politik zu entwickeln. Für die politischen Entscheidungsträger werden auf vielen Ebenen Krisenreaktionskräfte wichtiger und bindender als Verträge. Wenn es serienmäßig zum Triumph des Unwahrscheinlichen über das Wahrscheinliche kommt, muss Politik stets das Überraschende erwarten, was sich heute häufig zunächst im digitalen Netz entwickelt. Der Zeitvorsprung des Internets ist uneinholbar. Was folgt daraus für das demokratische Entscheiden? Mit vier vorläufigen Antworten soll skizziert werden, wie daraus auch im digitalen Zeitalter mehr Demokratie erwachsen kann.