Sehr geehrter Herr Minister de Maizière,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
in seinem Tagebucheintrag vom 27. September 1936 schreibt der Romanist Victor Klemperer (1881–1960), dass es ihm mehr und mehr so vorkomme, als habe die NSDAP die Stimmung im Volk richtig eingeschätzt, "der jüdische Traum vom Deutschsein", so sein ernüchterter Befund, sei wohl doch nur ein Traum, nichts weiter, gewesen: "Das ist mir die bitterste Erkenntnis."
Dieses kurze Zitat aus einem der bedeutendsten Quellenbestände zum Alltag des "Dritten Reichs" markiert noch nicht die Erkenntnis des tiefen Risses, den der Holocaust als "Zivilisationsbruch" darstellt. Diesen Einschnitt konnte Klemperer im September 1936 so wenig voraussehen wie die meisten anderen Zeitgenossen. Historiker datieren ihn gewöhnlich mit dem Jahr 1941 oder 1942, also dem Beginn der systematischen Massentötungen von Juden, bzw. dem Anfang der generellen Ausrottungspolitik in Auschwitz; die Historiker Hans Mommsen und Helmut Walser Smith haben in den vergangenen Jahren jeweils genau zu dieser Wende von brutaler Diktatur zum Regime des Holocaust ein Buch publiziert.
Aber zum Zeitpunkt, als Klemperer diese Worte in Dresden niederschrieb, war die Lage für die deutschen Juden bedrohlich genug. In dieser "bittersten Erkenntnis" drückt sich sehr wohl bereits das Gefühl aus, eine umfassende Zerstörung zu erleben. Und zu dieser Zerstörung gehörte eben auch der Moment, in dem sich der in den 1920er Jahren noch ganz als zugehörig empfindende deutsche Akademiker Klemperer, der in seiner Jugend und als junger Erwachsener noch patriotisch-nationalistische Einstellungen vertreten hatte, aus Deutschland ausgeschlossen, verdrängt und hinausgewiesen fühlte. In seinen Aufzeichnungen, Beobachtungen und Reflexionen, die dieser Chronist der NS-Zeit sammelte, bündeln sich wie in einem Brennglas Szenen eines Zeitenwechsels, der natürlich nicht mit einem einzigen Datum zu fassen ist. Der Nationalsozialismus und diejenigen, die ihn politisch propagierten, hatten eine unmittelbare Wirkung auf die damalige Wirklichkeit. Durch die ideologischen Parolen der Nationalsozialisten, ihre politischen Entscheidungen und auch durch ihre Unterlassungen veränderte sich für die von Tag zu Tag immer stärker drangsalierten jüdischen Opfer der Blick auf Gegenwart und Zukunft und die Eintragungen Klemperers dokumentieren genau dies: Die "bitterste Einsicht" bestand darin, dass das, was einmal stolz "deutsch-jüdische Symbiose" genannt worden war, ganz offensichtlich einem Ende zuging...
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der 3. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung, zu der ich Sie hiermit herzlich willkommen heißen darf, möchten wir am heutigen internationalen Holocaust-Gedenktag – dem Tag, an dem das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit wurde –, die Diskussion damit zusammenhängender Fragen weiter fortsetzen und vertiefen.
Die Tagung wird in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der Stiftung Gedenkstätte deutscher Widerstand Berlin durchgeführt. Beiden Institutionen und ihren Vertretern – Professor Harald Welzer und Professor Johannes Tuchel – möchte ich bereits an dieser Stelle für die Vorbereitung und für die gute Zusammenarbeit sehr herzlich danken. Fortgesetzt wird die Diskussion insofern, als die Bundeszentrale für politische Bildung seit einer Reihe von Jahren einen ihrer Arbeitsschwerpunkte darin sieht, den internationalen Stand der historischen Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen zu diesem Thema in eine breitere und interessierte Öffentlichkeit zu tragen. So haben wir im Dezember 2006 und im Januar 2009 zwei international besetzte und viel beachtete Konferenzen zum Holocaust im transnationalen Gedächtnis und zur Täter-Forschung ausgerichtet. An der ersten von beiden war sogar noch – kurz von seinem Tod – Raul Hilberg beteiligt, derjenige also, der als junger Wissenschaftler mit der Erforschung des Holocaust überhaupt erst begonnen hatte. Seinen Berliner Vortrag finden Sie im Übrigen ungekürzt auf der Homepage der der bpb dokumentiert. Letztes Jahr waren wir zudem an einem ebenfalls von vielen Multiplikatoren, Lehrern, Schülern und Studenten besuchten Symposion zum Thema "Film und Holocaust" beteiligt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die wissenschaftliche Erforschung der NSDiktatur ermöglicht es uns heute, über 65 Jahre nach ihrem Ende, ein umfangreiches und detailgenaues Bild dieser Jahre zu zeichnen. Auch die Ergebnisse und Versäumnisse dieses komplexen Prozesses aus Erforschung und Erinnerung seit 1945 ist dabei zum Thema akademischer und öffentlicher Beschäftigung geworden. Peter Reichel hat dafür die Wendung von der "zweiten Geschichte des Nationalsozialismus" geprägt, nämlich jene (Zitat) "bis heute andauernde, konfliktreiche Geschichte der Schuldbewältigung und Schuldverdrängung, des politischen Wandels, des trauernden Gedenkens, des öffentlichen Erinnerns und Vergessens, der historiografischen Deutung und Umdeutung."v (Zitat Ende) Inzwischen gibt es sogar ein Lexikon und ein Wörterbuch zur "Vergangenheitsbewältigung", beide machen den Versuch, einen historischen Überblick und eine systematische Orientierung in diesem so vielstimmigen Forschungsgebiet zu bieten. Auch die heute beginnende Konferenz hat eine damit vergleichbare Funktion, doch möchten wir darüber hinaus auch zum Nachdenken, zum Fragen und zur Diskussion einladen, denn natürlich findet man in solchen Querschnitten der Forschung nicht die eine – oder gar die eine einfache – Antwort auf den zitierten, von Victor Klemperer 1936 festgehaltenen Eindruck, dass die "Mehrzahl des Volkes (...) zufrieden" scheint, "eine kleine Gruppe" Hitler lediglich "als das geringste Übel" wahrnehme und "niemand ihn wirklich los sein" wolle; die meisten, so noch einmal sein bitterer Originalwortlaut, hielten es, "soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlicher Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit zu empören."
In den kommenden beiden Tagen soll der Schwerpunkt der Konferenz dieses Mal auf der Frage nach dem Fehlen, bzw. dem so selten gewesenen "Empören" gestellt werden. Thema der Konferenz sind deswegen "Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands"; Ziel der Veranstaltung soll diesmal nicht sein, den Motiven und dem Handeln der Täter nachzugehen, sondern die Referentinnen und Referenten schauen auf Menschen, die sich dem Nazi-Regime verweigert haben, ihm politisch entgegentraten oder aber auf jene, die sich – mit den Worten Klemperers gesprochen – "empört haben". Menschen also, die in einer Zeit der Unmenschlichkeit einfach nur die grundlegenden Dinge des Zusammenlebens wie Anstand, Respekt, gegenseitige Hilfe und Beistand nicht fallen ließen, die es "opportun" fanden, sich gegen Unterdrückung, Verfolgung, Verlust politischer und bürgerlicher Freiheiten und dem Werteverfall in Wissenschaft und Gesellschaft entgegenzustellen.
Diese Helfer und Retter waren, wie wir heute wissen, keine Mehrheit; wir erfahren in den Tagebüchern Klemperers zwar von ihnen, denn er spielt die Hilfe, die er und seine Frau Eva im Alltag erhielten, keineswegs herunter, im Gegenteil. Es gab sie, aber es gab sie selten und wenn, dann waren es eher Einzelne, die sich trauten, zu helfen. Dabei bildeten sie keine soziologische Gruppe ab, sie waren vielmehr unterschiedlichster sozialer Herkunft und hatten keineswegs immer einen höheren Bildungsstand. Auch die Form, in der sie ihr "Nein" ausdrückten, war sie alles andere als einheitlich. Die erkenntnisleitende Frage dieser Tagung, die Wissenschaftler aus Großbritannien, Israel, den Vereinigten Staaten mit Praktikern der politischen Bildung, mit Multiplikatoren und mit Interessierten aus ganz Deutschland zusammenbringt, lautet deshalb, warum und wie jemand Helfer, Retter oder Netzwerker des Widerstands im Nationalsozialismus wurde, was sie oder ihn davon abhielt und welche Schlüsse wir aus diesen Fragen für Gegenwart und Zukunft ziehen können. Insofern freuen wir uns auf einen echten Dialog und an dem Transfer von Wissenschaft in die politische Bildungspraxis, dessen Förderung eines unserer vornehmsten Ziele ist.
Bevor ich das Wort an den Bundesminister des Inneren, Thomas de Maizière weitergeben darf, lassen Sie mich noch kurz mit zwei Bemerkungen schließen.
Ich freue mich sehr, dass wir für die Eröffnung Sie, sehr verehrter Herr Minister, haben gewinnen können und dass Sie mit Ihrer Ansprache die Bedeutung, die wir dem Thema des angemessenen Umgangs mit der Vergangenheit des "Dritten Reichs" beimessen, unterstreichen. Das Unterfangen, aus der eigenen Schuldgeschichte für die Zukunft zu lernen, kommt auch – dies meine zweite kurze Bemerkung – dadurch zum Ausdruck, dass wir im Anschluss an diese Tagung mit dem Praxisforum "Zivilcourage lernen" die Bedeutung der historischen Bildung für die Zukunft in besonderem Maße hervorheben möchten. Am Samstag werden wir in sieben Workshops Bildungsprojekte aus Deutschland und aus mehreren europäischen Staaten präsentiert bekommen und dabei Themen wie "Handlungsspielräume in öffentlichen Institutionen" oder "Historisch-politische Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft" erarbeiten, um an dieser Stelle nur diese zwei Beispiele exemplarisch zu nennen.
Dank also nochmals an alle, die an dieser Veranstaltung beteiligt waren und sind, auch an alle, die sich generell am Transfer von Wissenschaft in die politische Bildung hinein beteiligen, an Sie, die Referentinnen und Referenten wie auch an alle Interessierten, die heute und morgen an der Tagung teilnehmen. Nutzen Sie die Gelegenheit, die Verbindung zwischen Forschung und Schule, zwischen Spezialisten und politisch interessierten Bürgerinnen und Bürgern zu stärken!
Uns allen wünsche ich also für die kommenden Tage der Konferenz und des Praxisforums ertragreiche Diskussionen!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
- Es gilt das gesprochene Wort -
Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands Festrede von Thomas Krüger anlässlich der 3. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung, 27./28. Januar 2011 in Berlin
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Festrede von Thomas Krüger anlässlich der 3. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung, 27./28. Januar 2011 in Berlin.
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