Sehr geehrter Herr Hannemann, sehr geehrter Herr Dr. Preißler, sehr geehrte Damen und Herren,
nicht wenige Darstellungen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte beginnen mit dem Diktum: "Am Anfang war Adenauer." Ich möchte diesen Satz modifizieren: "Zum Anfang gehört auch Bonn" – als Ort, als Region, ja, als Metapher.
Wenn wir uns in diesem Jahr an die Wiederbegründung der deutschen Demokratie nach dem Krieg erinnern, fallen uns historische Momentaufnahmen ein: grasende Kühe hinter dem Hinweisschild an der Autobahnabfahrt: "Parlamentarischer Rat. Abfahrt nach Bonn 1000 Meter"; der Festakt zur Eröffnung des Parlamentarischen Rates 1948 im Museum Alexander Koenig; die Unterzeichnung des Grundgesetzes in der Pädagogischen Akademie; Konrad Adenauer auf dem Petersberg, unter grober Verletzung des Protokolls auf demselben roten Teppich wie die Alliierten Hohen Kommissare.
Theodor Heuss fand bewegende Worte, als er in seiner nachlesenswerten Antrittsrede am 12. September 1949 nach der Wahl zum Bundespräsidenten formulierte: "Seltsames deutsches Volk, voll der größten Spannungen, wo das Subalterne neben dem genial spekulativ Schweifenden, das Spießerhafte neben der großen Romantik steht. Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie verloren."
All das geschah 1948/49 in Bonn. Originalgestühl aus dem Parlamentarischen Rat und auch aus dem Bundeshaus ist hier, im Haus der Geschichte, in der Dauerausstellung präsent – neben unzähligen anderen Zeugen jener bescheidenen, aber umso glaubwürdigeren Anfänge. Der Bonner Historiker Helmut Vogt schrieb im Mai 2009 in der Zeitschrift der bpb "Aus Politik und Zeitgeschichte": "Am 21. August 1948 teilte die Landesregierung Nordrhein-Westfalens den 1. September als Datum der Arbeitsaufnahme des Parlamentarischen Rates in Bonn mit. Als Ort für die feierliche Auftaktveranstaltung erschien der Lichthof des zoologischen Museums Koenig geeignet. 500 gepolsterte Stühle wurden schnell gemietet. Auch die vor dem Gebäude zu hissenden Länderflaggen waren vor Ort nicht vorhanden. Einige gelangten auf dem Postweg nach Bonn, weitere wurden Lokomotivführern mitgegeben, der Rest in der örtlichen Fahnenfabrik hergestellt. Mit Rücksicht auf den ungewohnt starken Autoverkehr fielen am 1. September zwischen 11 Uhr und 15.30 Uhr die Straßenbahnen zwischen Markt und Gronau aus. (...) Ausgewählte Polizeibeamte, 'die in jeder Weise, in Bezug auf äußere Haltung und Figur, auf geistige Elastizität, Pflichtbewusstsein und Höflichkeit' den besonderen Anforderungen gewachsen sein mussten, übernahmen den Personen- und Objektschutz. Zu beiden Seiten des Eingangs zum Tagungsgebäude wurden Ehrenposten aufgestellt. Hausposten forderten in der Pädagogischen Akademie die Eintretenden höflich auf, ihre Ausweise bereitzuhalten."
Die westdeutsche Hauptstadt Bonn begann als Provisorium. Die "kleine Stadt in Deutschland", wie sie der britische Krimiautor und Geheimdienstoffizier John le Carré in den 1960er Jahren erfuhr, ihre bescheidene Ernsthaftigkeit war ein krasses Gegenbild zum verbrecherischen Größenwahn des untergegangenen Nazi-Reiches – aber auch zum Pomp, mit dem die SED ihr neues Deutschland im Ostteil Berlins inszenierte. Diese Bescheidenheit wurde Legende.
Als die Nachricht von der Öffnung der Mauer in Berlin eintraf, tagte der Deutsche Bundestag im Plenarsaal "Altes Wasserwerk" an der Hermann-Ehlers-Straße. Er diente dem Hohen Haus bis zur Fertigstellung des neuen Plenarsaals im Oktober 1992 als Ausweichquartier. Im Provisorium Wasserwerk erfüllte der Bundestag im Juni 1991 mit knapper Mehrheit ein historisches Versprechen, nämlich den Umzug von Parlament und Regierung in die Hauptstadt Berlin nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit. Die Zäsur von 1991 führte in der alten Haupt- und neuen Bundesstadt Bonn zu einem überaus erfolgreichen Strukturwandel. Das ist der klugen Bonner Lokalpolitik zu verdanken, insbesondere auch der hier anwesenden Oberbürgermeisterin.
Viele der vermeintlich provisorischen Gebäude in Bonn haben sich in den vergangenen 60 Jahren zu Symbolbauten entwickelt, die an positive Traditionen der deutschen Demokratiegeschichte anknüpfen. Neunzehn dieser "Orte der Demokratie" im ehemaligen Regierungsviertel und 33 weitere Stationen stellt dieses Buch vor. Ihre Auswahl und Anordnung entsprechen dem "Weg der Demokratie", einem erläuterten Rundgang, der diese Bauten seit 2003 interessierten Besuchern erschließt.
Es lohnt sich, nach 60 Jahren Bundesrepublik mit Dankbarkeit die "Orte der Demokratie" in Bonn zu besuchen. "Bonn als Lernort" bedeutet nicht Musealisierung einer lebendigen Großstadt mit internationalem Flair, sondern ein Besinnen auf die eigenen Wurzeln. Die Ergebnisse des Parlamentarischen Rates von 1948 etwa zeugen geradezu von einem "Lernen aus der Geschichte". Den Delegierten standen der Untergang der Weimarer Demokratie und die nationalsozialistische Schreckensherrschaft vor Augen. Den Grundrechten wiesen sie daher eine herausragende Rolle zu. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, grundlegende Verfassungsprinzipien und die föderale Ordnung unterliegen der "Ewigkeitsgarantie". Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes schützt die Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber politischer Manipulation, stellt die Partizipation der Bürger in der Zivilgesellschaft sicher und verhindert die Verselbständigung einer zentralen Staatsmacht.
Der Zeithistoriker Andreas Wirsching schreibt in der Einleitung unseres historischen Reiseführers, dass das Grundgesetz nicht nur den Westdeutschen den Weg in die Demokratie geebnet hat, sondern auch zur konstitutionellen Voraussetzung für das vereinte Deutschland geworden ist: Dabei handele es sich nicht mehr, so Wirsching, "um ein Provisorium, vielmehr ist das 'Bonner Grundgesetz' zur vollgültigen 'Berliner Verfassung' geworden. Es ist flexibel genug, um für den Wandel offen zu sein, und von genügend normativer Stärke, um diesen Wandel in der Stabilität zu gewährleisten."
Kann man von einer "Berliner", kann man von einer "Bonner Republik" sprechen? Bonn war nicht Weimar; Berlin ist es erst recht nicht. Dass Berlin aber auch nicht mehr Berlin ist, ist ein Verdienst Bonns und des Grundgesetzes. Es macht Bonn zum natürlichen Standort für zwei Bildungseinrichtungen, der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeszentrale für politische Bildung.
Für die ebenso eindringliche wie anschauliche Darstellung dieses weit gespannten Panoramas Bonner Politik- und Zeitgeschichte danken wir den Autoren des Buches, dem Historiker und Journalisten Matthias Hannemann und Dr. Dietmar Preißler, Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte. Großer Dank gebührt auch der Redakteurin, Dr. Ulrike Zander, die mit Umsicht das nicht einfache Projekt gesteuert hat, und dem bewährten Partner, dem Christoph Links Verlag in Berlin, dem im Herbst 1989 gegründeten ersten freien Verlag der damals noch existierenden DDR. Die Verlagsreihe der politisch/historischen Reiseführer nutzen wir gerne für die politische Bildung. Unser gemeinsames Erfolgsprojekt, der historische Reiseführer "Das politische Berlin", hat nun endlich ein Pendant.
Am Anfang war Bonn. Ich wünsche Ihnen eine interessante, ja amüsante Spurensuche auf historischem Terrain.
- Es gilt das gesprochene Wort -
Bonn. Orte der Demokratie Buchpräsentation, Haus der Geschichte Bonn
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Viele der vermeintlich provisorischen Gebäude in Bonn haben sich in den vergangenen 60 Jahren zu Symbolbauten entwickelt, die an positive Traditionen der deutschen Demokratiegeschichte anknüpfen.
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