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Die Grenzen der Religionsfreiheit | Presse | bpb.de

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Die Grenzen der Religionsfreiheit Im Rahmen der Veranstaltung "Constitutions and Confessions" in Potsdam

/ 8 Minuten zu lesen

Die Konflikte zwischen religiösen Gruppen nehmen zu, weil fundamentalistische Bewegungen in westlichen und Entwicklungsländern immer präsenter werden. Thomas Krüger, bpb-Präsident, beleuchtet in seiner Rede das Verhältnis zwischen Politik und Religion als Lösungsansatz in dieser Auseinandersetzung.

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    1. Einleitung

    Blutige Auseinandersetzungen um den richtigen Glauben schienen lange Zeit der Vergangenheit anzugehören – wenigstens in westlichen Ländern. Über Jahrzehnte hinweg hat die Bedeutung der Religion in westlichen Gesellschaften abgenommen. Viele glaubten daher, dass sich das Problem von selbst erledigt, weil der Streit um den richtigen Glauben seinen Nährboden verlieren würde.

    Doch die Konflikte zwischen Religionsgruppen nehmen zu, weil fundamentalistische religiöse Bewegungen in westlichen und in Schwellen- und Entwicklungsländern immer präsenter werden; weil hinter gewaltsam ausgetragenen Konflikten immer stärker religiöse Motive stecken; weil religiös motivierte Bürgerkriege (Nordirland, Balkan, Indien, Afrika) allgegenwärtig sind; weil Kirchen und religiöse Organisationen sich immer deutlicher öffentlich engagieren und die Religion politisieren; und schließlich beobachten wir ein erhebliches Wachstum des Christentums und des Islams in der so genannten Dritten Welt.

    Es sind aber nicht nur die streitenden Religionsgemeinschaften. Westliche Gesellschaften haben sich pluralisiert und die Zahl der Konfessionslosen und Nicht-Gläubigen steigt. Auch sie machen ihre Ansprüche geltend und möchten von religiösen Beeinflussungen verschont bleiben. Dies sind Gründe genug, um über Grenzziehungen der Religionsausübung neu nachzudenken und die Ansprüche der Religionsgemeinschaften in ihre Schranken zu weisen.

    Wir sind daher heute zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Politik und Religion gezwungen und müssen uns wieder ernsthafte Gedanken über die Grenzen der Religionsfreiheit machen. Die Freiheit der Religionsausübung gehört zu den Grund- und Menschenrechten und ist in allen Verfassungen und in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen niedergelegt. Diese Freiheit ist aber nicht schrankenlos. Die Religionsfreiheit findet ihre Grenze in den konkurrierenden Grund- und Menschenrechten andere Menschen, die durch die Ausübung religiöser Praktiken und Überzeugungen ihre Grundfreiheiten verletzt sehen. Der Staat hat heute die Aufgabe, die konkurrierenden Grundrechte zu sichern und zu einem Ausgleich zu bringen.

    2. Grund- und menschenrechtliche Begründung

    Dies ist eigentlich ungewöhnlich, denn das Menschenrecht auf Religionsausübung gehört zu den vornehmsten Menschenrechten. Dies war nicht immer so. Erst die schrecklichen Verwundungen der konfessionellen Kriege in Europa haben zur Einsicht geführt, dass die freie Religionsausübung ein Grundrecht ist, das vom Staat und anderen Gruppen zu respektieren ist. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass der Staat die Überzeugungen seiner Bürger respektieren muss. Er muss ihnen als Personen Achtung entgegenbringen, dies verlangt die Menschenwürde, wie sie beispielsweise im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland niedergelegt ist. Dies bedeutet: der Staat muss seine Bürger als Personen respektieren und er tut dies nur, wenn er auch ihre Glaubensüberzeugungen achtet. Im Grundgesetz heißt es daher im Art. 4 "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." Die Religionsfreiheit ist ein höchst persönliches Recht.

    Grundrechte, dies verlangt die westliche Verfassungstradition, aber auch die Menschenrechte, können nur eingeschränkt werden, wenn durch ihren Gebrauch die Grund- und Menschenrechte anderer Personen verletzt werden.

    Grundrechte anderer Personen werden beispielsweise verletzt durch Zwangsheirat, durch Polygamie, durch Beschneidung von Frauen, durch Blutrache, durch den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben, durch unzulässige religiöse und politische Beeinflussung in der Schule durch Lehrerinnen und Lehrer.

    3. Der Streit in Deutschland um das Kopftuch

    In Deutschland wird die Diskussion um die Grenzen der Religionsfreiheit heute vor allem rund um das Thema staatliche Schule ausgetragen. Die Frage lautet hier: Wie viel fremde Religiosität erlaubt des Grundgesetz in staatlichen Schulen. Das Grundrecht der freien Religionsausübung steht hier gegen das Erziehungsrecht der Eltern, das ebenfalls ein Grundrecht ist, und gegen das Grundrecht der Freiheit von religiöser und politischer Beeinflussung in staatlichen Schulen. Diese Fragen werden gegenwärtig im Streit um das Kopftuch in Schulen thematisiert. Eine türkische Lehrerin ist in Baden-Württemberg mit Kopftuch zum Unterricht erschienen und wurde aus dem Schuldienst entlassen, weil sie nach Auffassung der Landesregierung in Baden-Württemberg die Grenze der Religionsfreiheit missachtete. Der Fall ging an das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsbericht hat im letzten Jahr in einem Urteil entschieden: "Das Tragen eines Kopftuches [...] in Schule und Unterricht fällt unter den Schutz der Glaubensfreiheit." Verschiedene Bundesländer sind mit diesem Urteil nicht zufrieden und wollen Gesetze erlassen, die das Tragen des Kopftuches im öffentlichen Dienst verbieten. Andere Bundesländer wollen das Verbot nur für staatliche Schulen und lassen christliche und jüdische Symbole zu. In Bayern sollen das Tragen des Kreuzes und das Ordensgewand der Nonnen weiterhin erlaubt sein.

    Eltern und Schulbehörden haben das Recht der "negativen Glaubensfreiheit" für sich in Anspruch genommen, dass Schülerinnen und Schüler kultischen Handlungen und Symbolen eines nicht geteilten Glaubens fern bleiben können. Frauenrechtlerinnen wie Alice Schwarzer gehen noch weiter und erkennen im Kopftuch die "Flagge des islamistischen Kreuzzuges" und ein Mittel der Frauenunterdrückung.

    Ähnlich wird in Frankreich argumentiert. Dort wird streng gegen islamische Symbole in staatlichen Schulen vorgegangen. Das Kopftuch, der "foulard islamique" ("das islamische Tuch") wird dort als herausforderndes Symbol des religiösen Partikularismus begriffen. Es steht gegen die Ideale der Republik.

    Die Grenzen zwischen Politik und Religion werden neu vermessen und die Grenzen der Religionsfreiheit neu abgesteckt, seit sich die religiöse Landkarte pluralisiert hat und Religionen immer mehr mit einem politischen Anspruch auftreten. In Europa ist es vor allem der politisierte Islam und der wachsende Anteil der moslemischen Bevölkerung, die die traditionelle Vorherrschaft christlicher Werte in Frage stellen und Gegenreaktionen der Grenzziehungen hervorrufen. Die Kirchen drängen aber auch in die Öffentlichkeit, gerade weil sie sich nicht mehr mit der Mehrheit der Bevölkerung verbunden wissen.

    4. Der neutrale Staat

    Für die Begrenzung von Grundrechten – ganz besonders des Rechts auf freie Religionsausübung – sind die staatliche Ordnung und Gerichte zuständig. In der westlichen Welt haben sich unterschiedliche Modelle des Umgangs mit der Religionsfreiheit entwickelt. Während sich in Frankreich ein strenger Laizismus entwickelt hat, der die Religion ins Private zurückdrängt, hat sich in Deutschland eine "positive Neutralität" herausgebildet, mit der ein partnerschaftliches Verhältnis von Religion und Staat gepflegt wird. Während im strengen Laizismus alle religiösen Werte und Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt werden, stehen im deutschen Modell den Religionsgemeinschaften staatliche Schulen offen. In Amerika dagegen existiert eine Mauer zwischen Politik und Religion. Der amerikanische Staat verfährt nach dem Prinzip der absoluten Nichteinmischung des Staates in die Angelegenheiten einer Religion. Hier in Deutschland dagegen gibt es das Prinzip der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften.

    In jüngster Zeit ist die Diskussion um die Neutralität des Staates am Gegenstand der EU-Verfassung geführt worden. Christliche Politiker haben dafür plädiert, in der Verfassung, die im Augenblick zu Debatte steht, den Gottesbezug explizit zu machen. Denn Europa würde auf dem Wertefundament der jüdisch-christlichen Kultur beruhen.

    Wenn aber wie in Deutschland die Kirchen staatlich anerkannt und subventioniert werden und ihre Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten ausdrücklich erwünscht ist, dann gerät eine Grenzziehung gegenüber der Religionsausübung in Gefahr parteiisch zu werden. Denn alle Religionsgemeinschaften drängen darauf, dass ihre Werte und Lebensvorstellungen von der Gesellschaft geachtet werden. Und dies hat zur Folge, dass die Grenzen der Religionsausübung überschritten werden.

    5. Grenzen der Religion: Demokratieverträglichkeit

    Diese Grenzziehung gegenüber der freien Religionsausübung hat noch eine weitere Dimension. Die westlichen Demokratien ruhen als weitgehend säkularisierte Gemeinwesen auf der jahrhundertealten Trennung von Staat und Kirche, von Herrschaft und Heil, auf. Sie gibt es in anderen Kulturkreisen und in den nichtchristlichen Religionen nicht. Tzvetan Todorov hat in seinem Buch "Die verhinderte Weltmacht" die Trennung von Staat und Religion als die wichtigste Voraussetzung von Demokratie erkannt. Als "großes Unheil" hat sie dagegen Osama Bin Laden in einer seiner Videobotschaften bezeichnet, das sich vor 80 Jahren in der islamischen Welt ereignete. Bin Laden kritisierte damit die Einführung des säkularen Staates durch Kemal Atatürk in der Türkei.

    In religiös pluralisierten Gesellschaften mit einer wachsenden Zahl von Konfessionslosen kann – dem eigenen Anspruch nach – die Demokratie und die politische Ordnung nicht religiös verankert werden. Die Integration, der Zusammenhalt der Gesellschaft, muss anders organisiert werden, nämlich über politische Formen.

    Dies hat mehrere Konsequenzen. Auch wenn der Staat anerkennt, dass sich gläubige Menschen in ihrem Handeln von religiösen Überzeugungen leiten lassen, so kann dies auf keinen Fall bedeuten, dass Religionsgemeinschaften einer demokratisch gewählten Regierung eine bestimmte Politik vorschreiben können. Den Religionsgemeinschaften sind hier Grenzen gesetzt. Sie müssen auch auf verfassungsmäßige oder anders geartete Privilegien verzichten. Sie müssen die Grenze zwischen politischer Herrschaft und religiösen Heil respektieren. Die politische Ordnung darf sich allerdings auch nicht anmaßen, sich religiös zu legitimieren. Allerdings muss der demokratische Staat die Ausübung der Religionsfreiheit gewährleisten und sicherstellen, dass die Religionsgemeinschaften ihre Werte in der Öffentlichkeit geltend machen können. Wenn Kirchen oder Religionsgemeinschaften daraus aber den Anspruch ableiten, die öffentliche Moral zu bestimmen, so sind hier Grenzen wirksam, auf die eine Demokratie pochen muss.

    Dennoch bleibt eine Spannung zwischen freier Religionsausübung und Vorrang der demokratischen Selbstbestimmung, die nicht leicht auflösbar ist. Der Westen muss von islamischen Religionsgruppen die Anerkennung der demokratischen Prinzipien einfordern. Er muss Religionen, die die Trennung von Staat und Kirche nicht kennen, die Grenzen aufzeigen. Die Grenze hat mit der Einsicht zu tun, dass religiöse Gebote nicht ohne Weiteres die politische Ordnung bestimmen dürfen und an die Achtung der Menschenrechte gebunden sind. Das religiöse Heil kann nicht politisch erstrebt werden.

    Deshalb hat Samuel Huntington bereits 1996 festgestellt: "Das tiefere Problem des Westens ist nicht der islamische Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam selbst". Die terroristischen Attacken fundamentalistischer Gruppen sprechen eine deutliche Sprache. Im "heiligen Krieg" nur eine besondere Form der Religionsausübung sehen zu wollen ist allzu naiv. In islamischen Gesellschaften fehlt die Trennung von Herrschaft und Heil, mit der vor allem religiöse Herrschaftsansprüche begrenzt werden. Und es fehlt damit eine eigenständige zivilgesellschaftliche Sphäre, in der der Streit über unterschiedliche Lebens- und Glaubensauffassungen ausgetragen werden kann.

    6. Die Aufgabe der politischen Bildung und der bpb

    Angesichts der "Beständigkeit des religiösen Impulses" in westlichen Gesellschaften widmet auch die Bundeszentrale für politische Bildung dem Thema Religion ihre Aufmerksamkeit. Politische Bildung soll in einer pluralistischen Gesellschaft für das Verständnis zwischen den unterschiedlichen religiösen Kulturen werben und gleichzeitig die Werte der pluralistischen Demokratie sichtbar machen.

    Die Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt deshalb diese Veranstaltung durch eine Zuwendung. Sie hat bereits eine Reihe von Veranstaltungen mit Kooperationspartnern durchgeführt, in denen das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Politik und Religion exemplarisch diskutiert wurde.

    In einer anderen Veranstaltungsreihe – "Weltreligionen im Diskurs" – geht es an unterschiedlichen Orten um den Dialog zwischen den Weltreligionen und um Grundfragen der Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft. In unseren "Open-Space"-Veranstaltungen möchten wir vor allem junge islamische Menschen ansprechen, die dort ihre Interessen, Wünsche und Probleme zur Sprache bringen können.

    In unseren Publikationsreihen finden sich Informationen und Unterrichtsmaterialien zum Islam, zu den jüdischen Gemeinden in Deutschland und zum Thema "Islam und Politik".

    Religionsausübung ist ein Grund- und Menschenrecht. Doch vielfach wird dieses Recht heute dazu benutzt, politische Herrschaftsansprüche zu begründen und andere Menschen in ihren Grundrechten zu verletzen. Wir sollten daher ein Bewusstsein und eine Praxis der Grenzziehungen entwickeln. Denn auch Grundrechte brauchen einen Rahmen.

Fussnoten