Aufbruch in die Metropole
Wie sich durch die Hauptstadtdebatte die Republik veränderte
Bonn versus Berlin:
Die Debatte um den Regierungssitz
Gleichwohl die Hauptstadtfrage schon im Verlauf der Verhandlungen um den Einigungsvertrag eine zentrale Rolle spielte, entschärften die Unterhändler die Problematik zunächst durch Vertagung: Bundeshauptstadt wurde zum 3. Oktober 1990 – wie von der DDR-Regierung gewünscht – Berlin, die Frage von Parlaments- und Regierungssitz blieb jedoch bis nach der Bundestagswahl 1990 offen.[10] Nach dem Jahreswechsel wurde die Debatte wiederbelebt. In diesen Monaten bildeten sich, vereinfacht gesagt, drei Diskursstränge heraus, die zum Teil wechselseitig ineinander verwoben waren: Die westdeutschen Befürworter Berlins steuerten den Diskurs in Richtung einer schicksalhaften Entscheidung, bei der die Zukunft der Nation, wenn nicht gar Europas auf dem Spiel stand. Dabei zielten nicht wenige auf eine Wandlung der Bundesrepublik. In den Diskursen ostdeutscher Politiker stand die Frage nach einer wirklichen Vereinigung im Zentrum. Sie verstanden Berlin in erster Linie als ein Symbol des Entgegenkommens des Westens. Schließlich existierte die gegensätzliche Argumentationsrichtung, die vor allem von den Befürwortern der Bonner Lösung geführt wurde. Sie widersprach weitgehend dem nationalen Pathos, bezog ihre Stellung auf Grundlage der wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern bzw. warnte sie vor einer Notlage der Region Bonn, sollte der Regierungssitz verloren gehen.[11] Sie stellten dem wieder erstarkten Nationsentwurf in guter Bonner Tradition die pragmatische Nüchternheit der Zahlen entgegen.
Nach der knappen Entscheidung für Berlin, im Anschluss an eine zehnstündige Redeschlacht, wurde immer wieder die Frage danach gestellt, ob ein Muster erkennbar sei, nach welchem die Abgeordneten für eine bestimmte Stadt votierten. Die Tatsache, dass der Beschluss in einer namentlichen Abstimmung gefällt wurde, ließ ausreichend Raum zur Interpretation des Vorgangs. Udo Wengst stellte im Zuge einer Analyse des Abstimmungsverhaltens schon 1991 fest, "daß in dieser Abstimmung der Westen dem Osten und der Süden dem Norden unterlegen sind, daß die Katholiken gegen die Protestanten und die Jüngeren gegen die Älteren"[12] verloren hatten. Diese Perspektive ließe sich durch folgende These ergänzen: Der Riss, der vor allem die Volksparteien CDU und SPD durchzog und in zwei fast gleichgroße Lager für Berlin oder Bonn spaltete, kann als ein Vorbote der anstehenden Kämpfe um die innerparteiliche Deutungshoheit zwischen modernistischen und traditionalistischen Kräften verstanden werden. Dies bedeutet nun keineswegs, dass andere Komponenten für die Entscheidung keine Rolle spielten. Insbesondere der Aspekt regionaler Herkunft legt deutlich die Tendenz offen, dass nord- und ostdeutsche Politiker mehrheitlich pro Berlin stimmten. Es ist aber auch erkennbar, dass die innerfraktionelle Spaltung der Parteien eben vor allem bei Union und SPD zu finden ist, während bei FDP, Bündnis 90/Die Grünen und PDS sehr eindeutige Voten für Berlin zu finden sind. Im Folgenden stehen die diskursiven Bilder beider Städte im Zentrum der Darstellung, da sie konstitutiv für das Verständnis von Wahrung und Erneuerung der Republik sind.

Der westdeutsche Berliner Diskurs sah in den Debatten gänzlich andere Aspekte als relevant an. Die Befürworter des Umzugs nach Berlin argumentierten in dramatischem Duktus, es ginge bei dieser Abstimmung um Deutschlands Zukunft. Diese Aussage wurde jedoch kaum konkretisiert.

Außerhalb des Bundestages wurde von Berlin-Befürwortern eine zum Teil noch deutlichere Ansprache gewählt. So machte der "taz"-Journalist Klaus Hartung deutlich, dass ein Ja zu Berlin auch das Symbol eines Aufbruchs im Westen sei.[20] "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein kritisierte mit Blick auf die Bonn-Befürworter, Deutschland mache sich zum "Gespött der Welt", um dann unmittelbar nach der Abstimmung zufrieden festzustellen, dass Deutschland nun ein "normaler Staat" sei. "Wir verachten unsere Flagge nicht, aber wir hissen sie nur bei Bedarf".[21] Und der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper sagte bereits im November 1990 zur "Zeit": "Wir brauchen für ein großes europäisches Volk [...] einen angemessenen Mittelpunkt"[22]. Nach der Deutschen Einheit, das wird hierdurch deutlich, sahen viele Kräfte die Möglichkeit zur Revision der, aus ihrer Sicht, trägen Strukturen, für die die Bonner Republik zu stehen scheint. Deutlich wird dies besonders an einer Diskussion, die nicht unmittelbar mit der Hauptstadtdebatte zusammenhängt, die aber für das Verständnis einer neuen politischen Agenda in einer Berliner Republik steht: Das zeitliche Zusammenfallen der Wiedervereinigung und der Hauptstadtdebatte mit dem Zweiten Golfkrieg ließ auch außenpolitische Kräfte zunehmend an den Grundfesten der Bonner Leitlinien zur Außen- und Verteidigungspolitik rütteln. Bonn sei, so der CDU-Verteidigungs-Experte Hans-Joachim Veen, ein Symbol begrenzter Souveränität. Der Historiker Michael Stürmer kritisierte das deutsche Syndrom zwanghafter Konfliktvermeidung.[23]
Die ostdeutsche Perspektive auf die Bundeshauptstadt Berlin war eine weitaus bescheidenere. In diesem Diskurs ging es zwar auch um einen grundlegenden Wandel der alten Bundesrepublik, aber nur insofern, als die Ostdeutschen ein gleichwertiges Zusammengehen beider Staaten erwarteten. Die Bonner Republik sollte lediglich aus gesamtdeutscher Perspektive in einigen Fragen neu justiert werden. In den Worten des Historikers Heinrich August Winkler ging es beim Regierungsumzug letztlich um die Frage, ob "aus dem Anschluss der DDR doch eine echte Vereinigung" werden würde.[24] Wolfgang Thierse sprach in seiner Bundestagsrede von Berlin als einem wichtigen Schritt zur "menschlichen Einheit". Und Lothar de Maizière betonte, Berlin wäre ein großer Schritt des Entgegenkommens gegenüber den Ostdeutschen, die sich ja zunächst dem Grundgesetz unterworfen hätten. Dabei zollten viele der Bonner Republik ausdrücklichen Respekt wie Konrad Weiß von Bündnis 90 oder Rainer Eppelmann, der von Bonn als einem "Symbol" der Bundesrepublik sprach. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass auch PDS-Abgeordnete in die gleiche Richtung argumentierten. So sprach Dagmar Enkelmann davon, dass Bonn nicht typisch für die neue Bundesrepublik sei, und der ehemalige DDR-Kulturminister Dietmar Keller betonte die Symbolkraft, die von einer Hauptstadt Berlin sowie einer neuen Verfassung ausgehen würde. Immer wieder hielten Politiker aus den neuen Bundesländern das Argument hoch, die Hauptstadt müsse dort ihren Platz finden, wo die zentralen Probleme der Einheit zu finden sind, und dies seien nun einmal Berlin und der die Hauptstadt umgebende Osten, so beispielsweise Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Alfred Gomolka.[25] Zudem gab es auch eine Minderheit ostdeutscher Abgeordneter, die bewusst gegen Berlin votierten, weil sie in Erinnerung an die SED-Herrschaft den drohenden Zentralismus, der von einer Hauptstadt Berlin ausginge, ablehnten, wie der CDU-Mann Clemens Schwalbe oder Klaus-Dieter Feige vom Bündnis 90.
Der mit knapper Mehrheit erreichte Hauptstadtumzug sollte schließlich der einzige echte Sieg der Ostdeutschen im Rahmen des Vereinigungsprozesses bleiben. Eine neue Verfassung erhielten die Deutschen nicht. Nach dem Umzugsbeschluss schienen ostdeutsche Befindlichkeiten zumindest in begrenztem Maße beruhigt. So bestritt der Berliner Schriftsteller Friedrich Dieckmann, dass Berlin einen Zentralisierungsschub auslöse, er erhoffe sich nun aber eine "Entprovinzialisierung des deutschen politischen Bewußtseins".[26] Auch im benachbarten Frankreich, so der französische Intellektuelle Alfred Grosser, würde man das neue Deutschland begrüßen, das an die positive Tradition der westdeutschen Bundesrepublik anknüpfe, mit der Hauptstadt Berlin aber eine Öffnung nach Osten vollzogen habe.[27] In den nachfolgenden Jahren sollte jedoch klar werden, dass sich in Deutschland ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel vollzog, was die politische Agenda anbelangte. Der Sieg Berlins im Hauptstadtstreit schien zum Freifahrtschein für ungehemmtes Werken der politischen Eliten des modernistischen Flügels zu werden. Die Hauptstadtentscheidung veränderte Deutschland im Stillen, aber nicht minder dramatisch.
Abschied von Bonn, angekommen in Berlin –
entstand eine neue Republik?


