Aufbruch in die Metropole
Wie sich durch die Hauptstadtdebatte die Republik veränderte
Oliver D´Antonio
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Vor 20 Jahren wurde der Umzug der Bundeshauptstadt in das einst geteilte Berlin beschlossen. In der Debatte darum ließen sich schon damals erste Konturen einer neuen Republik erkennen.
Von Bonn nach Berlin
Es wirkt schon skurril, das ehemalige Regierungsviertel am Rheinufer südlich der Bonner Innenstadt. Es ist heute kaum vorstellbar, dass noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt die Machtzentrale eines der wirtschaftsstärksten Staaten der Erde hier ihren Sitz hatte. Selbst jene, die einst noch im Bonner Bundeshaus oder in diversen Ministerien saßen, scheinen den Gedanken geradezu absurd zu finden, Deutschland könnte heute noch von diesem beschaulichen Flecken aus regiert werden. 20 Jahre ist es dieser Tage her, dass der Bundestag im alten Bonner Wasserwerk den Beschluss fasste, den Sitz von Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen. Aus diesem Anlass entdecken auch die Medien die Bundesstadt am Rhein wieder, stellen diese jedoch eher als ein liebens-, aber bemitleidenswertes Kuriosum längst vergangener deutscher Geschichte dar. Die Abgeordneten, die seinerzeit für Bonn stimmten, werden nun erneut ins mediale Rampenlicht gezerrt, wo sie glaubhaft beteuern, sich damals geirrt zu haben und wie faszinierend die Metropole Berlin doch sei.
Doch so selbstverständlich Berlin heute als Hauptstadt erscheint, so erklärungsbedürftig ist immer noch die Frage, weshalb in jener spektakulären Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991 nur eine knappe Mehrheit von 18 Stimmen den Ausschlag für Berlin gab. Die Emotionalität der Debatte von einst scheint heute kaum noch nachvollziehbar. Möglicherweise besaß der Streit um den Regierungssitz jedoch eine tiefer liegende Bedeutung, war vielleicht sogar das entscheidende Vorspiel im Kampf um die Diskurshoheit in der Republik. Zudem muss der Debatte aus ostdeutscher Perspektive gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Auseinandersetzung um Bonn oder Berlin kann im Nachhinein als Vorbote eines Paradigmenwechsels von der Bonner zur Berliner Republik gedeutet werden. Dabei kommt der Hauptstadtfrage, den Städten selbst, ein symbolischer Bedeutungsgehalt zu, der auf Kontinuität der alten Bundesrepublik oder auf eine grundlegende Erneuerung der politischen Agenda einer Berliner Republik setzt.
Bonn und Berlin: Symbolkraft zweier deutscher Hauptstädte bis 1989
Bonn war zu allererst ein Provisorium. Kaum einer der Politiker, die am Rhein arbeiteten oder regierten, gab der Stadt das Gefühl, mehr zu sein als eine Übergangs-, bestenfalls eine Notlösung. Trotz dieser Wahrnehmung besaß Bonn seit Gründung der Bundesrepublik auch einen spezifischen Symbolcharakter. Die Wahl Bonns als provisorische Hauptstadt sollte für eine historische Umkehr in der deutschen Geschichte stehen. Die Stadt signalisierte in Konrad Adenauers Kalkül nach innen, aber noch mehr über die Landesgrenzen hinaus, dass die Bundesrepublik ein bescheidener, föderaler Staat sei, der auf Machtinsignien und repräsentative Darstellung von Größe bewusst verzichte. Bonn war das Symbol zur Herstellung von Vertrauen in Deutschland innerhalb der westlichen Welt. Es kontrastierte damit mit Berlin, das in jenen Jahren vor allem im Ausland vielfach mit Preußentum, Militarismus, Nazismus und Zentralismus identifiziert wurde. Dennoch blieb die geteilte Stadt lange Zeit für viele Deutsche ein zentraler Orientierungspunkt und Symbol der Freiheit im Kalten Krieg. Gerade der spätere Bundeskanzler Willy Brandt wurde nicht müde, Berlin fortwährend zur rechtmäßigen Hauptstadt zu erklären. Bis in die 1960er-Jahre hinein wurde der Provisoriums-Charakter Bonns gegenüber Berlin unaufhörlich betont, eine umfassende Hauptstadtplanung fortwährend vertagt.
Andererseits wurde mit dem Bau der Mauer in Berlin die deutsche Teilung zementiert. Die Westdeutschen arrangierten sich allmählich mit Bonn. Das Provisorium erweiterte seine Qualitäten. Bonn stand nun auch für das Wirtschaftswunder, einen funktionierenden Sozialstaat und eine stabile Demokratie, die so viel Flexibilität aufwies, Protestbewegungen zu integrieren. Die alte Bundesrepublik galt alsbald als international geachtetes Erfolgsmodell. Berlin hingegen rückte allmählich aus dem Fokus der Westdeutschen. Besonders Helmut Kohl förderte die Stadt Bonn in den 1980er-Jahren nachhaltig und zog die Bundespräsenz als Zeichen der Entspannung an die SED-Führung immer mehr aus Berlin ab. In der alten Bundesrepublik begann in jenen Jahren ein intensiver Selbstverortungsprozess. Die Debatten um Bitburg, der Historikerstreit oder die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 deuten darauf hin, dass der Referenzpunkt der alten Bundesrepublik zwar im Erfahrungsraum von 1933/45 verharrte, dass jedoch 1945/49 als Beginn einer neuen, westdeutschen Erfolgsstory zu werten sei. Die BRD schien zu ihrem 40. Jahrestag selbstgenügsam geworden zu sein und suchte nach einer eigenen Position in der deutschen Geschichte.
Die DDR rückte in der Spätphase der Bonner Republik aus dem Blickfeld. Eine Vereinigung beider Staaten schien zu Ende der 1980er-Jahre nicht nur unmöglich, sondern auch nicht unbedingt gewollt. In der DDR zeigte sich hingegen ein ambivalentes Bild, was die Städtefrage anging: Berlin, das Schaufenster zum Westen, galt als überaus unbeliebt, da die Kapitale Infrastruktur, Waren und Ressourcen an sich zog, die im übrigen Land fehlten. Dennoch war auch aus Sicht der meisten Oppositionellen Berlin die "natürliche" Hauptstadt des Staates, in welcher auch die Regierung einer demokratisierten DDR Platz nehmen würde. Mit der Stadt Bonn hingegen verbanden die Bürgerinnen und Bürger der DDR nichts. Sie blieb auch nach der Einheit für die meisten Ostdeutschen die Hauptstadt eines anderen, gleichwohl demokratisch vorbildlichen Staates. Im Dezember 1989 wurde auf einer Montagsdemonstration in Ost-Berlin ein Transparent empor gehalten, das in schwarz-rot-goldener Farbe die Fläche des vereinigten Deutschlands zeigt. Die Stadt Berlin ist darauf in Form eines Herzens markiert. Berlin erschien in der DDR als das logische Zentrum eines wiedervereinigten Deutschlands. Ins Herz geschlossen hatten viele Ostdeutsche die Stadt wohl auch nach dem 3. Oktober 1990 nicht, aber es wurde von vielen wie selbstverständlich erwartet, dass eine gleichberechtigte Vereinigung stattfinden würde und die Bundesrepublik nicht nahtlos an ihre Traditionen der rheinischen Republik anknüpfen könne. Eine Hauptstadt Berlin galt im Osten als ein Zeichen westdeutschen Entgegenkommens. Doch eben dies sahen viele westdeutsche Besitzstandswahrer anders.
Bonn versus Berlin: Die Debatte um den Regierungssitz
Gleichwohl die Hauptstadtfrage schon im Verlauf der Verhandlungen um den Einigungsvertrag eine zentrale Rolle spielte, entschärften die Unterhändler die Problematik zunächst durch Vertagung: Bundeshauptstadt wurde zum 3. Oktober 1990 – wie von der DDR-Regierung gewünscht – Berlin, die Frage von Parlaments- und Regierungssitz blieb jedoch bis nach der Bundestagswahl 1990 offen. Nach dem Jahreswechsel wurde die Debatte wiederbelebt. In diesen Monaten bildeten sich, vereinfacht gesagt, drei Diskursstränge heraus, die zum Teil wechselseitig ineinander verwoben waren: Die westdeutschen Befürworter Berlins steuerten den Diskurs in Richtung einer schicksalhaften Entscheidung, bei der die Zukunft der Nation, wenn nicht gar Europas auf dem Spiel stand. Dabei zielten nicht wenige auf eine Wandlung der Bundesrepublik. In den Diskursen ostdeutscher Politiker stand die Frage nach einer wirklichen Vereinigung im Zentrum. Sie verstanden Berlin in erster Linie als ein Symbol des Entgegenkommens des Westens. Schließlich existierte die gegensätzliche Argumentationsrichtung, die vor allem von den Befürwortern der Bonner Lösung geführt wurde. Sie widersprach weitgehend dem nationalen Pathos, bezog ihre Stellung auf Grundlage der wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern bzw. warnte sie vor einer Notlage der Region Bonn, sollte der Regierungssitz verloren gehen. Sie stellten dem wieder erstarkten Nationsentwurf in guter Bonner Tradition die pragmatische Nüchternheit der Zahlen entgegen.
Nach der knappen Entscheidung für Berlin, im Anschluss an eine zehnstündige Redeschlacht, wurde immer wieder die Frage danach gestellt, ob ein Muster erkennbar sei, nach welchem die Abgeordneten für eine bestimmte Stadt votierten. Die Tatsache, dass der Beschluss in einer namentlichen Abstimmung gefällt wurde, ließ ausreichend Raum zur Interpretation des Vorgangs. Udo Wengst stellte im Zuge einer Analyse des Abstimmungsverhaltens schon 1991 fest, "daß in dieser Abstimmung der Westen dem Osten und der Süden dem Norden unterlegen sind, daß die Katholiken gegen die Protestanten und die Jüngeren gegen die Älteren" verloren hatten. Diese Perspektive ließe sich durch folgende These ergänzen: Der Riss, der vor allem die Volksparteien CDU und SPD durchzog und in zwei fast gleichgroße Lager für Berlin oder Bonn spaltete, kann als ein Vorbote der anstehenden Kämpfe um die innerparteiliche Deutungshoheit zwischen modernistischen und traditionalistischen Kräften verstanden werden. Dies bedeutet nun keineswegs, dass andere Komponenten für die Entscheidung keine Rolle spielten. Insbesondere der Aspekt regionaler Herkunft legt deutlich die Tendenz offen, dass nord- und ostdeutsche Politiker mehrheitlich pro Berlin stimmten. Es ist aber auch erkennbar, dass die innerfraktionelle Spaltung der Parteien eben vor allem bei Union und SPD zu finden ist, während bei FDP, Bündnis 90/Die Grünen und PDS sehr eindeutige Voten für Berlin zu finden sind. Im Folgenden stehen die diskursiven Bilder beider Städte im Zentrum der Darstellung, da sie konstitutiv für das Verständnis von Wahrung und Erneuerung der Republik sind.
Der Bonner Diskurs nahm Bezug auf die Bewährtheit der westdeutschen Republik, Bonn galt dabei als Symbol und Vorbild einer erfolgreichen Demokratie. Im Zentrum des politischen Diskurses des Bonner Lagers stand jedoch das rational-sachliche Argument der Kosten, auf das unter anderem die Abgeordneten Ingrid Roitzsch (CDU), Ingrid Matthäus-Maier (SPD) und Gerhart Baum (FDP) in der Bundestagsdebatte abzielten. Ingrid Roitzsch brachte die Bonner Ratio auf den Punkt: Auch ihr Herz schlage für Berlin, doch "die Vernunft gebietet mir, mich heute für Bonn [...] auszusprechen." Neben der nüchternen Argumentationslinie, die dem tradierten Politikverständnis der Bonner Republik entspricht, wurde jedoch auch eine emotionale Komponente Bonns betont. Bescheidenheit und Demut auch im Erfolgsfalle galten als Signum der Bonner Demokratie. Die Grundpfeiler einer defensiven und dezentralen Staatsorganisation und ein föderalistischer Aufbau wurden beschworen. Die Symbolhaftigkeit Bonns für die westdeutsche Demokratie betonte in ihrer Rede unter anderem die SPD-Abgeordnete Anke Fuchs. Das damals jüngste Mitglied des Bundestages, Martin Bury (SPD), verdeutlichte die postnationale Orientierung der politischen Kultur in der Bonner Republik der 1980er-Jahre. Die junge Generation habe keinen Bedarf an nationaler Symbolik, so Bury. Zudem wurde bereits in den Vorfelddebatten häufiger die Föderalismus gefährdende Sogwirkung Berlins betont. Eine Hauptstadt Bonn solle das föderale Kräftegleichgewicht stärken, stellte beispielsweise die Junge Union Thüringens fest. Die Furcht der westdeutschen Politiker von einer "Megastadt Berlin" wurde auch in der Bundestagsdebatte häufig aufgegriffen. Außerhalb jener Debatte setzten sich die Historiker Eberhard Jäckel und Fritz Fischer in der Presse mit der problematischen Deutung einer Hauptstadt Berlin auseinander und warnten vor einem neu aufflammenden Nationalismus. Jäckel plädierte – in guter Bonner Tradition – für einen "historischen Kompromiss" zwischen den Städten, was die Aufteilung der Hauptstadtfunktionen betraf. Der sogenannte Konsensantrag von Heiner Geißler, Rainer Eppelmann und anderen, in welchem die Aufteilung von Parlament und Regierung zwischen Bonn und Berlin gefordert wurde, symbolisierte eine solche Konsensstrategie.
Der westdeutsche Berliner Diskurs sah in den Debatten gänzlich andere Aspekte als relevant an. Die Befürworter des Umzugs nach Berlin argumentierten in dramatischem Duktus, es ginge bei dieser Abstimmung um Deutschlands Zukunft. Diese Aussage wurde jedoch kaum konkretisiert.
So betonte Wolfgang Schäuble in seiner Rede vor dem Bundestag, es ginge bei der Hauptstadtfrage nicht zuerst um die Wirtschaft oder um Arbeitsplätze, sondern eben "um die Zukunft Deutschlands". Ähnlich sah der Berliner FDP-Abgeordnete Wolfgang Lüder Deutschland vor einer Abstimmung, in der regionale Interessen hinter eine Entscheidung von historisch-nationaler Tragweite zurückzutreten hätten. Der CSU-Mann Oscar Schneider erwartete vom Plenum, über die Tagespolitik hinauszublicken. Bundespräsident Richard von Weizsäcker verfasste schon im Frühjahr 1991 ein "Memorandum zur Hauptstadt". Weizsäcker hob die Frage darin auf die internationale Ebene: Berlin fungiere als europäische "Drehscheibe", womit er implizierte, die Entscheidung der Parlamentarier besitze nicht einfach eine nationale Bedeutung, sondern erfordere Verantwortung im europäischen Kontext. Der Bonner Regierungssitz wurde hingegen vielfach verunglimpft und mit Spott bedacht, weil er als provinziell und einer großen Nation unwürdig erschien. So forderte Willy Brandt vor dem Bundestag, man brauche keine Hauptstadt für Cocktailempfänge. Und der CDU-Bundesgeschäftsführer Peter Radunski verglich in der "Zeit" das Vorgehen der "Bonner Lobby [...,] als würde es um die Bewerbung zur Bundesgartenschau gehen" .
Außerhalb des Bundestages wurde von Berlin-Befürwortern eine zum Teil noch deutlichere Ansprache gewählt. So machte der "taz"-Journalist Klaus Hartung deutlich, dass ein Ja zu Berlin auch das Symbol eines Aufbruchs im Westen sei. "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein kritisierte mit Blick auf die Bonn-Befürworter, Deutschland mache sich zum "Gespött der Welt", um dann unmittelbar nach der Abstimmung zufrieden festzustellen, dass Deutschland nun ein "normaler Staat" sei. "Wir verachten unsere Flagge nicht, aber wir hissen sie nur bei Bedarf". Und der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper sagte bereits im November 1990 zur "Zeit": "Wir brauchen für ein großes europäisches Volk [...] einen angemessenen Mittelpunkt". Nach der Deutschen Einheit, das wird hierdurch deutlich, sahen viele Kräfte die Möglichkeit zur Revision der, aus ihrer Sicht, trägen Strukturen, für die die Bonner Republik zu stehen scheint. Deutlich wird dies besonders an einer Diskussion, die nicht unmittelbar mit der Hauptstadtdebatte zusammenhängt, die aber für das Verständnis einer neuen politischen Agenda in einer Berliner Republik steht: Das zeitliche Zusammenfallen der Wiedervereinigung und der Hauptstadtdebatte mit dem Zweiten Golfkrieg ließ auch außenpolitische Kräfte zunehmend an den Grundfesten der Bonner Leitlinien zur Außen- und Verteidigungspolitik rütteln. Bonn sei, so der CDU-Verteidigungs-Experte Hans-Joachim Veen, ein Symbol begrenzter Souveränität. Der Historiker Michael Stürmer kritisierte das deutsche Syndrom zwanghafter Konfliktvermeidung.
Die ostdeutsche Perspektive auf die Bundeshauptstadt Berlin war eine weitaus bescheidenere. In diesem Diskurs ging es zwar auch um einen grundlegenden Wandel der alten Bundesrepublik, aber nur insofern, als die Ostdeutschen ein gleichwertiges Zusammengehen beider Staaten erwarteten. Die Bonner Republik sollte lediglich aus gesamtdeutscher Perspektive in einigen Fragen neu justiert werden. In den Worten des Historikers Heinrich August Winkler ging es beim Regierungsumzug letztlich um die Frage, ob "aus dem Anschluss der DDR doch eine echte Vereinigung" werden würde. Wolfgang Thierse sprach in seiner Bundestagsrede von Berlin als einem wichtigen Schritt zur "menschlichen Einheit". Und Lothar de Maizière betonte, Berlin wäre ein großer Schritt des Entgegenkommens gegenüber den Ostdeutschen, die sich ja zunächst dem Grundgesetz unterworfen hätten. Dabei zollten viele der Bonner Republik ausdrücklichen Respekt wie Konrad Weiß von Bündnis 90 oder Rainer Eppelmann, der von Bonn als einem "Symbol" der Bundesrepublik sprach. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass auch PDS-Abgeordnete in die gleiche Richtung argumentierten. So sprach Dagmar Enkelmann davon, dass Bonn nicht typisch für die neue Bundesrepublik sei, und der ehemalige DDR-Kulturminister Dietmar Keller betonte die Symbolkraft, die von einer Hauptstadt Berlin sowie einer neuen Verfassung ausgehen würde. Immer wieder hielten Politiker aus den neuen Bundesländern das Argument hoch, die Hauptstadt müsse dort ihren Platz finden, wo die zentralen Probleme der Einheit zu finden sind, und dies seien nun einmal Berlin und der die Hauptstadt umgebende Osten, so beispielsweise Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Alfred Gomolka. Zudem gab es auch eine Minderheit ostdeutscher Abgeordneter, die bewusst gegen Berlin votierten, weil sie in Erinnerung an die SED-Herrschaft den drohenden Zentralismus, der von einer Hauptstadt Berlin ausginge, ablehnten, wie der CDU-Mann Clemens Schwalbe oder Klaus-Dieter Feige vom Bündnis 90.
Der mit knapper Mehrheit erreichte Hauptstadtumzug sollte schließlich der einzige echte Sieg der Ostdeutschen im Rahmen des Vereinigungsprozesses bleiben. Eine neue Verfassung erhielten die Deutschen nicht. Nach dem Umzugsbeschluss schienen ostdeutsche Befindlichkeiten zumindest in begrenztem Maße beruhigt. So bestritt der Berliner Schriftsteller Friedrich Dieckmann, dass Berlin einen Zentralisierungsschub auslöse, er erhoffe sich nun aber eine "Entprovinzialisierung des deutschen politischen Bewußtseins". Auch im benachbarten Frankreich, so der französische Intellektuelle Alfred Grosser, würde man das neue Deutschland begrüßen, das an die positive Tradition der westdeutschen Bundesrepublik anknüpfe, mit der Hauptstadt Berlin aber eine Öffnung nach Osten vollzogen habe. In den nachfolgenden Jahren sollte jedoch klar werden, dass sich in Deutschland ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel vollzog, was die politische Agenda anbelangte. Der Sieg Berlins im Hauptstadtstreit schien zum Freifahrtschein für ungehemmtes Werken der politischen Eliten des modernistischen Flügels zu werden. Die Hauptstadtentscheidung veränderte Deutschland im Stillen, aber nicht minder dramatisch.
Abschied von Bonn, angekommen in Berlin – entstand eine neue Republik?
Während die Bonner Fraktion also eine Position der Stabilisierung der alten Bundesrepublik vertrat und Bonn als symbolischen Ort dafür wahren wollte, zielten – nicht alle, aber doch einige – Kräfte, die sich für Berlin einsetzten auf eine Neujustierung der Republik. Joannah Caborn macht diesen Wandel an der Symbolik der beiden Städte diskurstheoretisch fest: Im Verlauf der 1990er-Jahre durchlebte das Berlin-Image eine positive Wendung, die nicht zuletzt das anfänglich skizzierte Abrücken zahlreicher einstiger Bonn-Befürworter in späteren Jahren erklären kann. Berlin wurde zum Symbol einer dynamischen, modernen Metropole. Es signalisierte Aufbruch, Fortschritt und Bewegung, während Bonn eher Behäbigkeit, wenn nicht gar Stillstand symbolisierte. Damit war auch der mentale und kulturelle Boden für die neuliberale Aufbruch- und Börsen-Boom-Stimmung der 1990er-Jahre, aber auch für die Diskurse um den unbeschwerten Umgang mit einem neuen Patriotismus in den 2000er-Jahren gelegt. Berlin ermöglichte zumindest die symbolische Verknüpfung einer neuen Republik mit der zum Teil radikalen Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung auf dem Feld der Sozialpolitik und der Revision in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik, die nun selbst auch in kriegerische Handlungen eingriff und einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat anstrebte. Es dürfte nicht ganz zufällig sein, dass ausgerechnet der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel die beiden einzigen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten waren, die aus der Einheitsfront der Bonn-Befürworter ausbrachen.
Gesellschaftlich ist Berlin mittlerweile die in der gesamten Republik akzeptierte Kapitale geworden. Noch im Dezember 1990 zeigte sich eine tiefe Spaltung zwischen Ost und West. Waren seinerzeit nur rund 31 Prozent der Westdeutschen für Berlin – jeder zweite wollte Bonn als Regierungssitz behalten – so forderten 65 Prozent der Ostdeutschen den Umzug nach Berlin, nur 16 Prozent votierten für den Verbleib in Bonn. Nachdem die Vereinigungskrise den Umzugsbeschluss Ende der 1990er-Jahren zunächst noch in Misskredit brachte, sah im Jahr 2007 die große Mehrheit der Westdeutschen (65 Prozent) und der Ostdeutschen (82 Prozent) ihn als richtig an.
Aber ist es tatsächlich so, wie es Kurt Sontheimer anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Hauptstadtentscheidung verlauten ließ, nämlich, dass Berlin keine neue Republik geschaffen habe? Die Kontinuität der verfassungsmäßigen Grundlagen, so Sontheimer, verbürge auch die Kontinuität der Bundesrepublik. Das Label der Berliner Republik sei in einer Verwendung, die einen grundsätzlichen Wandel behauptet, irreführend. Die Deutschen scheinen Sontheimer zu folgen: Nur die wenigsten sehen, auf die explizite Frage hin einen "großen Bruch" hin zu einer neuen Republik. Doch der Anteil derer, die dies bejaht, verdoppelte sich zwischen 1998 und 2009 immerhin von zehn auf 20 Prozent. Und zumindest ein Viertel der Westdeutschen scheint einen solchen Wandel zu bemerken. Die stille Revolution im Wertehaushalt der Berliner Republik tritt durch die Antworten auf eine andere Frage der Demoskopen vielleicht noch etwas stärker zum Vorschein. Danach befragt, welche Begriffe sie mit der Berliner Republik verbinden, antwortete etwa jeder Zweite "Ansehen" und/oder "Größe", was einen Anstieg von mehr als zehn Prozent im Vergleich zu 1998 bedeutet. Ein einziger Begriff sank in der Bewertung durch die Befragten überaus deutlich ab (von 26 auf 19 Prozent) und rangiert nur noch auf dem vorletzten Rang der Tabelle – die "soziale Marktwirtschaft".
M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung, Göttingen.
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