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"Hauptstadt Berlin – das darf nicht ein bloßes Etikett sein" Wolfgang Thierse - Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20. Juni 1991

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Der Parlamentssitz sei das Herzstück einer wirklichen Hauptstadt, so formulierte es Wolfgang Thierse 1991. Eine Abfindung mit sogenannten Repräsentativfunktionen wäre nicht nur eine Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten Deutschlands.

Wolfgang Thierse

Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20. Juni 1991

Wolfgang Thierse

Der Parlamentssitz sei das Herzstück einer wirklichen Hauptstadt, so formulierte es Wolfgang Thierse 1991. Eine Abfindung mit sogenannten Repräsentativfunktionen wäre nicht nur eine Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten Deutschlands.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute eine wahrhaft wichtige Frage zu debattieren, und wir haben zu entscheiden.

Nachdem sich gestern eine Mehrheit des Bundestages gegen einen Volksentscheid in der Hauptstadtfrage gewandt hat, kann sich dasselbe Parlament heute nicht weigern, selbst eine Entscheidung zu fällen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Berlin oder Bonn, Bonn oder Berlin oder beide – ein Streit voller Emotionen, mit Ängsten und Hoffnungen verbunden. Ich verstehe die Menschen, die sich gestern auf dem Bonner Marktplatz aus Sorge um ihre eigene Zukunft versammelt haben. Es müssen und sollten hier und heute nicht Hymnen auf die eine und Spottlieder auf die andere Stadt gesungen werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Wirklichkeit beider Städte – so unterschiedlich sie sind – widerspricht solchen Versuchen, die allzuleicht zu Karikaturen geraten. Beide Städte sind in jedem Falle grauer oder vor allem bunter als ihre Verzeichnungen, und Bonn ist eine glückliche Stadt.

Nein, es geht heute nicht um einen Wettstreit zwischen zwei Städten. Es geht vielmehr um die zukünftige gesellschaftliche und politische Entwicklung, nämlich um einen entscheidenden Schritt bei der Vollendung der Einheit Deutschlands.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Bei der Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, kann es eigentlich, so glaube ich, keinen wirklichen Sieger geben, dafür aber Verlierer mit schwer zu heilenden Verletzungen. Es geht eben nicht nur um 100.000 Menschen in der Region Bonn, sondern auch um ebenso viele oder mehr Menschen in Berlin. Die Stadt ist eben keine menschenleere Gegend. Berlin hat schon Hauptstadtfunktionen, Verwaltungsfunktionen verloren und kämpft auch deshalb mit großen ökonomischen und sozialen Problemen.

Darüber hinaus geht es generell um das Verhältnis zwischen Ost und West in Deutschland. Ebenso steht die Frage zur Debatte nach der Identität des gemeinsamen deutschen Staates, nach seiner Selbstdarstellung, nach seinem, unserem Verhältnis zur deutschen Geschichte, nach Kontinuität und geschichtlichem Neuanfang zugleich, nach unserem Verständnis von Europa, zu dem doch wohl wieder und endgültig das östliche Europa gehört.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Das sind Stichworte, die die Dimensionen der Entscheidung umreißen und die Schwierigkeiten eines überzeugenden Kompromisses verdeutlichen.

Wir Berlin-Befürworter haben in unserem Antrag Elemente eines solchen notwendigen Kompromisses zu formulieren versucht, die auch den Sorgen von Stadt und Region Bonn Rechnung tragen sollen, die zugleich aber die volle Funktionsfähigkeit von Parlament und Regierung garantieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Hauptstadt Berlin – das darf nicht ein bloßes Etikett sein, hinter dem sich nichts Substantielles verbirgt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Die Abfindung mit sogenannten Repräsentativfunktionen – Berlin als Ort für besondere Anlässe –, das wäre denn doch nicht nur eine Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten Deutschlands.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir halten den Parlamentssitz für das Herzstück einer wirklichen Hauptstadt. Dehalb sollte der Bundestag seinen Sitz in Berlin nehmen. Erst dann ist Berlin wirklich die Hauptstadt Deutschlands.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wir wollen allerdings keinen Wanderzirkus, keine Scheinpräsenzen oder nur symbolische Sitzungen in Berlin. Deshalb soll der Bundestag erst nach Berlin umziehen, wenn dort seine volle Funktionsfähigkeit gesichert ist und wenn das Zusammenwirken von Parlament und Regierung möglich ist, wenn das Parlament also seiner Kontrollfunktion voll nachkommen kann. Deshalb schlagen wir eine realistische Planung und einen vernünftigen Realisierungszeitraum für diesen Umzug vor.

Was spricht für Berlin?

Das erste Argument: politische Glaubwürdigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wer sich 40 Jahre immer wieder feierlich zu Berlin bekannt hat, sollte jetzt nicht eine totale Kehrtwendung vornehmen nach dem Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Wer so handelt, zerstört das Vertrauen in die Demokratie, mit dem wir Deutschen (Ost) in die Einheit gegangen sind. Bitte, man sage nicht, daß der Einigungsvertrag diese Kontinuität des Bekenntnisses zu Berlin einfach erledigt hat.

Das zweite Argument: politische Gerechtigkeit. Die deutsche Einigung ist unter unerhörtem Tempodruck vollzogen worden; sie verläuft unter extremem Problemdruck. Das hat zu Verletzungen, Ungleichgewichten, Verzerrungen und Benachteiligungen geführt. Ich sage das ohne jeden Vorwurf in irgendeine Richtung. Denn wir hatten im Grundsätzlichen keine Wahl. Die Chance mußte genutzt werden. Man konnte sie sich nicht aussuchen. Man kann eine Chance höchstens vertun.

Aber jetzt, im weiteren Fortgang der deutschen Einigung, müssen wir auf Ausgleich bedacht sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Bisher ist nämlich zu vieles von Ost nach West gewandert: Arbeitsplätze, Arbeitskräfte, also Menschen, Gewinne und nicht zuletzt wirtschaftliche und politische Entscheidungskompetenzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Das ist ein Prozeß, der bisher und wohl auf absehbare Zeit nicht so schnell und so wirksam, wie wir es uns alle wünschen müssen, umgekehrt werden kann, auch durch immense finanzielle Mittel nicht. Deshalb sind besondere politische Anstrengungen zur Herstellung von Gleichberechtigung nötig. Wie könnte das besser dargestellt und bewiesen werden als durch eine Hauptstadt, zu der Ost und West gleichrangig beisteuern, eben Berlin?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ob das vereinigte Deutschland im Gleichgewicht, im Einklang mit sich selbst sein wird, das wird vor allem in seinem problematischen, bisher benachteiligten, gedrückten Teil entschieden, im Osten.

Was ist das für ein Staatsschiff, in dem alle wirklichen Schwerpunkte im Westen liegen? Frankfurt bleibt Finanzzentrum, Rhein-Ruhr Wirtschaftszentrum, Hamburg-Bremen Handelszentrum, Stuttgart-München Zentrum technologischer Modernität. Was bleibt für den Osten Deutschlands? Das Problemgebiet? Der Sozialfall? Nein, hier muß eine politisch bewußte Entscheidung für ein Zentrum östlich der Elbe gegensteuern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Das dritte Argument: der Föderalismus, jenes unersetzliche Element der gelungenen demokratischen Kultur der Bundesrepublik. Ich denke, wir stärken den Föderalismus eher dadurch, daß wir die Hauptstadt dorthin verlegen, wo sie inmitten der schwächeren Länder liegt, und nicht dadurch, daß wir sie unbedingt im einwohnerstärksten und wirtschaftlich mächtigsten Land belassen.

Zudem, was ist das für ein Föderalismus, der meint nicht berücksichtigen zu müssen, daß sich zwölf – nachdem Baden-Württemberg gestern auch für Berlin gestimmt hat – der 16 Länder für Berlin ausgesprochen haben?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Darunter sind alle neuen Länder, weil sie der Überzeugung sind, daß die Entscheidung für Berlin in ihrem ureigenen Interesse liegt. Ich bitte die Bonn-Befürworter sehr, ihre Definitionsmacht nicht so weit zu treiben, daß sie dekretieren, was Interesse der neuen Länder ist oder nicht. Das können die schon selber tun, und das haben sie auch eindeutig getan!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des Bündnisses 90/ GRÜNE)

Viertes Argument: finanzielle Seriosität. Es wird oft gegen eine Entscheidung für Bonn eingewandt, der Umzug sei zu teuer, die Kosten dafür würden dem Aufbau in den neuen Ländern fehlen. Ich will dazu nur drei Sätze sagen: Eine Entscheidung für Berlin wäre eine ökonomisch segensreiche Investition des Vertrauens in die Entwicklung der neuen Länder. Eine Entscheidung gegen Berlin könnte am Schluß vielleicht doch teurer sein als eine positive Entscheidung. Auch die Entscheidung für Bonn ist nicht kostenlos; sie kostet vielmehr viele Milliarden, weil auch hier gebaut werden muß und wird. Man sollte nicht mehr an der Behauptung festhalten, daß in Berlin alles neu geschaffen werden müsse, während in Bonn alles beim alten bleiben könne.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wer so denkt und redet, macht Bonn wirklich zum Symbol des "Weiter so", als wäre in Deutschland durch die Wiedervereinigung nichts geschehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Fünftes Argument: gesamtdeutsche Solidarität. Es ist meine Sorge – ich bitte um Entschuldigung –, daß die deutsche Einigung noch immer mißlingen könnte, daß jedenfalls die ökonomische, soziale und menschliche Spaltung nur allzu langsam und opferreich überwunden werden könnte, weil kollektive Besitzstandswahrung, die im einzelnen immer verständlich ist, im Wege steht. Auch ich erinnere an den wichtigsten Satz des vergangenen Jahres, den Lothar de Maizière in seiner Regierungserklärung für die große Koalition gesprochen hat: daß die Teilung nur durch Teilen überwunden werden kann.

Es geht bei der heutigen Entscheidung eben nicht nur um ein Symbol, wie die Bonn-Befürworter behaupten. Im Gegenteil, Berlin zum Ort der Repräsentation machen zu wollen, Berlin mit dem Hauptstadttitel nur zu schmücken heißt, den Osten Deutschlands mit einem Symbol abzufinden. Es geht um wirkliche Solidarität, wenn sie anfängt, einerseits – in der Region Bonn – weh zu tun und andererseits – in den neuen Länder – wirksam zu sein.

Was wird uns im Osten Deutschlands nicht alles an grundlegenden, auch schmerzlichen Änderungen des Lebens abverlangt? Alles muß und wird bei uns anders werden. Das ist für sehr viele Menschen wahrhaftig nicht leicht. Ist demgegenüber die gewiß unbequeme Änderung, die mit der Verlegung des Parlamentssitzes verbunden ist, eine solch unanständige Zumutung?

Meine Damen und Herren, nicht der Umzug von Parlament und wichtigeren Regierungsfunktionen muß schnell vollzogen werden, sondern die Grundsatzentscheidung für Berlin muß jetzt erfolgen. Sie wäre ein Zeichen, ein wunderbarer Anlaß der Hoffnung auf wirkliche Gemeinsamkeit und Solidarität, einer Hoffnung, die uns, die Menschen im östlichen Deutschland, die großen Probleme der nächsten Jahre leichter überstehen ließe, die uns in Deutschland wirklich näher zusammenrücken ließe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Die Entscheidung für Berlin wäre ein durch nichts – durch nichts! – zu ersetzender Schritt zur Verwirklichung der politischen, sozialen, menschlichen Einheit Deutschlands. Ich bitte Sie, ich appelliere an Sie, dieses Zeichen zu setzen, diesen Schritt zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Fussnoten

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