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Erinnerungskulturen in Israel - Eine Generationenfrage | Die Wohnung | bpb.de

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Erinnerungskulturen in Israel - Eine Generationenfrage Über den Umgang europäisch-jüdischer Familien mit der Erinnerung an den Holocaust

Itay Lotem

/ 9 Minuten zu lesen

"Die Wohnung" zeigt, wie unterschiedlich der Regisseur Arnon Goldfinger und seine Mutter Hannah mit der eigenen Familiengeschichte umgehen. Solche Unterschiede sind häufig in israelischen Familien zu beobachten.

Ein grauer Tag. Zwei Menschen - Mutter und Sohn - laufen durch den Regen im jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. In wild verwachsenen Parzellen suchen sie den Grabstein eines Ur- bzw. Großvaters, der vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin gestorben ist. Es ist eine der letzten Szenen im Dokumentarfilm "Die Wohnung" des israelischen Regisseurs Arnon Goldfinger. Sie zeigt den Regisseur mit seiner Mutter. Die Mutter, Hanna Goldfinger (geb. Tuchler), kam in Berlin zur Welt und verließ 1936 als kleines Kind im Zuge der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten Deutschland mit ihren Eltern. Arnon Goldfinger ist 1963 in Israel geboren und aufgewachsen. Zwei Generationen, die gemeinsam auf der Suche nach einem Stück Familiengeschichte sind, und doch wirkt es, als ob die beiden aus zwei unterschiedlichen Welten kämen. Während der Sohn sich leidenschaftlich für das Leben seiner Vorfahren interessiert, lässt die Mutter dessen Spurensuche fast gleichgültig.

Arnon Goldfinder mit seiner Mutter Hannah auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. (© "Die Wohnung " / zero one film)

Zwei Generationen, zwei völlig unterschiedliche Arten, mit der Familienvergangenheit umzugehen, wie sie in israelischen Familien häufig zu beobachten sind. Das Beispiel von Arnon Goldfinger und seiner Mutter zeigt, welche Rolle die Geschichte – und insbesondere die Umbrüche im Verhältnis zwischen Europa und Israel – im Leben der verschiedenen Generationen spielt. Zugleich spiegelt es wider, wie sich die Erinnerungskulturen des Landes mit der Zeit weiterentwickeln und wandeln.

Gemeinsam nach vorn blicken, eine neue Gesellschaft schaffen

Zunächst stellt sich die Frage: An welche Geschichte erinnern sich israelische Familien? Die europäischen Juden, die 1948 Israel gründeten, vereinte damals noch keine gemeinsame Geschichte. Sie kamen aus vielen Ländern, Kulturen und Gesellschaftsschichten und verließen Europa aus den verschiedensten Gründen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Auch in Israel bildeten sie keine einheitliche Gruppe. So hatte eine jiddisch-sprachige Jüdin aus einem polnischen Dorf, die in den 1920er-Jahren nach Palästina einwanderte, wenig gemeinsam mit einem großbürgerlichen deutschen Juden, der nach der Machtergreifung in den 1930er-Jahren emigrierte. Dieser wiederum hat kaum Gemeinsamkeiten mit einem ungarischen Holocaustüberlebenden, der in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre das neu gegründete Land erreichte.

Jüdische Einwanderer in Israel (1948). (© The Palmach Archive)

Nach der Staatsgründung 1948 hatten in Israel die verschiedenen Vorgeschichten aus Europa keinen Platz. Die zionistischen Gründer/innen wollten eine neue Gesellschaft schaffen, die nach vorn blickt. Diese sollte keine Ähnlichkeiten mit den traditionellen jüdischen Gemeinden haben, die die zionistischen Einwanderer/innen in Europa zurückließen und als schwach und unterentwickelt empfanden. Die neue Generation, die in Israel geboren wurde, sollte zum Enthusiasmus für das neue Land erzogen werden und unbelastet von Geschichten aus einem grauen, kalten Kontinent aufwachsen. In anderen Worten: Es entstanden Mechanismen des Vergessens und Verdrängens in der Gesellschaft.

Sprachlosigkeit der ersten Generation

Das Schweigen bedeutete nicht, dass die Menschen tatsächlich ihre Vergangenheit, Sprachen und Erfahrungen vergaßen. Viele deutschen Juden wie Arnon Goldfingers Großeltern lasen bis zu ihrem Lebensende lieber auf Deutsch und backten zuhause Apfelstrudel, während manche polnische Juden bis ins hohe Alter Auszüge aus dem polnischen Nationalepos "Pan Tadeusz" rezitieren konnten. Jedoch sprachen sie mit ihren Kindern häufig nur Hebräisch und erzählten selten vom Leben, das sie vor der Einwanderung geführt hatten. Oft führten sie eine Art "Doppelleben". Sie erzogen ihre Kinder in neu gelerntem, teils holprigem Hebräisch, während sie ihre Muttersprachen für Freunde, Erinnerungen und manchmal auch Träume bewahrten. Oft sagen Menschen dieser ersten israelischen Generation, ihnen fehlten die hebräischen Worte, um ihre Erfahrungen aus Europa zu beschreiben.

Der Mangel an Worten betraf insbesondere die Überlebenden des Holocausts, die nach Israel einwanderten und dort ein neues Leben begannen. Wie kann man seinen Kindern das Unbeschreibliche erklären? Für den israelischen Schriftsteller Jechiel Dinur, der unter dem Pseudonym K. Zetnik über den Holocaust schrieb, war Auschwitz "ein anderer Planet", der für Menschen nie verständlich sein könne. Andere Überlebende wollten ihre Kinder mit ihren schweren Erinnerungen nicht belästigen. Das Schweigen von Holocaustüberlebenden wird oft mit Trauma-Theorien erklärt. Demnach sei die Unfähigkeit, ihre schmerzhaften Erlebnisse in Worte zu fassen, typisch für posttraumatische Belastungsstörungen. Diese spüren durch die traumatisierende Erfahrung eine Hilflosigkeit, die zur Erschütterung ihres Selbst- und Weltverständnisses führt. In diesem Sinne berichten Kinder von Holocaustüberlebenden oft, dass ihre Eltern unter posttraumatischen Phänomenen wie Albträumen oder Angstattacken litten.

Desinteresse der zweiten Generation

Das Schweigen der Elterngeneration kann jedoch auch über das Desinteresse ihrer Kinder verstanden werden. Warum beschäftigte sich die sogenannte zweite Generation eher selten mit der Geschichte ihrer Eltern? Einen Teil der Erklärung liefern Familienstrukturen, in denen Kinder das unverständliche Leiden der Eltern zwar wahrnahmen, aber ihren Schmerz durch dessen Thematisierung nicht neu aufflammen lassen wollten. Dies trifft aber nur teilweise zu und betrifft vor allem Familien von Holocaustüberlebenden. Auch in Familien wie der von Arnon Goldfinger, in denen die erste Generation Europa vor 1939 verließ und den Krieg selbst nie erlebten, zeigt die zweite Generation kaum Interesse an der Familiengeschichte.

Hinzu kam, dass das gesellschaftliche und politische Klima in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung junge Menschen nicht ermutigte, sich für Europa zu interessieren - und noch weniger für die Länder, aus denen ihre Eltern stammten. Die frühzionistische Erziehung motivierte junge Israelis vielmehr, ihre neue Heimat aufzubauen, sie zu lieben und jedes Zeichen von "Diaspora" zu missachten.

Erziehung und Bildung waren zukunftsorientiert, und diese Zukunft spielte sich auf Hebräisch ab. Sprachen wie Jiddisch, Deutsch oder Polnisch repräsentierten eine Vergangenheit, die gemieden werden sollte. Oft wollten sich die Kinder mit der Vergangenheit der Eltern auch nicht näher beschäftigen. In der Tat sagen viele Israelis der zweiten Generation, sie hätten "keine Zeit" gehabt. Sie seien mit dem Aufbau des Staates beschäftigt gewesen. Aber vielmehr nötigte die Unsicherheit der ersten Existenzjahre Israels die Menschen, eher ans Überleben und die nahe Zukunft zu denken, als sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Bedroht von seinen Nachbarländern besaß Israel zu dieser Zeit nicht die militärische Kraft von heute. Jungen Israelis war deshalb damals meist unklar, ob ihr Land in fünf Jahren – oder in fünf Wochen – immer noch existieren würde. In dieser Stimmung hatten viele keine Geduld für die Vergangenheit der Eltern.

Mit der Verdrängung der Vergangenheit der Elterngeneration zog Israel statt polnischer, deutscher oder französischer Juden die erste Generation von "echten" Israelis groß. Zum ersten Mal teilten die Menschen eine gemeinsame Sprache und eine mehr oder weniger zusammenhängende Identität. Um eine funktionierende, einheitliche Gesellschaft zu schaffen, gaben die eingewanderten Eltern ihre Vergangenheit auf. In vielen Fällen bedeutete dies die Bildung einer Kluft zwischen ihnen und ihren Kindern, die ihre europäischen Eltern nicht verstanden.

Ein Riss in der Stille

Der Riss im Kreis des Schweigens und Desinteresses entstand schließlich nicht durch private Familiendynamiken, sondern durch eine öffentliche Thematisierung der Schoah. Nach der Staatsgründung war es zunächst äußerst schwierig für Holocaustüberlebende, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Der Angeklagte Adolf Eichmann (2. v. l) während des Prozesses 1961 in Jerusalem. Er wurde zum Tode verurteilt und am 31. Mai 1962 hingerichtet. (© picture alliance / dpa)

Die zionistische Führung des Landes hatte wenig Interesse daran, ihnen eine Stimme zu geben. Der Grund dafür war hauptsächlich der Vorwurf vieler Juden, die sich während des Zweiten Weltkrieges bereits in Palästina befanden und deshalb selbst nie dessen Gräuel erlebten, die europäischen Juden seien "wie Lämmer zur Schlachtbank" gegangen. In einer Gesellschaft, die Selbstverteidigung und Selbstbestimmung hoch hielt, waren die Erfahrungen von Opfern nicht erwünscht. So betonten die ersten Erinnerungsinitiativen zum Holocaust den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 als besonderes Zeichen jüdischer Selbstverteidigung denn Erfahrungen von Überleben oder gar Verfolgung.

Erst im Jahr 1961 mit dem Prozess gegen den deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der sich als Leiter des "Judenreferats" für die Verursachung des Todes von Millionen von Juden durch die Organisation ihrer Vertreibung und Deportation von Juden während des Zweiten Weltkriegs verantworten musste, begann die israelische Gesellschaft einen Raum für Erinnerungen von Holocaustüberlebenden zu öffnen. Als Eichmann vom israelischen Nachrichtendienst Mossad aus Argentinien nach Israel verschleppt wurde, inszenierte die israelische Regierung eine hoch mediatisierte Anklage, in der 100 Augenzeugen ihre persönlichen Schreckenserfahrungen während des Zweiten Weltkriegs schilderten. Die mediale Aufmerksamkeit auf die Zeitzeugen führte dazu, dass die israelische Gesellschaft sich die Geschichte des Holocausts zum ersten Mal mittels Zeitzeugenberichten aneignete. Ab diesem Zeitpunkt wurden Holocaustüberlebende zu öffentlich akzeptierten und respektierten Figuren.

Der Holocaust im Mittelpunkt

Ab den 1960ern-Jahren nahm der Holocaust einen immer größer werdenden Platz in der israelischen Öffentlichkeit ein. Dies zeigte sich am Beispiel der wachsenden Bedeutung von Yad Vashem, der 1957 in Jerusalem eröffneten Gedenkstätte für den Holocaust. Sie wurde mehr und mehr Ziel von Schulausflügen, Wandertagen von Soldaten und Staatsbesuchen. Das zunehmende gesellschaftliche Bewusstsein für die Erinnerung an den Holocaust spiegelt sich in Umfragen wider, die in den 1990ern-Jahren erstmals zeigten, dass israelische Schüler den am 1953 eingeführten Holocaustgedenktag als den wichtigsten Gedenktag des Landes empfanden.

Diese Veränderung hängt mit Entwicklungen im Schulsystem zusammen. Ab den 1960ern-Jahren begannen Schulprogramme, den Holocaust für alle Altersstufen zu thematisieren. Augenzeugenberichte von Kindern oder Auszüge aus dem Tagebuch Anne Franks galten als Lektüre für jüngere Schüler, während der Geschichtsunterricht in höheren Klassen die Fakten und Daten des Holocausts behandelte. Zusätzlich veranstalteten Schulen jedes Jahr am Holocaustgedenktag Zeremonien.

Israelische Soldatinnen besuchen bei einem Ausflug nach Yad Vashem das dortige Holocaust Museum (2015). (© picture alliance / landov)

Diese jährlich wiederkehrenden Inszenierungen von Pflichtlektüren wie Augenzeugenberichten, Gedichten und Liedern über den Holocaust, vermittelten Kindern die Bedeutung des Holocausts schon ab einem frühen Alter.

Der Generationswechsel ab der Mitte der 1980er-Jahre konfrontierte die israelische Gesellschaft mit dem Altern und Sterben der Holocaustüberlebenden. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Projekte, die Augenzeugenberichte der Überlebenden aufzeichneten, damit ihre Geschichten für die kommenden Generationen zugänglich bleiben. Filmemacher drehten Dokumentarfilme und Schulen luden Holocaustüberlebende ein, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Dennoch brach diese Entwicklung nicht unbedingt den Kreis des Schweigens innerhalb der Familien. Oft war es Überlebenden einfacher, ganzen Schulklassen von ihrer Vergangenheit zu erzählen, als mit ihren Kindern zu sprechen, die nicht immer Interesse zeigten. Häufig entdeckten Enkelkinder die Geschichte der Großeltern nicht in der Intimität des Wohnzimmers, sondern in einem halböffentlichen Vortrag mit ihren Schulkameraden.

Die Entdeckung der Wurzeln

Seit den 1990ern-Jahren bieten israelische Schulen den 10. bzw. 11. Klassen die sogenannten Polenreisen an. Dabei fahren Schulklassen nach Polen, um dort eine Woche lang Orte des Schreckens wie Auschwitz, Majdanek oder die Stätte des Warschauer Ghettos zu besichtigen. Viele Schüler beschreiben diese Reisen als eine prägende Erfahrung, die für sie die Relevanz des Holocausts verdeutlicht. Jedoch sind sie ein umstrittenes Thema zwischen der israelischen und polnischen Regierung. Die letztere ist der Ansicht, dass israelische Jugendliche Polen auf diese Weise als gigantischen Friedhof wahrnehmen. Tatsächlich trägt die Schwerpunktsetzung dieser Reisen dazu bei, dass viele junge Israelis heute die europäische Geschichte vor allem mit dem Holocaust verbinden.

Hingegen interessieren sie sich mehr und mehr für die gesamte Geschichte ihrer Familien, ganz unabhängig vom Holocaust, wie etwa Arnon Goldfingers Suche nach den Spuren seiner Großeltern veranschaulicht. Insbesondere für die nach den 1960ern-Jahren Geborenen, die als Teil der jüdisch-israelischen Mehrheitsgesellschaft aufwuchsen, wurde ihre Familiengeschichte zu einem Zeichen einer besonderen Identität. So führten Schulen in Israel ab den 1980ern-Jahren in der 7. bzw. 8. Klasse Projekte ein, in denen Kinder ihre Herkunft erforschten. Auf diese Weise entdeckten Israelis der dritten Generation Details über das Leben ihrer Groß- oder Urgroßeltern vor der Einwanderung nach Israel. Umso mehr stärkten solche Erkenntnisse in vielen Fällen das Bewusstsein, eine Familienverbindung mit einem anderen Land – sei es Polen, Deutschland, Griechenland oder Marokko – zu haben.

Der Umgang der Familie Goldfinger mit ihrer Vergangenheit verdeutlicht die Vielseitigkeit israelischer Identität. Während sich Mutter und Geschwister lieber auf die Gegenwart und die unmittelbaren Erlebnisse in Israel konzentrieren, möchte Arnon Goldfinger seine Wurzeln – und damit letztliche seine eigene Identität – aufdecken und verstehen lernen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Aneignung der Geschichte des Holocausts, sondern auch um das komplexe Verhältnis zur Vorkriegswelt, die das Leben seiner Großeltern bis zum Ende prägte.

Fussnoten

Geboren 1982, aufgewachsen in Israel und England. Studium in Paris und Berlin. Lebt und arbeitet seit 2012 in London. Seit vielen Jahren im Bereich deutsch-jüdischer bzw. polnisch-jüdischer Dialog tätig. Co-Autor des Buches "Israel – nah im Osten" (bpb-Schriftenreihe Band 1358).