Mehr Gemeinschaftsgefühl und ein stärkerer sozialer Zusammenhalt? Erinnerungen an die DDR als Potenzial für Generationenkonflikte
Sind positive Erinnerungen an das Gemeinschaftsgefühl in der DDR ein generationenspezifisches Phänomen? Interviews mit Familien zeigen, dass insbesondere die "Wendekinder" heute einen deutlich anderen Blick auf die DDR-Vergangenheit haben als die Generation ihrer Eltern.
Folgt man lebensweltbezogenen Zeitzeugenberichten, dann haben Hausgemeinschaften und nachbarschaftliche Hilfen in der DDR ein intensives Gemeinschaftsgefühl und einen starken Zusammenhalt gefördert. Positiv in Erinnerung sind von der DDR aber auch andere Formen der Gemeinschaftsbildung geblieben, wie die vielfältigen Angebote der Freizeitgestaltung Jugendlicher durch gemeinschaftliche Gruppennachmittage, Sportveranstaltungen und Ferienfreizeiten oder das ausgeprägte Vereinswesen sowie die vielfachen kulturellen Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene. Kontrastiert werden diese Erinnerungen in aller Regel mit gegenwärtigen Erfahrungen, beispielsweise mit der Wahrnehmung einer immer weiter fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft. Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Erinnerungen an ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl und einen stärkeren sozialen Zusammenhalt in der DDR ein generationenspezifisches Phänomen sind.
Generationenspezifische Erinnerungen
Dass das gemeinsame Erleben und Erfahren von historischen Ereignissen sowie die gemeinsame Teilung von "Sozialisationsmustern", Wert- und Normvorstellungen und von kollektiven Muster der Verarbeitung von Vergangenheit das Potenzial haben, Generationen zu konstituieren und dauerhaft zu prägen, hat Karl Mannheim schon im Jahr 1928 dargelegt. Demzufolge formieren sich Erinnerungen generationenspezifisch auf der Grundlage erlebter Erfahrungen, aber auch anhand retrospektiver Interpretationen und Zuschreibungen.[1] Die Generationenzugehörigkeit ist somit ein bedeutender sozialer Rahmen. Er kann helfen Erinnerungen zu deuten und zu erklären. Der Begriff Generation, wie er von Karl Mannheim verwendet wurde und auch in diesem Beitrag zur Anwendung kommt, stellt Generationen in einen gesellschaftlichen Zusammenhang: "Gesellschaftliche Generationen" definieren sich als "Einheit, die auf einer Geburtskohorte aufruht, nämlich auf der Menge von Personen, die im gleichen Zeitraum geboren sind". Im Gegensatz zu gesellschaftlichen Generationen bestimmen sich familiale Generationen über die "Position in der Abfolge von Eltern und Kindern", wobei als analytische Abgrenzung das Geburtsdatum gilt. Im Rahmen ihres Lebensverlaufs haben die gesellschaftlichen Generationen die gleichen historischen Ereignisse im gleichen Alter erfahren und haben damit das Potenzial, gemeinsame Erinnerungen an die gemeinsam erlebten Ereignisse auszubilden.[2] Nach der klassischen Definition Karl Mannheims gibt es einen Unterschied zwischen Generationseinheit und Generationenzusammenhang: "Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ‚Generationenzusammenhang‘, diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationenzusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ‚Generationseinheiten‘ im Rahmen desselben Generationszusammenhanges".[3]Kleine Generationengeschichte der DDR und Ostdeutschlands
Für die DDR und Ostdeutschland haben Rainer Gries und Thomas Ahbe eine sechsstufige Generationentypologie entwickelt. Sie unterscheiden die Generation der misstrauischen Patriarchen (geboren zwischen 1883 und 1916), die Aufbau-Generation (geboren zwischen 1925 und 1935), die Funktionierende Generation (geboren zwischen 1936 und 1948), die Integrierte Generation (geboren zwischen 1949 und 1959), die Entgrenzte Generation (geboren zwischen 1960 und 1972) und die Wendekinder (geboren zwischen 1973 und 1984).[4]Darauf aufbauend lässt sich eine dreiteilige Generationentypologie entwerfen, die insbesondere die persönliche Prägung durch sozialistische Normen und Werte in der DDR in den Blick nimmt. Danach sind die Aufbau-Generation und die Funktionierenden zur Ersten Generation Ostdeutschland zu zählen: Ihre Angehörigen sind noch vor Gründung der DDR geboren und stark durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt. Die Integrierten und die Entgrenzten gehören zur Zweiten Generation Ostdeutschland: Sie sind in die sozialistische DDR hineingeboren und haben am stärksten vom materiellen und kulturellen Aufstieg der DDR, insbesondere von sozialen Projekten wie beispielsweise dem Wohnungsbauprogramm profitiert.[5] Die Wendekinder in der Konzeption von Ahbe und Gries entsprechen der Dritten Generation Ostdeutschland. Sie umfasst mit dem Jahrgang 1984 den letzten Jahrgang, der noch in der DDR eingeschult wurde. Die Dritte Generation Ostdeutschland verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend in materiell relativ unbesorgten Verhältnissen. Ihr Verhältnis zu den Eltern war stärker als bei den früheren Generationen von emotionalen "Widersprüchlichkeiten" geprägt. Denn das "jugendspezifische Distanzierungsverlangen gegenüber den eigenen Eltern oder der Erwachsenen-Generation […] war bei [... der Dritten Generation Ostdeutschland, Anmerkung der Autorin] durch den Transformationsprozess überlagert": Mit der deutsch-deutschen Vereinigung stand nämlich die Generation, die den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht hatte, der Generation ihrer Kinder gegenüber, deren eigene Erfahrungen mit der DDR nur sehr gering ausgeprägt waren.[6] Daraus erklärt sich für Thomas Ahbe und Rainer Gries auch, warum sich gerade die Dritte Generation Ostdeutschland ihrer Vergangenheit und der ihrer Eltern so bestimmt öffentlich stellt, beispielsweise durch zahlreiche Publikationen.[7] Die Dritte Generation Ostdeutschland vereint eine Konzeption von zu Umbruchzeiten Sozialisierten, die aufgrund ihrer Biografie besonders empfindsam für Vergangenheits- und Aufarbeitungsdiskurse sind.[8]
Erinnerungen an Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalt in der DDR aus generationenspezifischer Perspektive
Um generationenspezifischen Erinnerungen nachzuspüren, bietet es sich an, Familien zu befragen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen daher Ergebnisse von Interviews mit Familien, die in der DDR aufgewachsen sind. Zunächst ist zu resümieren, dass es sehr schwierig war, Familien für ein Interview zum Thema DDR zu gewinnen. Viele Familien, die ich für ein Interview angefragt habe, lehnten ab, weil sie nicht gerne im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung über ihr Leben in der DDR berichten wollten. Letztendlich gelang es mir nur durch persönliche Vermittlung von Verwandten und Freunden, fünf Familien für ein Gespräch zu gewinnen. Zwar können diese Interviews nicht generalisiert werden, da die Familien kein repräsentatives Abbild aller Familien, die in der DDR aufgewachsen sind, darstellen. Dennoch unterscheiden sich die Interviews hinsichtlich des Wohnortes, des Bildungsniveaus und der Generationenzusammensetzung. Zum Befragungszeitpunkt lebten die Familien in unterschiedlichen urbanen beziehungsweise ländlichen Gegenden – dies variierte von einer dörflichen Gemeinde, über eine Kleinstadt und Mittelstadt bis zu einer Großstadt. Ein Teil der interviewten Familien wies ein mittleres, ein anderer Teil ein hohes Bildungsniveau vor. Die Kinder entstammten in allen Familien der Dritten Generation Ostdeutschland (in der Konzeption von Gries und Ahbe den Wendekindern). Die Eltern entstammten der Zweiten Generation Ostdeutschland (in der Konzeption von Gries und Ahbe der integrierten und der entgrenzten Generation). Die Interviews dauerten in der Regel eine Stunde und fanden allesamt in den Wohnungen der Familien statt. Zunächst bat ich die Familienmitglieder, spontan ihre Erinnerungen an die DDR zu äußern; in einem zweiten Schritt sollten die Familien öffentliche Erinnerungen an die DDR diskutieren.[9]
Im ausgeprägten Gegensatz zu diesen Erinnerungen im Familienkontext steht die öffentliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Sie thematisiert hauptsächlich den Diktatur- und Repressionscharakter des SED-Regimes.[10] Wie Thomas Großbölting treffend formuliert hat, könnten sich damit kaum gegensätzlichere DDR-Bilder gegenüberstehen: Während im Privaten ein Bild der DDR als "bunte, fröhliche und von Solidarität geprägte Gemeinschaft" vorherrscht, überwiegen auf der Seite der öffentlichen Erinnerungen "Machtstrukturen und Repressionsmechanismen".[11] Beide Erinnerungsbilder stehen sich mehr oder wenig unvermittelt gegenüber. Was aber passiert, wenn man die in der DDR aufgewachsenen Familien mit den öffentlichen Diktaturerinnerungen unmittelbar konfrontiert?
"Das muss man anders sehen ... [d]u hast die Ideologie klar gelehrt gekriegt"
Um eine Diskussion zwischen den Familienmitgliedern über öffentliche Erinnerungen an die DDR anzustoßen, habe ich in den Interviews jedem Familienmitglied eine Kopie von drei Textstellen vorgelegt. Diese bildeten typische öffentliche Erinnerungen an die DDR ab, wie ich sie in einer vorhergehenden Untersuchung herausarbeiten konnte. Ich bat die Familien, diese Textstellen zu diskutieren und ihre Meinung dazu zu äußern. Die erste Textstelle umfasste "öffentliche Diktaturerinnerungen" (die DDR war eine totalitäre Diktatur), die zweite "öffentliche Diktatur- und Lebenswelterinnerungen" (die DDR war eine Diktatur und ein Lebensraum, in dem geliebt und gelebt wurde) und die dritte "öffentliche Lebenswelterinnerungen" (die DDR war ein Land, in dem es sich gut arbeiten und leben ließ) an die DDR. Zunächst war auffällig, dass sich fast alle Familien in der Diskussion lediglich auf die öffentlichen Diktaturerinnerungen bezogen. Es zeigten sich hier einerseits eine Einstellungsänderung bei den Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland und andererseits ein offener Widerspruch zwischen den Generationen. Das noch zuvor positiv in Erinnerung gerufene Gemeinschaftsgefühl, der soziale Zusammenhalt und die Zwischenmenschlichkeit traten bei den Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland in den Hintergrund. Sie äußerten sich nun DDR-kritisch und beurteilten die DDR – genauso wie es in den öffentlichen Erinnerungen deutlich wird – als Diktatur mit fehlender Meinungsfreiheit, mit Repressionen, Drill und Anpassung an das System:"[…] in dem Sinne bist du ja auch wirklich unterdrückt worden […] und von Anfang an auch gedrillt worden, Schule und so weiter. […] Du bist dazu erzogen worden in das kommunistische System zu passen"; "[…] es war ein gewisses Diktat, war es logischerweise. […] wenn du zur Wahl oder so was in dem Dreh, du hast ja keine andere Wahl gehabt, du musstest gehen in dem Sinne oder die kamen zu dir nach Hause. Also, das war schon ein Diktat".
Im Gegensatz zu den Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland blieben die Eltern ihrer Bewertung der DDR treu und ließen sich in ihren grundlegend positiven Erinnerungen nicht beeinflussen. Vielmehr wehrten sich die Eltern gegen einseitige Pauschalurteile über die DDR, die sie in den öffentlichen Erinnerungen zu erkennen glaubten:
"[W]eil es keine totalitäre Diktatur gewesen ist. […] Man darf […] die DDR ganz einfach nicht nur auf die Stasi reduzieren."
Und: Die Eltern verteidigten ihr von Solidarität und Gemeinschaft geprägtes Leben in der DDR umso stärker, je unmissverständlicher die öffentlichen Erinnerungen die DDR als von Überwachung, Unterdrückung und Verfolgung bestimmt beschreiben:
"Wir hatten alle Arbeit, wir hatten eine bezahlbare Wohnung. Es gab nicht so viel Kriminalität. Der Zusammenhalt war da […] deshalb [emp]finde ich das jetzt nicht […] als Unterdrückung oder Diktat […] also wie gesagt, wir waren jetzt keine direkte Diktatur wie zu Hitlerzeiten".
Die zweite generationenspezifische Besonderheit, die in der Diskussion der öffentlichen Diktaturerinnerungen in den Familieninterviews zum Vorschein trat, war eine offen ausgesprochene Abgrenzung Angehöriger der Dritten Generation Ostdeutschland von ihren Eltern. So widersprachen zwei befragte Söhne der Ansicht ihrer Eltern über die DDR zum Beispiel zum Drogenkonsum und zur Kriminalität:
"Aber man muss das anders sehen [...] auch in der DDR sind Leute umgebracht worden […] Drogen gab es in der DDR auch zum Beispiel […] in Halle gab es ganz schlimm Heroin [...] das habt ihr bloß nicht alle mitgekriegt".
Außerdem widersprachen die beiden Söhne ihren Eltern bezüglich der ideologischen Durchdringung in der DDR-Gesellschaft:
"Du hast die Ideologie klar gelehrt gekriegt, […] du hast dein Pionierzeug angehabt und zu dir ist gesagt worden, das ist so und so wird es gemacht"; "Die hatten wirklich Angst irgendwann, irgendwas zu sagen, ihre freie Meinung zu äußern und das ist halt was Negatives an der DDR gewesen, dass du nicht deine Meinung so äußern konntest wie heute".
Warum reagierten Angehörige der Dritten Generation Ostdeutschland ganz anders als ihre Eltern auf öffentliche Erinnerungen, die die DDR als von Unterdrückung, Verfolgung und Unfreiheit charakterisiert beschreiben? Warum traten gerade bei der Konfrontation mit den öffentlichen Diktaturerinnerungen Generationenkonflikte zutage?
Dritte Generation Ostdeutschland: Anders betroffen vom Thema DDR

Erinnerungen bedürfen einer generationensensiblen Kontextualisierung
Der unterschiedliche Umgang mit öffentlichen Diktaturerinnerungen an die DDR, der sich in meinen Interviews zwischen Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland und ihren Eltern zeigte, verdeutlicht, dass Erinnerungen einer generationensensiblen Kontextualisierung bedürfen: Primärerfahrungen und sekundär geprägte Erinnerungen sind nicht gleichzusetzen oder austauschbar. Es können zwar auch diejenigen, die lediglich in einem geringen Umfang persönliche Erfahrungen mit einem vergangenen Ereignis haben – wie die Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland mit der DDR –, Erinnerungen daran ausbilden. Jedoch sind diese Menschen davon abhängig, sich die Erfahrungen von außen anzueignen beziehungsweise vermitteln zu lassen, weshalb ihre Erinnerungen insgesamt weniger beständig, aber einfacher zu formen sind. In anderen Worten: Die sekundär geprägten Erinnerungen (der Dritten Generation Ostdeutschland) haben ein höheres Abstraktionsniveau. Dieses ist durch Erzählungen von Zeitzeugen, aber auch von öffentlichen Erinnerungen geprägt und deshalb weniger verhärtet als das ihrer Eltern. Deren Erinnerungen gehen auf persönliche (Primär-)Erfahrungen, also auf etwas selbst Erlebtes zurück und sind daher nachhaltiger in ihr Gedächtnis eingebrannt. Gerade deshalb sollte der Dialog zwischen den Generationen stärker gefördert werden. In der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen beziehungsweise Erinnerungen verschiedener Generationen kann es nämlich – über den Familienkontext hinaus – gelingen, sich über Vergangenheit zu verständigen.Zitierweise: Pamela Heß, Mehr Gemeinschaftsgefühl und ein stärkerer sozialer Zusammenhalt? Erinnerungen an die DDR als Potenzial für Generationenkonflikte, in: Deutschland Archiv, 26.3.2015, Link: http://www.bpb.de/203625