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"Die Griechen waren niemals, was die Deutschen von ihnen dachten" Zur Kritik des Philhellenenismus

Hans Eideneier

/ 7 Minuten zu lesen

"Griechenland" war lange Zeit Projektionsfläche idealisierter Vorstellungen. Was aber machte die Philhellenen aus? Und wie steht es um den Philhellenismus heute?

"Neugriechisch ist gar nicht so schwer" (© Kostas Mitropulos)

Karikaturen spielen ja zur Zeit in den griechisch-deutschen Beziehungen eine aggressive bis niederträchtige Rolle. Darf ich Ihnen bei der Betrachtung einer älteren Karikatur meines Freundes Kostas Mitropulos behilflich sein?Ein erfreut lachender Mann in antiker Hoplitenrüstung steht rechts im Bild: Rundschild mit Mäandermuster, Brustpanzer, der aufgeklappte Sturmhelm, Beinschienen und Handspeer sind gut zu erkennen. Der Blick und die Worte richten sich auf sein Gegenüber, durch Käppi, schwarzes Haar und Schnäuzer wohl als Prototyp eines Griechen namens Jorgos, Kostas oder Jannis zu identifizieren, dessen Blick einigermaßen ratlos wirkt. Ersterer wendet sich mit der altgriechischen Sentenz Άνδρα μοι έννεπε μούσα πολύτροπον...’ an Letzteren, worauf der messerscharf schließt: ah deutsch – das kann nur ein Deutscher sein.

Auf den sogenannten "Philhellenen" deuten folgende unverwechselbaren Merkmale:

  1. Seine offensichtliche Begeisterung für Land und Leute auch noch zu Zeiten, da wir einen Jorgos, und nicht mehr einen Perikles, auf einem Bahnhof treffen.

  2. Seine völlig deplazierte Reisekleidung für das Land seiner Begeisterung, die bezeugt, dass er auf der Suche nach dem klassischen antiken Griechenland ist.

  3. Die unpassende Aufmachung des humanistisch gebildeten Hopliten belegt zugleich auf eindrucksvolle Weise, dass er sich im Vorfeld seiner Begegnung mit dem realen Griechen nicht über dessen Lebensumstände kundig gemacht hat und also schlicht schlecht informiert ist.

  4. Der Hochgebildete ist seinem zeitgenössischen Gegenüber prinzipiell wohlgesinnt, wird sich aber mit ihm, da er sich einer Sprachphase des Griechischen von vor 2800 Jahren bedient, kaum verständigen können.

  5. Es ist zu befürchten, dass ihn das nicht weiter schert und dass er, wie schon sein Name sagt, auf die Hellenen zusteuert, zu denen er diesen Jorgos gar nicht zählt, da dieser auf sein Homerzitat nicht angemessen reagiert.

Von ihrer Definition her sind Philhellenen also "hellenenfreundliche" Wesen – Hellenen zunächst einmal als virtuelle Gebilde verstanden, die einst besagte klassischen antiken griechischen Kulturdenkmäler geschaffen haben. Eine klare und hilfreiche Definition schafft einer der bedeutendsten Vertreter jener klassischen Epoche selbst, der Redner Isokrates: "Unsere Polis hat es geschafft, dass der Name ,Hellenen' nicht mehr nach der Zugehörigkeit zur Nation gilt, sondern nach der Gesinnung, so dass diejenigen ,Hellenen' genannt werden, die eher an unserer Bildung teilnehmen als jene, die dieselbe Abstammung aufweisen."

Die ersten Philhellenen: Rom

Die ersten, die sich an diese Definition hielten und ihre gesamte Bildung unter selbige Maxime stellten, waren die Alten Römer. In allen Lehrbüchern zur altgriechischen Geschichte gilt das Jahr 168 v. Chr. mit dem Sieg der Römer nach dem sogenannten 3. Makedonischen Krieg als das Ende der Freiheit der Griechen. Doch waren die Sieger durchdrungen von einer Art Kulturhoheit der Besiegten. Wir stehen ja vor dem erstaunlichen Phänomen, dass ein Staat, der die Weltherrschaft nicht nur anstrebte, sondern zu großen Teilen auch verwirklicht hatte, den Bereich Kultur jenen Griechen überließ, deren geistige und literarische Schöpfungen für die Römer in jeder Hinsicht Vorbild und Muster darstellten, und zwar in der Originalsprache, dem Griechischen. Der gebildete Römer der klassischen Zeit war zweisprachig und lauschte den Reden der griechischen Philosophen und Rhetoren, die diese im attischen Dialekt der 400 Jahre zurückliegenden Zeit vortrugen. Dieser gebildete Römer der klassischen Zeit war also von griechischen Privatlehrern in einer griechischen Schriftsprache unterrichtet worden. Grandiose Schöpfungen wie die Werke des Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes im 5. "und 4. vorchristlichen Jahrhundert waren zur Römerzeit die Stilmuster für philosophische Dialoge, Gerichtsreden wie für Werke der Zeitgeschichte. Es war die Schwesterstadt – Polis – Athen, deren klassische Kulturschöpfungen der Nachahmung wert und würdig waren. Auch wenn wir jenen römischen Philhellenismus nicht "Philhellenismus" nennen, weil die Römer die Griechen bekanntlich "Graeci" und nicht Hellenen nannten (weshalb wir, den Römern folgend, die Hellenen mit "Griechen" bezeichnen): Mit dieser römischen Idealisierung und Fixierung auf die sogenannte griechische Klassik sind die geistesgeschichtlichen Wurzeln dessen freigelegt, was wir heute als "Philhellenismus" bezeichnen.

Klassiker und Romantiker des deutschen Philhellenismus

Mitteleuropa ist bereits im Rahmen der Renaissance auf die Möglichkeit hingewiesen worden, antike und speziell griechische Ideale der Gesellschaftsordnung zu übernehmen, sich zu eigen zu machen und sich danach zu verhalten. Kulturhistorisch betrachtet versteht man unter Philhellenismus in der Regel jene Bewegung des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die politisch mit den Befreiungskämpfen der Griechen von den Osmanen zu tun hat, und geistesgeschichtlich mit der Romantik. Die Gipfel der Romantik wurden in Deutschland bestiegen, um von oben den Blick über jenes virtuelle Arkadien schweifen zu lassen. Wir sollten uns noch einmal ausdrücklich vergewissern, dass ein Dichter wie Friedrich Hölderlin (1770 -1843 ) zeitlebens all seine Hoffnungen auf eine, im klassischen Griechenland vorgebildete, schönere Zeit setzte, in der "wieder der Genius" gelte und die Vorbereitung des Zustands, den er dichterisch als "Wiederkehr der Götter" umschreibt. Als Johann Wolfgang von Goethe auf Sizilien vom Grafen Waldeck eingeladen wurde, auf dessen Segelschiff mit nach Griechenland zu fahren – wir würden heute sagen: nur einen Katzensprung entfernt – notierte er in seinem Tagebuch, er sei angesichts dieser Perspektive "zu keiner Silbe mehr fähig" gewesen. Und er fährt nicht. Was hätten Hölderlin oder Goethe denn auch dort betrachten sollen? Dieses arkadische Griechenland existierte doch vorwiegend nur in ihren Köpfen, und das war Hölderlin so gut wie Goethe voll bewusst. Ein Abgleichen dieser virtuellen, romantisch erhöhten, idealisierten antiken Landschaft mit der Wirklichkeit am Südzipfel des Balkans stand überhaupt nicht zur Debatte.

Ein Berg von Missverständnissen

"Auch ich in Arkadien!" J. W. v. Goethe vor imaginärer Landschaft.

(© picture-alliance/akg)

Bereits seit den sogenannten "Befreiungskämpfen" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich derartige Missverständnisse gehäuft: Söldner aus dem Württembergischen, der Schweiz oder aus Bayern kehrten in ihre Heimat zurück und berichteten von Gaunern, die sich, entgegen aller altgriechischen Ethik, hinterhältig in den Bergen Arkadiens festgesetzt hätten. Spätestens nach dem Sturz des Wittelsbachers Otto vom griechischen Königsthron kehrte die philhellenische Bewegung, die zur Bildung auch eines deutschen Nationalgefühls ihren nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet hatte, in ihre Studierstuben zurück. Für die Zukunft blieben Melanchthon oder Kapnion – wie sich Philipp Schwarzert oder Johannes Reuchlin jetzt nannten – von jeder Annäherung an das reale Land Griechenland unbefleckt.

Griechische Philhellenen?

Es waren im übrigen nicht nur jene europäischen Philhellenen, die den Sprung über das christliche Mittelalter zu den Alten Hellenen propagierten, sondern auch jene aufgeklärten Griechen der Diaspora, die, selbst den humanistischen Idealen verpflichtet, auf die griechische Antike zurückgriffen. Auch die Griechen in Griechenland selbst lernten schnell. Ioannis Makrygiannis verwendet im ersten Kapitel seiner Memoiren für die griechischen Landsleute noch den Begriff Ρωμαίοι – Romaioi; im zweiten Kapitel, in dem er von jenen Bayern und anderen Philhellenen handelt, die seinerzeit in Griechenland tätig waren, heißt er sie Έλληνες – Hellenen. Andere erhoben Einspruch gegen diese Gleichung. Die spöttischen Provokationen von Seiten eines Jakob Philipp Fallmerayer, in keinem modernen Hellenen flösse ein Tropfen althellenischen Bluts, förderten und beschleunigten nicht nur das nationale Selbstbewusstsein der Griechen. Sie waren auch grundlegend für die griechische Furcht, vom Ausland unverstanden zu sein.

Das Humanistische Gymnasium

Wilhelm von Humboldt (1767-1835) (© Public Domain)

Von diesen Nöten nahm man indes in Europa keine oder doch nur oberflächlich Notiz. Hier stand vielmehr die Einführung des Humanistischen Gymnasiums durch Wilhelm von Humboldt an, das vom Preußen des 19. Jahrhunderts auf ganz Mitteleuropa ausstrahlte. "In keinem Land", schreibt Jens Jessen in einem Artikel in der ZEIT vom 4. März 2010, "in keinem Land, nicht einmal Lord Byrons England, sind die Griechen in einem Maße idealisiert worden wie bei uns. Von Winckelmanns ‚edler Einfalt und stiller Größe‘ bis zu der Alexander-Biografie von Gustav Droysen, der die Preußen als Makedonier der Neuzeit empfahl, vom Gleichschritt der schwer bewaffneten Hopliten Athens bis zum geistigen Glanz einer zersplitterten Nation reichten die Bezüge, in denen sich die Deutschen als die wahren Erben, zumindest Seelenverwandten der alten Griechen erkannten." Doch, so die Pointe Jessens, "Die Griechen, waren niemals, was die Deutschen von ihnen dachten."

Freundschaft mit Griechen

Zu Humboldts Zeiten wurde auch das Reisen in das damals so hoch gelobte und verehrte Land der eigenen idealen Vorfahren möglich, allerdings auf die Gefahr hin, in der Konfrontation mit der Wirklichkeit das idealisierte Bild korrigieren zu müssen. Es geht also in den Diskursen des Philhellenismus immer auch um die Verteidigung einer humanistischen Ideologie, die aus einer gewissermaßen "realitätsfernen" Abschottung vor eventuellen Native-Speakers bestand – eine Absurdität spätestens dann, wenn man die Nachgeborenen darauf hinwies, dass sie das Altgriechische falsch aussprächen und dass die Schafe, wie uns Aristophanes überliefert, schließlich nicht "wi wi", sondern "bä bä" schreien. Als ich 1959 als DAAD Stipendiat an die Aristoteles-Universität nach Thessaloniki kam, glich ich ziemlich genau jenem gutmütigen Philhellenen auf obiger Mitropulos-Karikatur. Ausgerüstet mit leidlichen Kenntnissen der antiken klassischen Kultur und Sprache, war ich doch gänzlich unerfahren im Umgang mit den heutigen Bewohnern dieser edlen Landstriche. Es war die "Philoxenia" – die Gastfreundschaft als eines der höchsten und heiligsten Güter der griechischen Kultur damals und heute, die es den realen Neugriechen erlaubte, selbst auf diesen Philhellenen alter Schule zuzugehen.

Post-Philhellenismus

Heute ist die Lehre des Altgriechischen an deutschen Schulen und Universitäten in einem Maß zusammengeschrumpft, dass sie zu einer vernachlässigbaren Größe geworden ist. Griechenlandbegeisterung im alten Sinn einer Hinwendung zur klassischen griechischen Kultur und Sprache unter Ausschluss des heutigen Griechenlands gehört der Geschichte an. Doch hat sich die Griechenlandbegeisterung auf andere Ebenen verlagert, vor allem ist sie nicht mehr an die Sprache der alten Hellenen gebunden. Lieder von Mikis Theodorakis, Bücher von Konstantinos Kavafis und Filme von Theo Angelopoulos, aber natürlich auch das neue Akropolis-Museum in Athen, haben eine neue Griechenlandbegeisterung geschaffen, die das heutige Griechenland zu Recht mit Stolz erfüllt.

Literatur

Butler, Eliza Maria: The Tyranny of Greece over Germany, Cambridge University Press, 1935.

Butler, Eliza Maria: Deutsche im Banne Griechenlands, Berlin 1948.

Coulmas, Danae: Hellenismus als Kulturleistung. Altgriechisches Erbe als Kristallisationselement des neuzeitlichen Kulturverständnisses. In: Alexander v. Bormann (Hg.), Ungleichzeitigkeiten der europäischen Romantik, Würzburg 2006, 63-93.

Dimakopoulos, Kostas: Deutscher Philhellenismus ade!. In: εξάντας 11, Berlin 2009, 90ff.

Hellenen – Philhellenen: Ein historisches Missverständnis? Archiv für Kulturgeschichte 67, Köln – Wien 1985, 137-159.

Eideneier, Hans: Wo im kulturellen Europa liegt das Moderne Griechenland!? In: Chr.Kamba – Marilisa Mitsou (Hg), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 2010, 35- 50.

Jessen, Jens: Diese Griechen. DIE ZEIT 4.3.2010, 39.

Prof. Dr., Dr. h.c., geb. 1937 in Stuttgart. Studium der Klassischen Philologie, Byzantinistik, Neogräzistik, Geschichte, Philosophie und Allg. Sprachwissenschaft in Tübingen, Hamburg, Thessaloniki und München. Nach Promotion bei H.-G. Beck, München. Ab 1969 Lektor, nach der Habilitation Professor an der Universität zu Köln für Byzantinistik und neugriechische Sprache und Literatur. 1994 – 2002 Professor für Byzantinistik und neugriechischen Philologie an der Universität Hamburg. Zahlreiche Publikationen zur griechischer Kultur und Sprachgeschichte.