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Historische Entwicklung und aktuelle Trends | Russische Föderation | bpb.de

Russische Föderation 2015: Regelungen für Arbeitsmigranten Hintergrund Historische Entwicklung Migrationspolitik Integrationspolitik Irreguläre Migration Flucht und Asyl Staatsangehörigkeit Herausforderungen Literatur

Historische Entwicklung und aktuelle Trends

Maria Nozhenko

/ 12 Minuten zu lesen

Bedeutende aktuelle Migrationsentwicklungen sind tief in der russischen Geschichte verwurzelt.

Die Bevölkerungswanderungen der zaristischen Epoche (1547–1917) und der Sowjetzeit (1917–1991) schufen die Voraussetzungen für die post-sowjetische Migration und umfassen heute sowohl nationale als auch internationale Migrationsprozesse. Die aktuellen Migrationsströme, die Wanderungsbewegungen von Menschen mit einer bestimmten ethnischen Gruppenzugehörigkeit mit einschließen (z.B. Russen, Deutsche, Finnen), sind überwiegend eine Reaktion auf Siedlungspolitik, wechselnde Grenzverläufe und in der jüngeren Vergangenheit auf Rücksiedlungspolitiken.

17. bis 19. Jahrhundert

Internationale Migration nach und aus Russland (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Die territoriale Erweiterung des russischen Zarenreiches unterscheidet drei historische Phasen. Die erste datiert aus dem 17. Jahrhundert und steht im Zusammenhang mit der Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens. Russische Muttersprachler wurden bis 1678 zur Mehrheit in diesen Gebieten. Die zweite Expansionsphase folgte zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Das russische Kernland wurde um Weißrussland, die Baltischen Staaten, Teile Polens und des Osmanischen Reichs (einschließlich Bessarabien, das heutige Moldawien) erweitert. Der Nordkaukasus, Armenien, Georgien und Zentralasien kamen im 19. Jahrhundert im Zuge der letzten Expansionsphase hinzu. Diese räumliche Ausdehnung hatte unter anderem zur Folge, dass russische Muttersprachler in neue Gebiete vordrangen. Außerdem wurden europäische Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von staatlicher Seite dazu ermuntert, in die asiatischen Regionen umzusiedeln.

Vermutlich war Russland das erste Land auf der Welt, das 1763 ein eigenes Amt für Migrationsmanagement ins Leben rief. Hauptanliegen dieser Behörde war es, die Migration von Westeuropa nach Russland zu fördern. Diese Politik führte dazu, dass sich Tausende von Immigranten, in ihrer Mehrheit gut ausgebildet (z.B. Wissenschaftler, Professoren, Offiziere, Ingenieure, Architekten und Geschäftsleute), in Russland niederließen. Den bedeutendsten Anteil der Einwanderer stellten Deutsche. Historischen Quellen zufolge lebten Ende des 19. Jahrhunderts ungefähr 1,8 Millionen Deutsche im russischen Zarenreich.

Die sowjetische Ära

In der sowjetischen Ära gab es zwei gegensätzliche Faktoren, die Migration beeinflussten: zum einen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch das Aufenthaltsgenehmigungssystem (propiska) und zum anderen freiwillige bzw. erzwungene massive Wanderungsbewegungen. Die Idee einer totalen staatlichen Migrationskontrolle durch das "Propiska-System" lässt sich in mehrfacher Hinsicht auf die Erfahrungen der Behörden zurückführen, denen es während der Revolution 1917 und im Bürgerkrieg von 1917 bis 1923 nicht gelungen war, spontane und unkontrollierte Massenwanderungen in den Griff zu bekommen. Triebfeder für die freiwillige, aber streng staatlich gelenkte Migration in der Sowjetzeit war die Industrialisierung.

Mit der Absicht, in verschiedenen Regionen des Landes die industrielle Entwicklung voranzutreiben wurde ein spezielles Rekrutierungssystem von Arbeitskräften in den ersten Fünf-Jahresplänen (piatiletkas) eingeführt. Diese Politik hatte zur Folge, dass in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts um die 28,7 Millionen Menschen quer durch die UdSSR umgesiedelt wurden. Darüber hinaus, wurde 1933 ein besonderer Anreiz für die Bevölkerung geschaffen, um in den Norden, nach Sibirien und in die fernöstlichen russischen Regionen zu ziehen, die sogenannten "Nordlohnzulagen" (severnaya nadbavka). In der Endphase der Sowjetunion war das System der "Verteilung von Hochschulabgängern" (raspredelenie) gängige Praxis. Universitätsabsolventen mussten für einen Zeitraum von drei oder vier Jahren in bestimmten zugewiesenen Teilen des Landes arbeiten. Einige kamen nach Beendigung des obligatorischen Arbeitseinsatzes zurück, aber viele blieben auch vor Ort. Hochschulabgänger konnten auch verpflichtet werden, in andere Sowjetrepubliken zu ziehen: zum Beispiel konnte ein russischer Absolvent in die Ukraine oder nach Estland umverteilt werden. Gegen Ende der Sowjetära lief die Migration zwar überwiegend freiwillig, aber unter strengen Auflagen der Behörden ab. In den 1980er Jahren wechselten ungefähr 15 Millionen Sowjetbürger jedes Jahr ihren Wohnort innerhalb der Sowjetunion.

Zwangsumsiedlung war Bestandteil des sowjetischen Totalitarismus, ein Instrument politischer Repression. Die ersten Opfer von Zwangsumsiedlungen waren wohlhabende Bauern (kulaks), die in die unterentwickelten Regionen des Nordens deportiert wurden. Von 1940 bis 1959 war Zwangsumsiedlung für die sowjetischen Behörden ein probates Mittel zur Bestrafung unliebsamer Personen, die offiziell zu "verdächtigen Elementen" erklärt wurden. Zu den Opfern solcher Strafmaßnahmen gehörten viele Menschen aus den Baltischen Staaten, aus der Westukraine und aus Moldawien. Zu jener Zeit wurden nicht nur Individuen, sondern ganze Bevölkerungsgruppen als "nicht-vertrauenswürdig" abgestempelt, wie z.B. die Deutschen (nach dem Kriegsbeginn mit Deutschland 1941), Krimtartaren, Tschetschenen oder Inguschen. Diese Politik hatte zur Folge, dass viele Menschen sehr weit entfernt von ihrem Geburtsort leben mussten, beispielsweise in Sibirien oder Zentralasien.

In der UdSSR war die internationale Migration stark eingeschränkt. Besonders während des Kalten Krieges war die Bewegungsfreiheit zwischen Ländern des Ostblocks und Westeuropa bzw. Nordamerika nahezu unmöglich. Sowjetische Bürger benötigten für Reisen ins Ausland ein Ausreisevisum. Es gab nur wenige, stark kontrollierte Kanäle für eine Einreise ins Land, z.B. im Zusammenhang mit politisch bedeutsamen Projekten oder zu Studienzwecken. Illegale Migration wurde durch hochentwickelte Sicherheitssysteme und Grenzkontrollen wirksam unterbunden.

Aufgrund der zaristischen und sowjetischen Politik war die Bevölkerungszusammensetzung in den verschiedenen Landesteilen nicht homogen. Ethnische Russen lebten in allen Teilrepubliken und ihre Anzahl schwankte zwischen 2,5 % (in Armenien und 38 % in Kasachstan. Sie waren hauptsächlich in den Hauptstädten und anderen urbanen Zentren ansässig, wo sie Zugang zu Kultur und Bildung in ihrer Muttersprache hatten und ihnen attraktive Arbeitsplätze offen standen. Da Russen die dominierende ethnische Gruppe in der Sowjetunion stellten (auf die man häufig als "ältere Brüder" anspielte) und Russisch die lingua franca war, wurden die Russen dazu ermuntert, sich in der gesamten UdSSR "zuhause" zu fühlen. Der beliebte Schlager aus der Ära der "Stagnation" in den 1970er veranschaulicht diese Einstellung der ethnischen Russen sehr treffend: "Nicht irgendein Haus, nicht irgendeine Straße – mein Zuhause ist die Sowjetunion". Gleichzeitig lebten viele Angehörige nicht-russischer Ethnien aus den anderen, nicht-russischen Teilrepubliken auf russischem Territorium. Der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 zufolge stellten ethnische Ukrainer und Weißrussen nach den Russen die zweit- und drittgrößte Bevölkerungsgruppe im überwiegenden Teil russischer Siedlungsgebiete. Ethnische Moldawier lebten hauptsächlich in den zentralen Regionen. Ethnische Esten, Letten und Litauer waren in den Nordwestregionen und Sibirien ansässig. Ethnische Armenier, Aserbaidschaner und Georgier waren vorwiegend in den großen Städten wie Moskau und Leningrad anzutreffen sowie in den südlichen Gebieten. Ethnische Kasachen lebten im Grenzgebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) mit Kasachstan wie beispielsweise in den autonomen Gebieten Kurgan, Astrachan oder Orenburg.

Die post-sowjetische Ära

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Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebten etwa 25 Millionen ethnische Russen in den nicht-russischen sowjetischen Teilrepubliken. Über drei Millionen Russen siedelten zwischen 1991 und 1998 nach Russland über. Im Allgemeinen waren im Zeitraum von 1998 bis 2007 zwei Drittel der Immigranten Russen, etwa 12% gehörten anderen ethnischen Gruppen mit Ursprung in Russland an (mehrheitlich Tataren). Die Rücksiedlung ethnischer Russen und die Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Übergangszeit in den meisten Unionsrepubliken bestimmten das Erscheinungsbild der Migrationstrends.

2008 ist ein Zustrom von Einwanderern in der Hälfte der Föderationssubjekte der Russischen Föderation zu verzeichnen. Den Angaben des Instituts für Demographie SU-HSE zufolge meldete das Gebiet Moskau die höchste Zuwanderung, an die 75.000 Menschen, 55.000 davon allein in Moskau. Sankt Petersburg und Krasnodar kraj zählten ebenfalls zu den wichtigsten Zuwanderungsregionen. Aufgrund der nicht erfassten Migrationsbewegungen geht man davon aus, dass die tatsächlichen Migrantenzahlen höher liegen.

Zuwanderung aus den früheren Sowjetrepubliken

Russland nimmt Zuwanderer aus über 100 Ländern auf. Allerdings ist ein starker und wachsender Zustrom aus dem "nahen Ausland" zu verzeichnen, während der Anteil der Hauptentsendeländer aus dem "fernen Ausland" (China, Türkei, Vietnam) abnimmt. Mit Ausnahme Weißrusslands sind alle ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken für Russland Herkunftsländer von Einwanderern. Kasachstan steht hierbei mit etwa 1,9 Millionen Menschen für die Zeit von 1989 bis 2007 an der Spitze. Eine ähnlich hohe Anzahl von Immigranten kam im gleichen Zeitraum aus anderen Ländern Zentralasiens (Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan). Die kaukasischen Länder (Armenien, Aserbeidschan und Georgien) bilden die drittwichtigste Herkunftsregion mit ungefähr 1,1 Millionen Menschen, die zwischen 1989 und 2007 nach Russland kamen.

In den 1990er Jahren wurde das Thema der chinesischen Migranten, die im Fernen Osten die Grenze nach Russland passierten, in den russischen Medien hochgespielt. Nationalisten warnten davor, dass Millionen Chinesen im Zuge der russisch-chinesischen Entspannungspolitik und aufgrund verbesserter Verdienstmöglichkeiten für chinesische Händler Sibirien und die fernöstlichen Gebiete Russlands "besetzen" würden. Die Zuwanderung chinesischer Migranten im Zusammenhang mit der Abwanderung russischer Bewohner aus Sibirien und dem Fernen Osten ließ Befürchtungen aufkommen, Russland könne seinen Fernen Osten an seine Nachbarn "verlieren". Einer Meinungsumfrage unter der Bevölkerung des Primorsky kray (einer Grenzregion zu China) 1998 zufolge waren fast 50% der Befragten der Meinung, die chinesische Migration stelle eine Gefahr für die russische Souveränität im Osten dar. Eine andere Meinungsumfrage ließ erkennen, dass russische Bürger die Zahl der ankommenden chinesischen Migranten um 885 Mal höher einschätzten als sie tatsächlich war.

In Wirklichkeit war die Zahl der chinesischen Bürger in den chinesisch-russischen Grenzregionen eher gering. So machten die Chinesen in der Grenzregion Primorsky kray zwischen 1996 und 1998 höchstens 1,1% der Gesamtbevölkerung aus, und ihre Anzahl in Khabarovsk und Wladivostok (den Hauptstädten der Grenzregionen zu China) betrug nicht mehr als 10.000 Personen im Jahr 1999. Im Übrigen gab es in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mehr Grenzübertritte von Russen als von Chinesen. Heute hat die Furcht vor einer chinesischen Expansion nachgelassen. Ein wenig von dem Schreckgespenst lebt jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung und in der politischen Rhetorik fort.

Befristete Arbeitsmigration

Befristete Arbeitsmigration gehört seit etwa 2000 zum russischen Alltag. Offiziellen Statistiken zufolge sind 40% der im Baubereich Beschäftigten Immigranten, 19% der im Handelssektor Beschäftigten und jeweils 7% der in Landwirtschaft und Produktion Tätigen. Außerdem sind Migranten aus bestimmten Herkunftsländern überwiegend in bestimmten Branchen zu finden. So kommt beispielsweise die Mehrheit der Migranten im Baugewerbe aus der Ukraine und der Türkei. Unter den Migranten aus Moldawien überwiegen Fahrer und Bauarbeiter. Die Hälfte der Arbeitsmigranten in Russland verfügt über keine Fachausbildung und kann nur geringqualifizierte Arbeit ausführen.

Ein besonderes Merkmal der russischen Wirtschaft ist der hohe Anteil an informeller und Schattenwirtschaft, der zu einer Nachfrage nach billiger Arbeitskraft und rechtlich ungeschützten Arbeitsverhältnissen führt. Nach offiziellen Angaben gingen 2007 53% der Arbeitsmigranten mit Aufenthaltsrecht einer Beschäftigung in der Schattenwirtschaft nach. Auf illegale Praktiken seitens der Arbeitgeber wie beispielsweise Zurückhalten von Pässen zur besseren Kontrolle der Arbeitnehmer, unvollständige Lohnauszahlung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Fehlen von Sozialleistungen und Zwangsarbeit trifft man gleichermaßen unter Migranten mit und ohne legalem Aufenthaltsstatus. Nach offiziellen russischen Schätzungen gab es bei 10 bis 30% der Migranten Hinweise auf Zwangsarbeit. Diese Studien weisen darauf hin, dass lediglich 9% der Arbeitsmigranten in Russland niemals irgendeiner Form von Zwangsausübung durch Schuldknechtschaft, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und ähnliches ausgesetzt waren. Nach Einschätzung der Forscher haben fast alle Opfer von Zwangsarbeit kein Vertrauen in die Fähigkeit der Behörden, ihnen zu helfen. Daher zeigen sie wenig Interesse daran, ihre Ausbeuter vor Gericht zu bringen.

Abwanderung

Die Emigration von Russland in die ex-sowjetischen Nachfolgestaaten ging von 690.000 Menschen im Jahr 1989 auf 40.000 im Jahr 2004 zurück. Fachleute haben zwei Hauptgründe für diesen Rückgang ausgemacht: Zum einen ist das für die Auswanderung in Frage kommende ethnische Potential erschöpft, zum anderen kam es zu wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in den sowjetischen Nachfolgestaaten.

Hauptzielländer russischer Auswanderung (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Eine große Anzahl russischer hochqualifizierter Emigranten wanderte nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion in die USA, nach Norwegen und nach Deutschland aus. 1993 hatte jeder fünfte Emigrant aus Russland eine Fachhochschul- oder Universitätsausbildung. Diese Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland (brain drain) hält an. Schätzungen zufolge arbeiteten im Jahr 2005 an die 30.000 russische Wissenschaftler im Ausland. Gegenwärtig gelten Großbritannien, Deutschland, Griechenland, die Niederlande und Zypern als bevorzugte Zielländer für hochqualifizierte Russen, die einen Arbeitsplatz im Ausland anstreben. Die Emigration nach Deutschland, Israel und Griechenland fand überwiegend im Rahmen ethnischer Rücksiedlungsprogramme statt. Seinen Höhepunkt erreichte der Zuzug russischer Emigranten (Spätaussiedler) nach Deutschland 1995 (etwa 80.000). Der relative Rückgang des Spätaussiedlerpotentials sowie zunehmende Restriktionen in der deutschen Politik haben diesen Zustrom in den letzten Jahren massiv verringert. Die ethnisch motivierte Emigration nach Israel unterlag entsprechend den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in beiden Ländern Schwankungen. Unmittelbar nach der Finanzkrise 1998 in Russland verdoppelte sich die Anzahl der Emigranten nach Israel; als die Spannungen zwischen Palästina und Israel in der jüngsten Vergangenheit zunahmen, ging ihre Zahl um 75% zurück. Die Zahl der Auswanderer nach Israel lag 2007 bei etwa 1.200. Die Auswanderung in die USA sank schrittweise von 4.000 Emigranten im Jahr 2004 auf 2.000 im Jahr 2007 (s. Abbildung).

Ökonomisch bedingte zirkuläre Migration (Grenzhändler oder chelnoks)

Diese Migrationsform war in den 1990er Jahren typisch für Russland. Der Zusammenbruch der Planwirtschaft führte für viele russische Bürger in die Arbeitslosigkeit und bedeutete den Verlust des beruflichen Status. So mussten sich beispielsweise Leute, die zuvor in der Rüstungsindustrie oder in sowjetischen Forschungseinrichtungen gearbeitet hatten, eine neue Arbeit suchen, aber der Übergang in die Marktwirtschaft bot ihnen nicht viele Erwerbsmöglichkeiten. Folglich war ein großer Teil der russischen Bevölkerung in einem sehr speziellen Geschäftsbereich tätig – bei Hamsterfahrten ins Ausland (vornehmlich nach Polen, China und in die Türkei), um kleine Mengen von Konsumgütern zu kaufen und daheim wieder zu verkaufen. Diese Unternehmer, die zwischen den Grenzen hin und her pendelten, trugen wesentlich zur Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen in Russland bei. Dieser Migrationstyp war für die erste Hälfte der 1990er Jahre typisch und verlor ab 2000 an Bedeutung.

Binnenmigration

Während der Sowjetära zog eine beträchtliche Anzahl von Menschen vom zentraleuropäischen Teil Russlands in die nördlichen Regionen, nach Sibirien und in den Fernen Osten. Aber die Hauptrichtung der Migrationsbewegung änderte sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als immer mehr Menschen in westliche und südliche Regionen übersiedelten. In der postsowjetischen Zeit verstärkte sich die Sogwirkung von den östlichen und nordöstlichen hin zu den westlichen Regionen.

1991 begannen die Wanderungsbewegungen aus dem Fernen Osten und Sibirien in den zentraleuropäischen Teil Russlands in großem Umfang. Insgesamt verloren die fernöstlichen Gebiete zwischen 1990 und 2005 14% ihrer Bevölkerung. Hauptursache für diesen Trend war der wirtschaftliche Umbruch. Die sowjetische Planwirtschaft und die staatlich gelenkte Migrationspolitik hatten bewirkt, dass in diesen Gebieten große Bevölkerungsgruppen angesiedelt und unterstützt worden waren. Diese Bewohner genossen etliche Privilegien, wie beispielsweise die "Nordlohnzulage" – zusätzliches Geld für harte Arbeit unter klimatisch rauen Verhältnissen in entlegenen Gebieten. Der Staat kam auch für spezielle migrations-bedingte Kosten auf (Reisekosten, Umzüge, Unterbringung etc.). Viele Menschen nutzten diese Vergünstigungen für befristete Arbeitsaufenthalte. Die Bevölkerung im Norden, in Sibirien und im Fernen Osten wechselte häufig, da Migranten sich generell eher temporär als dauerhaft niederließen. Sobald die finanziellen Anreize ausblieben, versiegte auch der Nachschub.

Im Zuge des wirtschaftlichen Umbruchs entstanden mehrere "Geisterstädte" in entlegenen Regionen. Diese entwickelten sich für gewöhnlich aus früheren "Monostädten" – also Städten mit einer einzigen Fabrik, die die Bevölkerungsmehrheit beschäftigte. Ging der Hauptarbeitgeber pleite, konnte die Stadt ihre Bewohner nicht mehr ernähren.

Wie amtliche Statistiken belegen, spielt die Binnenmigration derzeit kaum eine Rolle in Russland. Im Jahr 2007 wechselte nur 1,4% der Bevölkerung den Wohnort, und nicht einmal die Hälfte unter ihnen zog es in eine andere Region. "Hauptempfängerregion" der internen Migration ist Moskau. Laut Angaben der Moskauer Stadtregierung waren 2007 fast 1,3 Millionen russische Staatsbürger aus anderen Teilen des Landes vorübergehend in der russischen Hauptstadt registriert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heleniak T. (2004).

  2. Ivakhnyuk (2009), S. 5.

  3. Ibid, S. 4.

  4. Das System der Aufenthaltsgenehmigungen (propiska) wurde 1932 eingeführt und "durch einen Stempel im "Inlandspass" vermerkt, der von einer örtlichen Dienststelle des Innenministeriums ausgestellt wurde. Jede Person war unter einer bestimmten Adresse registriert und hatte mit der Registrierung Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen": Ivakhnyuk (2009), S. 2.

  5. Ibid.

  6. Ab 1928 wurde die Wirtschaft der UdSSR durch eine Reihe von Fünf-Jahresplänen (piatiletkas) strukturiert.

  7. Ivakhnyuk (2009). S. 7.

  8. Verteilung von Hochschulabgängern (raspredelene) – "ein administratives Instrument der Migrationspolitik in der UdSSR ... hatte zum Ziel, Wirtschaftsprojekte und abgelegene Gegenden mit der erforderlichen Anzahl von Fachleuten (Ingenieure, Techniker, Architekten, Lehrer, Ärzte etc.) auszustatten": Ivakhnyuk I. (2009), S. 3.

  9. Cutris G.E. (1996).

  10. Ivakhnyuk I. (2009). S. 8.

  11. Ibid, S. 11.

  12. Die Anwesenheit von Esten, Letten und Litauern in Sibirien ist auf die Zwangsdeportation der baltischen Bevölkerung nach der sowjetischen Annektierung 1940 zurückzuführen.

  13. Vgl.: Externer Link: http://demoscope.ru/weekly/ssp/rus_nac_79.php?reg.

  14. Ehemalige sowjetische Teilrepubliken – alle 15 Teilrepubliken, der früheren UdSSR (Armenien, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Republik Belarus (Weißrussland), Russische Föderation, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan).

  15. Ibid.

  16. Vgl.: The National Human Development Report (2008), S. 92.

  17. Vgl. Externer Link: http://demoscope.ru/weekly/2009/0367/barom03.php.

  18. In Russland gibt es den Unterschied zwischen "nahem Ausland" und "fernem Ausland". Der erste Begriff bezieht sich auf die Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion, letzterer auf alle übrigen Staaten.

  19. Vgl.: The National Human Development Report (2008), S. 94.

  20. Russland wies nur 1990 und 1994 bis 1996 einen positiven Migrationssaldo mit Weißrussland auf. Vgl.: Rybakovsky L., Rayzantsev S. (2005), S. 6.

  21. Gemäß Daten in Rybakovsky L., Rayzantsev S. (2005) und FMS (Federal Migration Service).

  22. Beispielsweise wurden zwischen 1993 und 1995 150 Artikel über die Bedrohung chinesischer Expansion in russischen Massenmedien veröffentlicht. Vgl.: Alekseev M. (2000), S. 97.

  23. Alekseev M. (2006), S. 47-48.

  24. Ibid. S. 99.

  25. Vitkovskaya G., Panarin S. (Hrsg.) 2000, S. 208.

  26. Vitkovskaya G., Panarin S. (Hrsg.) 2000, S. 207.

  27. "Arbeitsmigranten" ist der offizielle Terminus für Wirtschaftsmigranten in der Russischen Föderation. Der deutsche Begriff 'Gastarbeiter´ ist jedoch nicht nur in der Alltagssprache und den Massenmedien weit verbreitet, sondern wird auch von amtlicher Seite in Russland benutzt.

  28. Vgl.: The National Human Development Report (2008), S. 96.

  29. Rybakovsky L., Rayzantsev S. (2005), S.14.

  30. Vgl.: The National Human Development Report (2008), S. 95.

  31. Ibid. S. 99-100.

  32. Doklad (2006), S. 50.

  33. Tyuryukanova E (2005), p. 74.

  34. Tyuryukanova E (2005), p. 86.

  35. Rybakovsky L., Rayzantsev S. (2005), S.6.

  36. Ibid. S. 12.

  37. Ibid. S. 16.

  38. Rybakovsky L., Rayzantsev S. (2005), S.10.

  39. Quelle FMS (Federal Migration Service).

  40. Quelle FMS.

  41. Ivakhnyuk I. (2009), S. 17.

  42. Ivakhnyuk I. (2009), S. 23-24.

  43. Rayzantsev S. (2005), S. 39.

  44. Ivakhnyuk I. (2009), S. 24.

  45. Romanov I.A. (2006), S. 53.

  46. Ibid., S. 23.

  47. Vgl. The National Human Development Report (2008), S. 80.

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