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Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975 | Internationale Beziehungen I | bpb.de

Internationale Beziehungen I Zu diesem Heft Der Beginn der Bipolarität Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges Zwang zur Koexistenz in den fünfziger Jahren Vom Kalten Krieg zur Ära der Entspannung Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975 Krise und Neubeginn der Ost-West-Kooperation Die demokratische Revolution in Osteuropa Herausforderungen im 21. Jahrhundert Literaturhinweise Impressum

Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975

Manfred Görtemaker

/ 14 Minuten zu lesen

Bundeskanzler Willy Brandt kniet vor dem Denkmal der Helden des Aufstandes im Warschauer Ghetto nieder. (© AP)

Einleitung

In der nun folgenden Phase der Ost-West-Entspannung rückten zunächst die Verhandlungen zur Begrenzung der strategischen Rüstungen (Strategie Arms Limitation Talks = SALT) in den Mittelpunkt des Interesses. Die Aufnahme von SALT-Gesprächen war bereits bei der Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages am 1. Juli 1968 zwischen Präsident Johnson und Ministerpräsident Kossygin vereinbart worden. Wegen des Einmarsches von Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 waren diese Verhandlungen damals jedoch ebensowenig zustande gekommen wie eine geplante Reise von Präsident Lyndon B. Johnson in die Sowjetunion in der zweiten Jahreshälfte 1968.

Die SALT-Gespräche begannen somit erst unter Nixon und Kissinger, die mit der sowjetischen Regierung in den folgenden Jahren zwei Abkommen aushandelten, die bei einem Besuch Nixons in Moskau am 26. Mai 1972 unterzeichnet wurden. Im einzelnen handelte es sich dabei um

(1) einen Vertrag zur Begrenzung ballistischer Raketenabwehrsysteme (Anti-Ballistic Missiles = ABM),

(2) ein auf fünf Jahre befristetes Interimsabkommen zur Begrenzung strategischer Offensivwaffen, in dem beiderseitige Höchstgrenzen für lnterkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles = ICBM) und Unterseeboot-gestützte ballistische Raketen (Submarine-launched Ballistic Missiles = SLBM) festgelegt wurden.

QuellentextBeziehungen der Supermächte 1972

1. Sie werden von dem gemeinsamen Schluß ausgehen, daß es im Nuklearzeitalter keine andere Alternative gibt, als die gegenseitigen Beziehungen auf der Grundlage einer friedlichen Koexistenz zu gestalten. Unterschiede in der Ideologie und in den Gesellschaftssystemen der USA und der UdSSR sind keine Hindernisse für die bilaterale Entwicklung normaler Beziehungen, die auf den Grundsätzen der Souveränität, der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und des beiderseitigen Vorteils beruhen.

2. Die USA und die UdSSR legen größten Wert darauf, das Entstehen von Situationen zu verhindern, die zu einer gefährlichen Verschlechterung ihrer Beziehungen führen könnten. Sie werden daher ihr Äußerstes tun, um militärische Konfrontationen zu vermeiden und den Ausbruch eines Nuklearkrieges zu verhindern. [...]

4. Die USA und die UdSSR beabsichtigen, die Rechtsgrundlage für ihre gegenseitigen Beziehungen auszuweiten und die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, damit bilaterale Abkommen, die sie geschlossen haben, und multilaterale Verträge und Abkommen, denen sie gemeinsam als Vertragspartner angehören, gewissenhaft durchgeführt werden. [...]

6. Die Vertragspartner werden ihre Bemühungen fortsetzen, die Rüstungen sowohl auf bilateraler als auch auf multilateraler Basis zu begrenzen. Sie werden weiterhin besondere Anstrengungen unternehmen, um die strategischen Rüstungen zu begrenzen. Wo immer möglich, werden sie konkrete Abkommen schließen, die die Erreichung dieser Ziele dienen.

Die USA und die UdSSR betrachten als das letztliche Ziel ihrer Bemühungen die Erreichung einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung und die Errichtung eines wirksamen Systems der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Zielsetzungen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. [...]

11. Die USA und die UdSSR erheben weder für sich selbst den Anspruch auf irgendwelche besonderen Rechte oder Vorteile in der Weltpolitik, noch würden sie einen solchen Anspruch von einer anderen Seite anerkennen. Sie erkennen die souveräne Gleichberechtigung aller Staaten an. Die Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen richtet sich nicht gegen irgendwelche dritten Länder oder deren Interessen. [...]

Quelle: Buchbender, Bühl, Quaden (Hrsg.), Sicherheit und Frieden, Herford 1983, S. 16-17.

Rüstungsbegrenzung

Ziel dieser Vereinbarungen war in erster Linie die Stabilisierung des Rüstungswettlaufs. Das weitgehende Verbot ballistischer Raketenabwehrsysteme sollte dazu dienen, eine - theoretisch denkbare - Verteidigung gegen einen Nuklearangriff praktisch unmöglich zu machen. Denn nur wenn eine Abwehr gegen einen vernichtenden Atomschlag unmöglich war - so die bizarre Logik der Rüstungsstrategen -, blieb die beiderseitige Furcht vor einem vernichtenden Gegenschlag nach einem Atomangriff ("Zweitschlagsfähigkeit") und damit das "Gleichgewicht des Schreckens" erhalten. Nur dann könne man sich hinlänglich "sicher" fühlen. Die Begrenzung der Offensivraketen sollte dagegen dem Rüstungswettlauf zahlenmäßig einen Rahmen setzen. Hier ging es vor allem um psychologische Faktoren. In Wirklichkeit bewegte sich die Diskussion in einem irrealen Rahmen, weil das vorhandene Potential bereits ausreichte, die gesamte Menschheit vielfach zu vernichten. Die Festsetzung von Obergrenzen für die Rüstungsentwicklung begrenzte also lediglich "Übertötungskapazitäten", ohne einen Zugewinn an realer Sicherheit zu erzielen. Dennoch erkannten die Rüstungskontrollpolitiker darin einen Sinn, weil das menschliche Bewußtsein von schematischen Gleichgewichtsvorstellungen bzw. Unter- und Überlegenheitsgefühlen ausging, die zumindest unbewußt das Verhalten in Ost und West beeinflussen konnten.

Statt bei der Alternative "Alles oder Nichts" - völlige Abrüstung oder unkontrollierte Aufrüstung - zu verharren, wurde auf diese Weise damit begonnen, den Bestand der bisherigen Rüstungen systematisch zu erfassen und ihre weitere Entwicklung zu steuern und zu begrenzen. Dies war noch kein abrüstungspolitischer Durchbruch, aber immerhin der Anfang einer Entwicklung, die zu Hoffnungen berechtigte.

Senkung des Kriegsrisikos

Allerdings wurde das nukleare Wettrüsten durch die erste Runde der SALT-Verhandlungen (SALT-I) keineswegs beendet. Zwar gelang es mit dem ABM-Vertrag, die Bemühungen um den Aufbau von Raketenabwehrsystemen bis zur "Strategischen Verteidigungsinitiative" (Strategic Defense Initiative = SDI) von Präsident Ronald Reagan vom 23. März 1983 zu stoppen. Aber das Abkommen über die Begrenzung der strategischen Offensivrüstung bot nicht nur die Möglichkeit zu weiterer zahlenmäßiger Aufrüstung, sondern enthielt darüber hinaus auch keinerlei Beschränkungen der Verbesserung und Weiterentwicklung von Waffensystemen und war überdies auf fünf Jahre befristet. Es war deshalb nur logisch, daß nach dem Abschluß von SALT-I bald eine zweite Runde der SALT-Verhandlungen (SALT-II) eingeleitet wurde, um den Prozeß der Rüstungskontrolle fortzusetzen und weiter voranzutreiben. Die Gespräche dieser zweiten Runde begannen am 25. September 1973 in Genf.

Wie dringlich dies war, zeigt schon die Tatsache, daß die USA und die Sowjetunion zum Zeitpunkt der SALT-I-Vereinbarungen zusammen über ein nukleares Potential verfügten, das ausgereicht hätte, um jede Person auf der Erde der Explosivkraft von 15 Tonnen TNT auszusetzen. Die Summe der Militärausgaben in der Welt betrug zu dieser Zeit bereits über 200 Milliarden Dollar jährlich - mehr als das Bruttosozialprodukt aller Länder Afrikas und Südasiens zusammengenommen. Jedoch geriet die Rüstungskontrollpolitik nach dem Erfolg von SALT-I aufgrund der Probleme der amerikanischen Regierung angesichts der Watergate-Affäre und der traumatischen Erfahrung der sich quälend hinziehenden Beendigung des Vietnam-Krieges bald in eine Krise, so daß der SALT-II-Vertrag nach großen Schwierigkeiten erst fünfeinhalb Jahre später, am 18. Juni 1979, von Präsident Jimmy Carter und Generalsekretär Leonid Breschnew in Wien unterzeichnet werden konnte.

Neben den SALT-Verhandlungen, die in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen den breitesten Raum einnahmen, fanden zwischen den USA und der Sowjetunion auch weiterhin Gespräche statt, um das Risiko eines Kriegsausbruchs durch Unfall, technisches Versagen oder Mißverständnis zu verringern. Dabei wurden am Beginn der siebziger Jahre insgesamt vier Abkommen geschlossen:

(1) zur Verbesserung des "Heißen Drahtes" (30. September 1971),

(2) zur Verminderung der Gefahr des Ausbruchs eines Nuklearkrieges infolge eines nuklearen Unfalls (30. September 1971),

(3) zur Vermeidung von Zwischenfällen auf und über dem offenen Meer (25. Mai 1972, ergänzt durch ein Protokoll vom 26. Mai 1973), sowie

(4) zur Verhinderung von Nuklearkriegen (22. Juni 1973).

Bilaterale Rüstungsbegrenzungs- und Rüstungskontrollabkommen USA/UdSSR 1963-1990

Mit dem zuletzt genannten Abkommen gingen die USA und die Sowjetunion über technisch-praktische Maßnahmen zur Verminderung des Kriegsrisikos hinaus und erweiterten ihre Sicherheitsmechanismen um das politische Instrument einer Konsultationsverpflichtung in Fällen nuklearer Konfliktgefahr. Sie erklärten, daß es das Ziel ihrer Politik sei, die Gefahr eines Atomkrieges und der Anwendung von Kernwaffen zu beseitigen und sofort in "dringende Konsultationen" einzutreten, wenn das "Risiko eines nuklearen Konflikts" drohe - sei es als Folge einer Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen oder aufgrund einer Konfrontation zwischen anderen Ländern.

Nahost-Krieg

Die USA und die Sowjetunion hatten damit globale Verantwortung für ein Krisenmanagement zur Abwendung von Nuklearkriegen übernommen und auch auf die Gefahr hingewiesen, daß regionale Konflikte zu einem Atomkrieg eskalieren konnten. Tatsächlich sollte sich diese Annahme schon bald als richtig erweisen, als sich ein Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn im Oktober 1973 zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion auszuweiten drohte. Der amerikanische Außenminister Henry Kissinger und sein sowjetischer Amtskollege Andrej Gromyko nutzten das eben erst geschlossene Abkommen, wirkten nach gegenseitiger Konsultation mäßigend auf die Konfliktparteien ein und stellten die Waffenruhe wieder her.

Die Nahost-Krise hatte somit - wie die Kuba-Krise elf Jahre zuvor - gezeigt, daß die Entstehung gefährlicher Situationen auch unter den Bedingungen des Atomzeitalters keineswegs ausgeschlossen war. Zugleich war jedoch deutlich geworden, daß die USA und die Sowjetunion sich ihrer weltpolitischen Verantwortung bewußt waren und nunmehr dank der Entspannungspolitik auch über die notwendigen Mechanismen verfügten, um einen direkten Zusammenstoß rechtzeitig durch gezieltes Krisenmanagement zu vermeiden.

Rolle Chinas

Bei diesen Bemühungen der USA und der Sowjetunion, ihr Verhältnis auf eine neue Grundlage zu stellen, blieb der Faktor China lange Zeit eine ungewisse Größe im Hintergrund. Die Volksrepublik war in den sechziger Jahren in den Strudel einer von Roten Garden angeführten "Kulturrevolution" geraten, die kaum Spielraum für außenpolitische Aktivitäten ließ. So waren im Verlaufe des Jahres 1967 alle Diplomaten im Botschafterrang aus dem Ausland nach Peking zurückbeordert worden. Einzige Ausnahme war Botschafter Huang Hua, der seine Funktionen in Kairo weiter wahrnehmen konnte. Rotgardisten übernahmen die Kontrolle des chinesischen Außenministeriums und belagerten auch eine Reihe von ausländischen Botschaften, vor denen sie in einigen Fällen sogar deren diplomatisches Personal mißhandelten.

Erst nach der Überwindung der Kulturrevolution kehrte China im Herbst 1968 und Frühjahr 1969 auf die Bühne der Weltpolitik zurück. Bewaffnete Konflikte zwischen sowjetischen und chinesischen Grenztruppen an Amur und Ussuri im März 1969 sowie sowjetische Drohungen, unter Umständen einen militärischen Schlag gegen Chinas nukleare Einrichtungen zu führen, lösten in Peking Besorgnis aus. Die chinesische Führung kam danach offenbar zu der Erkenntnis, daß die Sowjetunion zu einer größeren Bedrohung für China geworden war als die USA. Es schien an der Zeit, die kostspielige und riskante Doppelkonfrontation mit den beiden Supermächten zu beenden.

Ab Mai 1969 wurden schrittweise die vakanten Botschafterposten im Ausland wieder besetzt. Die Ankündigung des neuen amerikanischen Präsidenten Nixon, die militärische Rolle der USA in Asien abzubauen, und die gleichzeitige Ankündigung Breschnews vom Juni 1969, den sowjetischen Einfluß in Asien ausweiten zu wollen, ließ zudem bei der chinesischen Führung den Entschluß reifen, künftig die Beziehungen zu den USA maßgeblich zu verbessern, um ein Gegengewicht gegen die Sowjetunion zu schaffen. Vorsichtige Kontakte über Drittstaaten führten dabei im Juli 1971 zu einem spektakulären Geheimbesuch von Sicherheitsberater Henry Kissinger in Peking und zur Vorbereitung des offiziellen Besuchs Präsident Nixons in China im Februar 1972. Im Jahr darauf wurden Verbindungsbüros in Washington und Peking eröffnet, und der Handel begann sich zu beleben.

Bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und China mit Jahresbeginn 1979 verlief die Annäherung zwar langsam, aber stetig. Auch die Wirtschaftsbeziehungen machten allmählich Fortschritte. Vor allem jedoch wirkte sich die Wiedereinbeziehung Chinas in die Weltpolitik positiv auf das Ost-West-Verhältnis aus, weil sie die Annäherung zwischen den USA und der Sowjetunion beschleunigte und auch in Asien - etwa im Indochina-Konflikt - für eine Verbesserung der politischen Gesamtsituation sorgte.

Neue Ostpolitik Brandts

Deutschland war von vornherein eng in die Entspannungspolitik zwischen Ost und West einbezogen. Die Neue Ostpolitik Willy Brandts nach 1969 fügte sich dabei nicht nur nahtlos in den internationalen Prozeß ein, sondern bildete auch selbst einen dynamischen Faktor, der die Entspannung vorantrieb. Sie umfaßte folgende Schwerpunkte:

(1) Im Verhältnis zur Sowjetunion ging es um die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die Bundesrepublik und um die Sicherung des Status von Berlin und seiner Zufahrtswege.

(2) Im Verhältnis zu Polen standen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze, die Abgeltung polnischer Rentenansprüche, Kredite für die polnische Wirtschaft sowie die Ausreiseerlaubnis für deutschstämmige Polen zur Debatte.

(3) Im Verhältnis zur DDR waren die Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR sowie praktische Fragen, die sich aus der Nachbarschaft der beiden Länder und den noch bestehenden familiären und persönlichen Bindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands ergaben, zu regeln.

(4) Im Verhältnis zur Tschechoslowakei galt es, die Frage der Gültigkeit des Münchener Abkommens vom 29. September 1938 sowie humanitäre Angelegenheiten und Fragen der Strafverfolgung und Rechtshilfe zu klären.

Wegen des besonderen Gewichts der Sowjetunion wurden die Gespräche zuerst mit Moskau geführt. Sie konzentrierten sich auf zwei Punkte, die auch im Verhältnis der Bundesrepublik zu Polen und der DDR von zentraler Bedeutung waren: die Frage eines Gewaltverzichts und die Frage der Anerkennung der bestehenden Grenzen. Bonn war zu einem wechselseitigen Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt bereit. Moskau wollte darüber hinaus eine Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die Bundesrepublik - einschließlich derjenigen der DDR zur Bundesrepublik und zwischen Polen und der DDR - erreichen.

Moskauer Vertrag

Am Ende der Verhandlungen stand mit dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 eine Regelung, bei der die Grenzen nur insoweit fixiert wurden, als sie eine Folge des Gewaltverzichts bildeten. Grenzänderungen waren demnach nur dann vertragswidrig, wenn sie einseitig gefordert oder durchgesetzt wurden und somit Elemente der Gewalt enthielten. Diese Regelung erhielt ihr besonderes Gewicht dadurch, daß sie nicht nur für die Verträge der Bundesrepublik mit Polen und der DDR, sondern auch für die Beschlüsse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zum Modell wurde. Die Bereinigung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses und damit die Beendigung des deutschen "Sonderkonfliktes" mit der Sowjetunion war somit für die gesamte europäische Politik und für die Entspannung zwischen Ost und West von grundlegender Bedeutung.

Der Moskauer Vertrag 1970 hatte, wie nicht anders zu erwarten, präjudizierenden Charakter für die Verhandlungen der Bundesrepublik mit Polen und der DDR. In beiden Fällen spielten die Frage des Gewaltverzichts und die Anerkennung der bestehenden Grenzen eine maßgebliche Rolle. Der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 und der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik vom 21. Dezember 1972 enthielten hinsichtlich des Verzichts auf Androhung oder Anwendung von Gewalt und hinsichtlich der Unverletzlichkeit der Grenzen und territorialen Integrität aller Staaten in Europa die gleichen Formulierungen wie der Moskauer Vertrag.

Im Falle des Warschauer Vertrages wurde darüber hinaus in Einzelbestimmungen ausführlich die Frage der Oder-Neiße-Grenze geregelt, im Falle des Grundlagenvertrages mit der DDR die Frage der "Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten". Damit war eine Basis geschaffen, auf der die Entwicklung "gutnachbarlicher Beziehungen", wie es im Grundlagenvertrag hieß, und die Entspannungspolitik ihren Fortgang nehmen konnten, zumal inzwischen mit dem Viermächte-Abkommen auch eine Regelung für das Berlin-Problem gefunden worden war.

Viermächte-Abkommen über Berlin

Schon im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Moskau und Warschau hatten Bundesaußenminister Scheel und Bundeskanzler Brandt wiederholt darauf hingewiesen, daß eine Ratifizierung der Ostverträge nur möglich sei, wenn zuvor eine befriedigende Berlin-Regelung zustande komme. Auch die Frage der Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) war mit dem Berlin-Problem verbunden worden.

Parallel zu den bilateralen Gesprächen der Bundesregierung mit den Regierungen in Moskau, Warschau und Ost-Berlin wurden deshalb Verhandlungen zwischen den Vier Mächten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich über das Berlin-Problem geführt. Sie endeten am 3. September 1971 mit der Unterzeichnung eines Viermächte-Abkommens, das aus westlicher Sicht das eigentliche Entgegenkommen der Sowjetunion für die Ostverträge sowie die westliche Zustimmung zur Abhaltung der KSZE darstellte. Zugleich war es der Preis für die westliche Anerkennung der DDR. Das Abkommen sicherte die politische Lebensfähigkeit West-Berlins und setzte den rechtlichen Rahmen für eine Fülle von deutsch-deutschen Folgevereinbarungen zur Erleichterung menschlicher Kontakte und zu technischen Fragen, unter denen vor allem das Transitabkommen vom 17. Dezember 1971 hervorzuheben ist, das den Verkehr auf den Zugangswegen nach Berlin regelte.

QuellentextViermächte-Abkommen über Berlin

I Allgemeine Bestimmungen

1. Die Vier Regierungen werden bestrebt sein, die Beseitigung von Spannungen und die Verhütung von Komplikationen in dem betreffenden Gebiet zu fördern.

2. Unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen nach der Charta der Vereinten Nationen stimmen die Vier Regierungen darin überein, daß in diesem Gebiet keine Anwendung oder Androhung von Gewalt erfolgt und daß Streitigkeiten ausschließlich mit friedlichen Mitteln beizulegen sind.

3. Die Vier Regierungen werden ihre individuellen und gemeinsamen Rechte und Verantwortlichkeiten, die unverändert bleiben, gegenseitig achten. [...]

II Bestimmungen, die die Westsektoren Berlins betreffen

A. Die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklärt, daß der Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland auf Straßen, Schienen- und Wasserwegen durch das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik ohne Behinderungen sein wird, daß dieser Verkehr erleichtert werden wird, damit er in der einfachsten und schnellsten Weise vor sich geht und daß er Begünstigungen erfahren wird. [...]

B. Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika erklären, daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland aufrechterhalten und entwickelt werden, wobei sie berücksichtigen, daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden. [...]

C. Die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepublik erklärt, daß die Kommunikationen zwischen den Westsektoren Berlins und Gebieten, die an diese Sektoren grenzen, sowie denjenigen Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik, die nicht an diese Sektoren grenzen, verbessert werden. Personen mit ständigem Wohnsitz in den Westsektoren Berlins werden aus humanitären, familiären, religiösen, kulturellen oder kommerziellen Gründen oder als Touristen in diese Gebiete reisen und sie besuchen können, und zwar unter Bedingungen, die denen vergleichbar sind, die für andere in diese Gebiete einreisende Personen gelten. [...]

Quelle: Peter Bender, Neue Ostpolitik, Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 244 ff.

Zu nennen sind ferner die Vereinbarungen zwischen den beiden deutschen Postverwaltungen vom 30. September 1971 sowie die Vereinbarungen über Reise- und Besucherverkehr und über Gebietsaustausch vom 20. Dezember 1971, die das Schicksal der Menschen in der geteilten Stadt wesentlich erleichterten. Die Berlin-Regelung war typisch für die Neue Ostpolitik überhaupt: Zugunsten einer pragmatischen Politik des Ausgleichs und der Verständigung verzichtete man auf die Vertretung von Rechtsstandpunkten, die im Augenblick ohnehin nicht zu realisieren waren, ohne sie allerdings preiszugeben. Der Entspannung in Europa wurde auf diese Weise der Weg geebnet. Erst nach der Regelung der Deutschland- und Berlin-Frage war der Fortgang der gesamteuropäischen Verständigungspolitik möglich.

QuellentextGrundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, 21. Dezember 1972

Artikel 1: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung.

Artikel 2: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, [...].

Artikel 3: Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. [...]

Artikel 4: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen davon aus, daß keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann.

Artikel 5: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden friedliche Beziehungen zwischen den europäischen Staaten fördern und zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beitragen.

Sie unterstützen die Bemühungen um eine Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa, ohne daß dadurch Nachteile für die Sicherheit der Beteiligten entstehen dürfen. [...]

Artikel 7: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage dieses Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern. Einzelheiten sind in dem Zusatzprotokoll geregelt. [...]

Quelle: Peter Bender, Neue Ostpolitik, Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 247 ff.

Differenzen in der Auslegung

Allerdings enthielt das Viermächte-Abkommen trotz eineinhalbjähriger Verhandlungsdauer immer noch Unklarheiten. So konnten sich die Verhandlungspartner nicht einmal über den Geltungsbereich des Abkommens verständigen. In den "Allgemeinen Bestimmungen" - dem allgemeinen, politischen Teil des Abkommens - kam das Wort "Berlin" nicht ein einziges Mal vor, sondern immer nur in der Umschreibung "dem betreffenden Gebiet". Die praktischen Bestimmungen, die den zweiten Teil des Abkommens ausfüllten, betrafen lediglich die drei Westsektoren Berlins. Die Formulierung, wonach die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik aufrechterhalten und entwickelt werden sollten, wurde von östlicher Seite so ausgelegt, als sei damit lediglich die Ausgestaltung der Verbindungen in verkehrstechnischer und postalischer Hinsicht gemeint, nicht aber die Entwicklung der politischen, wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Bindungen.

QuellentextKontroverse um die deutsche Ostpolitik

Boris Meissner: Erfolg der Sowjetdiplomatie

Insgesamt stellt der Vertrag, wenn man die deutschen Vorleistungen bedenkt, zu denen auch die Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen am 2. November 1969 gehört, einen bemerkenswerten Erfolg der Sowjetdiplomatie dar. Mit den Grenzbestimmungen des Vertrages ist der Besitzstand der Sowjetunion, der 1955 von Adenauer nicht anerkannt worden war, besser abgesichert und der Status quo in Europa verfestigt worden. In den Nebenabreden ist den Vorstellungen der sowjetischen Außenpolitik, soweit sie Osteuropa, die DDR und die Europäische Sicherheitskonferenz betrafen, weit entgegengekommen worden. Außerdem ist durch das Vertragswerk die Ausgangslage der Sowjetunion für eine schrittweise Ausdehnung ihres Einflusses in Westeuropa wesentlich verbessert worden.

Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß der Moskauer Vertrag aufgrund seiner Gewaltverzichtsbestimmungen und der Unberührtheitsklausel des Artikels 4 in Verbindung mit dem Brief zur deutschen Einheit den Charakter eines modus-vivendi-Vertrages aufweist, der der deutschen Seite die Möglichkeit gibt, ihn in erster Linie als einen Gewaltverzichtsvertrag auszulegen. [...]

Quelle: Westdeutsche Ostpolitik: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen, in: Hans-Peter Schwarz. Handbuch der deutschen Außenpolitik, München 1975, S. 291.

Richard Löwenthal: Befreiende Wendung

Es war unvermeidlich, daß eine Politik, die im Effekt mit einer zwanzigjährigen Tradition der ostpolitischen Fiktionen brach, die Öffentlichkeit der Bundesrepublik tief aufwühlte. Nach innen gesehen handelte es sich um nicht weniger als um das Bewußtwerden einer Verschiebung der Legitimationsgrundlage der Bundesrepublik, die sich freilich im stillen seit langem vorbereitet hatte - um die Akzeptierung des "Provisoriums" in seinen tatsächlichen Grenzen als bleibender Staat der freien Deutschen. Nun schieden sich an dieser Frage die Geister, zum Teil auch die Generationen: Für viele der Älteren, die noch ein vorhitlerisches Deutsches Reich gekannt hatten, bis in die Reihen der Sozialdemokratie hinein war der Entschluß schwer, am bittersten für die Vertriebenen unter ihnen. Doch großen Teilen der mittleren und jüngeren Generation, bis weit in die Kreise der bisherigen CDU-Wähler hinein, erschien er als eine Befreiung von überlebtem Ballast - und für jene Gruppen, die noch nahe Verwandte und enge Freunde im anderen Teil Deutschlands hatten, denen die deutsche Frage nicht Gegenstand nationaler Ansprüche, sondern menschlicher Sorge war, als ein Hoffnungsschimmer. [...]

Drei Jahre nach dem Beginn ihrer entscheidenden Phase war die neue Politik nicht mehr von Hoffnungen beflügelt, durch ihren Beitrag zur allgemeinen Entspannung einen Wandel in den kommunistischen Systemen Osteuropas in naher Zukunft herbeizuführen. Ein solcher Wandel, so wurde es nun gesehen, mochte eines Tages kommen und neue Möglichkeiten für eine gesamteuropäische Friedensordnung schaffen - aber seine Herbeiführung hing nicht entscheidend von der Politik des Westens im allgemeinen oder der Bundesrepublik im besonderen ab. Erst recht stand hinter der neuen Politik in keinem Augenblick der Wunsch nach der Entwicklung deutscher Sonderbeziehungen zu den Sowjets: Nur auf der Grundlage der sicheren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Verankerung der Bundesrepublik im Westen hatte der Ausgleich mit dem Osten gelingen können. Nicht um die Herstellung von Sonderbeziehungen, sondern um die Befreiung von einem jahrzehntealten Sonderkonflikt mit dem Osten war es gegangen, und sie war nun im großen und ganzen gelungen. [...]

Quelle: Vom Kalten Krieg zur Ostpolitik, in: Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland - eine Bilanz, hrsg. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Seewald Verlag, Stuttgart 1974, S. 691 f.

Karl Kaiser: Überparteilicher Konsensus

Die Frage, ob die Ostpolitik in der Periode bis 1972 übereilt war, und ob alle Verhandlungsmöglichkeiten auch wirklich ausgeschöpft wurden, ist zweifellos legitim. Doch hält dieser Vorwurf den Tatsachen stand? Zunächst sei daran erinnert, daß die meisten wichtigen Fragen schon lange vor den Beschlüssen über die neue Ostpolitik im Auswärtigen Amt gründlich geprüft worden waren [...].

Zweitens bestand ein objektiver und nicht selbst auferlegter Zeitdruck, da zentrale Bestandteile der deutschen Position im Ausland, insbesondere in den Ländern des Westens, zusehends auf Widerspruch stießen. Es bestand die reale Gefahr eines einseitigen Vorgehens der Westmächte, was zu einer unwiderruflichen Zerstörung von Verhandlungspositionen geführt hätte, die zur Sicherung grundlegender Interessen Bonns erforderlich waren. [...]

Für diejenigen, die das gesamte Verdienst an der neuen Ostpolitik für die SPD und FDP beanspruchen möchten, aber auch für diejenigen, die der SPD-FDP-Koalition die Schuld an allen angeblichen Gefahren dieser Politik anlasten möchten, mag es nützlich sein, sich daran zu erinnern, daß wesentliche Elemente der neuen Ostpolitik einen überparteilichen Ursprung haben.

Quelle: Die neue Ostpolitik, in: Wolfram F. Hanrieder/Hans Rühle (Hrsg.), Im Spannungsfeld der Weltpolitik: 30 Jahre deutsche Außenpolitik (1949-1979), Stuttgart 1981.

Andreas Hillgruber: "Teilungsverträge"

Auch für die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und vor allem für die Menschen im geteilten Deutschland läßt sich bislang keine eindeutige Bilanz der seit 1973 in Kraft befindlichen Verträge und Abkommen ziehen. Politisch kann der von der Regierung Brandt-Scheel erhoffte "Prozeß" zunehmender Kooperation auf dem Wege von einem "geregelten" Nebeneinander zu einem Miteinander als ausgeblieben bezeichnet werden. Unter Schwankungen im einzelnen hat sich insgesamt die Tendenz der DDR zur politischen und ideologischen "Abgrenzung" statt der von der Bundesregierung angestrebten Annäherung durchgesetzt. Der "dosierte" Druck auf Berlin, um eine restriktive Auslegung des Viermächteabkommens zu erreichen, hält mit wechselnder Intensität an. Der Auffassung, daß es sich bei allen genannten Verträgen um "Teilungsverträge" handelt, wird von der Bundesregierung nur gelegentlich widersprochen; die Auffassung der DDR (und des hinter ihr stehenden Ostblocks) setzt sich de facto immer mehr durch. Von einer Aufhebung des Schießbefehls und einer Beseitigung der Berliner Mauer wird gar nicht mehr gesprochen. Andererseits sind Erleichterungen für Familienzusammenführungen und ein ganz erheblich verstärkter und bequemerer Reiseverkehr von der Bundesrepublik und West-Berlin nach Ost-Berlin und in die DDR als positive Ergebnisse der Vertragspolitik durchaus nicht gering zu veranschlagen. Es bleibt allerdings eine offene Frage, ob die Millionen von Deutschen aus der Bundesrepublik möglich gewordene Begegnung mit Verwandten und Freunden in der DDR das immer deutlicher erkennbare bewußtseinsmäßige Auseinanderleben zwischen den Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR aufzuhalten vermag, wenn der Zustand der Teilung in zwei so grundlegend verschieden orientierte Staats- und Gesellschaftsordnungen anhält und die ältere Generation, die noch von gesamtdeutschen Erfahrungen und Gemeinsamkeiten mit der gleichen Generation im anderen deutschen Staat ausgehen kann, nicht mehr als Bindeglied wirkt.

Quelle: Andreas Hillgruber, Deutsche Geschichte 1945-1975. Die deutsche Frage in der Weltpolitik, Frankfurt - Berlin - Wien 1980, S. 178 f.

Aus diesen Unterschieden und Unklarheiten in der Begrifflichkeit ergab sich ein grundlegender Dissens in der Status-Frage Berlins, so daß bei allen Folgevereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und Ostblockstaaten der Kampf um die Einbeziehung West-Berlins neu geführt werden mußte, während Ost-Berlin wie selbstverständlich der DDR zugerechnet wurde. Nach sowjetischer Auffassung war dies aber auch im Viermächte-Abkommen schon geschehen, wo die Westmächte unter "dem betreffenden Gebiet" das Territorium Groß-Berlins verstanden, die Sowjetunion dagegen nur das Gebiet der drei Westsektoren.

Diese unterschiedliche Textauslegung war jedoch, wenn überhaupt, nur zu einem geringen Teil Ausdruck interpretatorischer Willkür. Die Tatsache, daß die Möglichkeit zu unterschiedlicher Auslegung bestand, war auch nicht auf die Unfähigkeit der Diplomaten zurückzuführen, den Text des Abkommens klar und unmißverständlich zu formulieren. Entscheidend war vielmehr, daß die Kompromißfähigkeit in der Status-Frage erschöpft war und daß deshalb keine präziseren Formulierungen gefunden werden konnten.

Europäische Entspannung

Neben den SALT-Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie den Verhandlungen im Rahmen der neuen deutschen Ostpolitik gab es schließlich noch eine dritte Verhandlungsebene, die für die Entspannungspolitik in der ersten Hälfte der siebziger Jahre charakteristisch war: die europäischen Verhandlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie die Gespräche über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderung (MBFR).

Die KSZE, die zugleich einen Höhe- und Wendepunkt der Entspannung darstellte, begann am 22. November 1972 mit Vorgesprächen in Helsinki und endete - nach Verhandlungen in Genf und einer weiteren Runde in der finnischen Hauptstadt - am 1. August 1975 mit der Schlußakte von Helsinki. Das Dokument enthielt einen Prinzipienkatalog für die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa, Bestimmungen über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich, Vorschläge für wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie Vereinbarungen über die Verwirklichung größerer Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen. Der Prinzipienkatalog, in dem unter anderem die Unverletzlichkeit der Grenzen und der Verzicht auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt bekräftigt wurden, sollte dabei einen Verhaltenskodex für Ost und West in Europa schaffen. Zugleich bildete die KSZE den Auftakt für eine Serie von Folgekonferenzen, die in unregelmäßigen Abständen stattfanden, um die Einhaltung der Vereinbarungen von Helsinki zu prüfen und die begonnene Politik fortzuschreiben.

QuellentextKSZE-Schlußakte von Helsinki, 1. August 1975

Die Schlußakte stellt ausdrücklich kein verbindliches Abkommen, sondern eine Absichtserklärung dar.

[...] I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte

Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. [...]

II. Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt

Die Teilnehmerstaaten werden sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in ihren internationalen Beziehungen im allgemeinen der Androhung oder Anwendung von Gewalt, die gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder auf irgendeine andere Weise mit den Zielen der Vereinten Nationen und mit der vorliegenden Erklärung unvereinbar ist, enthalten. Die Geltendmachung von Erwägungen zur Rechtfertigung eines gegen dieses Prinzip verstoßenden Rückgriffs auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt ist unzulässig. [...]

III. Unverletzlichkeit der Grenzen

Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben. [...]

IV. Territoriale Integrität der Staaten

Die Teilnehmerstaaten werden die territoriale Integrität eines jeden Teilnehmerstaates achten. [...]

V. Friedliche Regelung von Streitfällen Die Teilnehmerstaaten werden Streitfälle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, daß der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. [...]

VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten

Die Teilnehmerstaaten werden sich ungeachtet ihrer gegenseitigen Beziehungen jeder direkten oder indirekten, individuellen oder kollektiven Einmischung in die inneren oder äußeren Angelegenheiten enthalten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit eines anderen Teilnehmerstaates fallen. [...]

VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit

Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. [...]

VIII. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker

Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten, indem sie jederzeit in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Normen des Völkerrechts handeln, einschließlich jener, die sich auf die territoriale Integrität der Staaten beziehen.

Quelle: M. Lautemann/W. S. Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 691 ff.

Die MBFR-Gespräche, bei denen es um die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Mitteleuropa ging, wurden am 31. Januar 1973 in der Wiener Hofburg eröffnet und im Februar 1989 ohne nennenswerten Erfolg beendet. Schon bei der Bestandsaufnahme der in Europa vorhandenen Rüstungen ging es jahrelang nicht voran. Und auch über mögliche Reduzierungsmodelle konnte man sich nicht einigen, weil die unterschiedliche Streitkräftestruktur und die stark voneinander abweichenden Streitkräftezahlen einen Kompromiß nicht zuließen.

Erst die Nachfolgekonferenz, die seit dem 9. März 1989 unter Beteiligung von 16 NATO- und sechs Warschauer-Pakt-Staaten unter dem Titel "Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa" (VKSE) ebenfalls in Wien tagte, brachte nach weiteren 20 Monaten Verhandlungen einen Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa zustande, der am 19. November 1990 auf einem KSZE-Sondergipfel in Paris von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde und Obergrenzen für Personal und Ausrüstung der Streitkräfte vom Atlantik bis zum Ural sowie ein komplexes Informations- und Verifizierungssystem vorsah.

Konfliktverhütung

Die auf diesem KSZE-Sondergipfel am 21. November 1990 ebenfalls unterzeichnete "Pariser Charta für ein neues Europa" verlieh darüber hinaus der KSZE für die Zukunft eine Koordinierungsfunktion bei der gemeinsamen Abwehr von Konfliktgefahren in Europa. Zu diesem Zweck wurde 1991 in Prag eigens ein Konfliktverhütungszentrum der KSZE errichtet.

Für die USA und die Sowjetunion besaßen diese Verhandlungen über Abrüstung und Entspannung in Europa einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. Während die Sowjetunion dringend eine Anerkennung der europäischen Nachkriegsgrenzen durch das Forum der 35 KSZE-Teilnehmerstaaten wünschte, war das Interesse der USA anfangs gering. Henry Kissinger ging sogar so weit, von der KSZE als von einer "Spielwiese der Europäer" zu sprechen. Die MBFR-Gespräche stießen in Ost und West gleichermaßen auf Desinteresse, bis sich die politischen Voraussetzungen Ende der achtziger Jahre grundlegend änderten.

Für die KSZE galt diese Konstellation jedoch nur bis 1975. Denn als die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet war, kehrten sich die Betrachtungsweisen bald um: Für die Sowjetunion war der Hauptzweck der Veranstaltung - die formelle Grenzanerkennung - erfüllt, während sie die Folgen der Zugeständnisse, die sie im Bereich der Menschenrechte und der Freizügigkeit hatte machen müssen, möglichst zu vermeiden suchte. Die USA dagegen wurden sich des Nutzens bewußt, den der Helsinki-Prozeß für die Durchsetzung der Menschenrechte in der Sowjetunion und in Osteuropa haben konnte. Bereits die erste KSZE-Folgekonferenz, die 1977/78 in Belgrad stattfand, stand deshalb ganz im Zeichen der amerikanischen Kritik an der sowjetischen und osteuropäischen Menschenrechtspraxis. Der "Geist von Helsinki" wurde zum Synonym für das Streben nach Befreiung von politischer Repression in Europa.