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Die demokratische Revolution in Osteuropa | Internationale Beziehungen I | bpb.de

Internationale Beziehungen I Zu diesem Heft Der Beginn der Bipolarität Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges Zwang zur Koexistenz in den fünfziger Jahren Vom Kalten Krieg zur Ära der Entspannung Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975 Krise und Neubeginn der Ost-West-Kooperation Die demokratische Revolution in Osteuropa Herausforderungen im 21. Jahrhundert Literaturhinweise Impressum

Die demokratische Revolution in Osteuropa

Manfred Görtemaker

/ 24 Minuten zu lesen

Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow (links) und US-Präsident George H. Bush (rechts) reichen sich auf dem Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki vor Malta die Hände. (© AP)

Einleitung

Die Umwälzungen, die sich im Herbst 1989 in Osteuropa vollzogen, gingen nicht nur von der Politik Gorbatschows aus, sondern zeichneten sich bereits seit Beginn der achtziger Jahre in mehreren osteuropäischen Ländern ab. Die Tragweite dieser Entwicklung, die nicht unwesentlich von der Entspannungspolitik der siebziger Jahre - insbesondere dem "Geist von Helsinki" - beeinflußt war, mußte schließlich auch von der Sowjetunion anerkannt werden. Gorbatschows Verdienst besteht darin, die Reformbestrebungen zugelassen und sogar aktiv gefördert zu haben, indem er durch seine eigene Politik von "glasnost" und "perestroika" ein Klima für Reformideen schuf. Vor allem jedoch trug er sich - anders als seine Vorgänger - offenbar zu keinem Zeitpunkt mit dem Gedanken, oppositionelle Bewegungen mit militärischen Mitteln zu unterdrücken.

Reformbewegungen

Im Sommer 1980, als Arbeiterunruhen und Streiks auf den Werften von Danzig und Gdingen sowie die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarität" eine gefährliche Herausforderung für die kommunistische Regierung Polens darstellten und den Rücktritt von Parteichef Edward Gierek heraufbeschworen, war das Ausmaß der politischen Erneuerungen noch keineswegs absehbar. Die "Solidarität" forderte mehr Mitbestimmung und gesellschaftliche Freiheit und prangerte die ökonomische Unfähigkeit und politische Verkrustung des kommunistischen Regimes schonungslos an. Die SED-Führung in Ost-Berlin, die sogleich ein Übergreifen der polnischen Reformideen auf die DDR befürchtete, beendete daraufhin am 30. Oktober 1980 den visafreien Verkehr mit Polen. Sie verschärfte die Aktivitäten ihres Staatssicherheitsdienstes im lnnern und schränkte die Bewegungs- und Äußerungsmöglichkeiten der ostdeutschen Schriftsteller, Künstler und Kirchenvertreter ein. Diese hatten vor allem im Rahmen der europäischen Friedensbewegung begonnen, sich als Opposition zu profilieren.

Zwar entwickelten die Bürger der DDR bald große Ressentiments gegenüber ihren östlichen Nachbarn, die weniger als Freiheitskämpfer denn als wirtschaftliche Belastung empfunden wurden. Befürchtungen der Ost-Berliner Führung, die polnischen "Unruhestifter" könnten in der DDR Nachahmer finden, blieben jedoch zunächst grundlos. Aber die Ideen von Freiheit und Demokratie konnten auch durch die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Selbst aus der Illegalität heraus drängte die "Solidarität" wirkungsvoll auf Reformen und stellte das Herrschaftsmonopol der kommunistischen Partei in Frage. Darüber hinaus begannen sich ihre Ideen allmählich auch außerhalb Polens auszubreiten.

So kam es in Ungarn bereits zwischen 1982 und 1984 zu einer intensiven Diskussion über die Ziele der wirtschaftlichen und politischen Zukunft des Landes, nachdem der seit 1956 von Staats- und Parteichef Janos Kádár praktizierte "Gulasch-Kommunismus" - die Strategie, ökonomische Reformen von politischer Liberalisierung zu trennen - sich als ungeeignet erwiesen hatte, den erhofften Fortschritt herbeizuführen. Obwohl diese Debatte am Anfang kaum mehr war als eine theoretische Erörterung komplizierter wirtschaftlicher Sachverhalte auf Expertenebene, wurde Kádár dadurch schließlich gezwungen, einer Liberalisierung des Wahlgesetzes, Maßnahmen zur Verstärkung der unternehmerischen Freiheit, der Auflösung der "industriellen Dinosaurier" - der durch die staatliche Planungsbürokratie geschaffenen ineffektiven industriellen Trusts und Kombinate - sowie dem Prinzip der persönlichen Verantwortung für ökonomische Leistung zuzustimmen.

Außerdem plädierte Mátyás Szürös, Sekretär im Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSzMP) und früherer Botschafter Ungarns in der Sowjetunion, im Januar 1984 in der theoretischen Monatsschrift der MSzMP, "Társadalmi Szemle", für größere Bewegungsfreiheit in der Gestaltung der ungarischen Außenpolitik, um neue Partner zur Sanierung der ungarischen Wirtschaft - insbesondere im westlichen Ausland - zu gewinnen.

Unterstützung für das Streben Ungarns nach mehr Eigenständigkeit kam überraschend aus der DDR. So wurde der Szürös-Artikel vom SED-Parteiorgan "Neues Deutschland" im vollen Wortlaut nachgedruckt - eine Sympathiebekundung, die jedoch nicht aus ideologischer Übereinstimmung, sondern aus dem Bemühen des Staats- und Parteichefs Erich Honecker herrührte, den Schaden, der für die DDR aus der seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu beobachtenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR entstanden war, zu begrenzen.

Die Situation war nicht ohne Ironie: Honecker verbündete sich mit Ungarn in der Außenpolitik zu einer Zeit, als man in Budapest soeben daran ging, einen Kurs innerer Reformen und der Öffnung nach außen einzuschlagen.

Sonderweg in der DDR

Als Michail Gorbatschow 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU ernannt wurde, bedeutete dies zunächst nicht nur eine Ermutigung für die polnischen und ungarischen Reformer, sondern auch eine Bestätigung der Außenpolitik Honeckers, der allerdings sorgfältig zwischen den inneren und äußeren Aspekten der Politik Gorbatschows unterschied: Im selben Maße, in dem er die Bemühungen Gorbatschows um eine Erneuerung der Ost-West-Entspannung befürwortete, bestritt er zugleich dessen Forderung nach größerer Offenheit sowie ökonomischen und politischen Umstrukturierungen im Innern. Honecker bestand vielmehr darauf, daß die DDR nicht gezwungen werden dürfe, dem sowjetischen Modell zu folgen, sondern daß es ihr erlaubt sein müsse, einen Sozialismus "in den Farben der DDR" zu entwickeln. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, stellte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der Hamburger Zeitschrift "Stern" vom 9. April 1987 die vielzitierte rhetorische Frage, ob man sich denn verpflichtet fühlen müsse, seinem Nachbarn zu folgen, wenn dieser beschließe, in seinem Haus die Wände neu zu tapezieren. Die DDR-Führung jedenfalls - so konnte man den Äußerungen Honeckers und Hagers entnehmen - verspürte eine derartige Verpflichtung zu inneren Reformen nicht. Im Gegenteil: Man hielt sie sogar für überflüssig und schädlich, ja gefährlich.

Aber die "Revolution von oben", die Gorbatschow für die Sowjetunion verordnete, wurde nun auch in den anderen sozialistischen Ländern immer lauter gefordert. Während in der Tschechoslowakei die Ersetzung von Parteichef Gustáv Husák durch den jüngeren und flexibleren Milos Jakés im Dezember 1987 noch keine unmittelbare Liberalisierung des Regimes bedeutete (Husák behielt immerhin noch das repräsentative Amt des Staatspräsidenten), bewirkte der wachsende Ruf nach Demokratie und Freiheit insbesondere in Polen und Ungarn bald eine Beschleunigung und Radikalisierung des Reformprozesses.

So kam es in Polen im April und Mai 1988 zu neuen Streiks der Stahl- und Werftarbeiter, die sich sofort zu einer Kraftprobe zwischen der immer noch verbotenen Gewerkschaft "Solidarität" und dem Regime von General Wojciech Jaruzelski entwickelten. Im Februar 1989 begannen deshalb Gespräche am "Runden Tisch" zwischen Innenminister Ceslaw Kiszak, Vertretern des offiziellen Gewerkschaftsbundes und dem Führer der "Solidarität", Lech Walesa, die im April 1989 zu einer Verfassungsreform und zur Wiederzulassung der "Solidarität" sowie im Juni 1989 zu ersten Parlamentswahlen mit freier Kandidatenaufstellung führten.

Umbruch in Ungarn

In Ungarn wurde Ministerpräsident Károly Grosz am 22. Mai 1988 als Verfechter weitreichender politischer und wirtschaftlicher Reformen zum neuen Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ernannt. Der langjährige Partei- und Staatschef János Kádár wurde zunächst auf das neugeschaffene Amt eines Ehrenpräsidenten abgeschoben, ehe man ihn im Mai 1989 aller Ämter enthob. Hingegen wurde lmre Nagy, der 1958 in einem Geheimprozeß zum Tode verurteilte und hingerichtete Führer des ungarischen Volksaufstandes von 1956, rehabilitiert und feierlich neu bestattet.

Die DDR sah sich durch diese "reformistische Einkreisung" zwar bedroht, reagierte darauf aber nicht mit eigenen Reformen, sondern mit Selbstisolierung. Das SED-Regime wurde zu einer Insel der Orthodoxie in einem Meer politischer, ökonomischer und ideologischer Strukturveränderungen. Immerhin bewies die Führung in Ost-Berlin aber ihre wachsende Nervosität, als sie im November 1988 den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" in der DDR verbot, die von vielen reformorientierten Ostdeutschen als Ausdruck sowjetischer Offenheit gelesen wurde.

Umgestaltung in der UdSSR

Der Machtantritt Michail Gorbatschows am 11. März 1985 hatte diese Entwicklung, die auf eine grundlegende Veränderung der politischen und sozialen Strukturen hinauslief, sowohl ermutigt als auch beschleunigt. Gorbatschow war allerdings nicht mit dem Ziel angetreten, den Sozialismus abzuschaffen, sondern um ihn wiederzubeleben und zu einem leistungsfähigen System umzugestalten. Er verstand sich selber als ein radikaler Reformator, der zu den Ursprüngen der Revolution von 1917 zurückkehrte. Sein Buch "Perestroika", das 1987 erschien, trug daher im Untertitel der deutschen Ausgabe den Zusatz "Die zweite russische Revolution".

Gorbatschow war damit ein Exponent des damals in der Sowjetunion weit verbreiteten Bewußtseins, daß es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Die Periode der sowjetischen Geschichte von 1929 bis Anfang der achtziger Jahre wurde nun als "Deformation des Sozialismus" bezeichnet. Die Breschnew-Ära seit Oktober 1964 erhielt darüber hinaus statt der Bezeichnung "entwickelter Sozialismus" das Etikett "Zeit der Stagnation". Grundlage dieses Sinneswandels war die Einsicht, daß das bisherige sowjetische Regierungssystem auf vielfältige Weise versagt hatte:

  • Das zentralistische System der Wirtschaftslenkung zeichnete sich vor allem durch mangelnde Effizienz aus und hatte die Sowjetunion vom - nach eigener Einschätzung - "progressivsten Land der Geschichte" tatsächlich zu einem gewöhnlichen Land der Dritten Welt heruntergestuft.

  • Die politische Selbstisolierung und der fehlende Informationsfluß der Sowjetunion war mit den Anforderungen einer auf Kommunikation ausgerichteten modernen Industriegesellschaft nicht vereinbar, so daß sich die Schere gegenüber westlichen Industrieländern hinsichtlich Konsum und technologischem Fortschritt immer weiter öffnete.

  • Die Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik lagen darnieder; Korruption hatte viele Funktionäre in den Leitungsapparaten von Politik und Wirtschaft und die Unterwelt zu einer Mafia-ähnlichen Struktur zusammenwachsen lassen.

  • In der Außenpolitik hatte der auf Erweiterung des sowjetischen Einflusses in der Welt ausgerichtete militärische Expansionismus seit Mitte der siebziger Jahre zu kostspieligen Abenteuern geführt, die von der sowjetischen Wirtschaft immer schwerer zu verkraften waren.

QuellentextZiele der Sowjetunion

Rede des sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow vor dem Europarat im Juli 1989 (Auszug).

[...] Ich weiß, daß im Westen manche Leute das Haupthindernis (für die Idee der europäischen Einigkeit, die Red.) im Vorhandensein von zwei sozialen Systemen sehen. Aber die Schwierigkeit liegt eher woanders, nämlich in der weit verbreiteten Überzeugung (vielleicht sogar in politischer Zielsetzung), daß unter Überwindung der Spaltung Europas "Überwindung des Sozialismus" zu verstehen sei. Das ist jedoch ein Kurs auf Konfrontation, wenn nicht auf etwas noch Schlimmeres. Bei derartigen Verhaltensweisen wird es keine europäische Einheit geben.

Die Zugehörigkeit der Staaten Europas zu verschiedenen sozialen Systemen ist eine Realität. Und die Anerkennung dieser historischen Gegebenheit, die Respektierung des souveränen Rechtes jedes Volkes, nach eigenem Gutdünken die Gesellschaftsordnung zu wählen, ist die wichtigste Voraussetzung für den normalen Ablauf des europäischen Prozesses.

[...]

Unterschiede zwischen den Staaten lassen sich nicht beseitigen. Sie sind, wie es gelegentlich wiederholt gesagt wurde, sogar wohltuend. Natürlich unter der Bedingung, daß der Wettbewerb zwischen verschiedenen Gesellschaftsformen auf die Herbeiführung besserer materieller und geistiger Lebensbedingungen der Menschen orientiert ist.

Dank der Umgestaltung wird sich die UdSSR an einem solchen redlichen, gleichen und konstruktiven Wettbewerb voll und ganz beteiligen können. Bei allen jetzigen Mängeln, bei allem Zurückbleiben kennen wir die Stärkeren unserer Gesellschaftsordnung, die sich aus ihren wesentlichen Charakteristika ergeben, gut. Wir sind überzeugt, daß wir es verstehen werden, sie zum eigenen Nutzen und zum Nutzen Europas zu realisieren.

Es ist an der Zeit, die Postulate des Kalten Krieges, da Europa als ein in "Einflußbereiche" und jemands "Vorfelder" eingeteilter Schauplatz der Konfrontation, als Objekt der militärischen Auseinandersetzungen, als Kriegsschauplatz betrachtet wurde, ad acta zu legen. [...]

Ich möchte in Anwesenheit der europäischen Parlamentarier, das heißt ganz Europas, unsere einfachen und klaren Haltungen zu Abrüstungsfragen erneut zur Sprache bringen. Sie sind das Ergebnis des neuen Denkens und wurden im Namen unseres ganzen Volkes in einem Beschluß des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR gesetzmäßig verankert:

  • - Wir sind für eine kernwaffenfreie Welt, für die Vernichtung aller Atomwaffen zu Beginn des kommenden Jahrhunderts; [...]

  • - wir sind für die radikale Reduzierung konventioneller Rüstungen und Streitkräfte auf das Niveau der vernünftigen defensiven Hinlänglichkeit, die jede Anwendung militärischer Gewalt gegen andere Staaten zwecks Angriffs ausschließt;

  • - wir sind für den vollständigen Abzug aller ausländischen Truppen von den Territorien anderer Länder; [...]

  • - wir sind für die Liquidierung der Militärblöcke und das unaufschiebbare Zustandekommen des politischen Dialogs zwischen ihnen zu diesem Thema, für die Schaffung einer Atmosphäre des Vertrau-ens, die alle Überraschungen ausschließt;

  • - wir sind für eine tiefschürfende, konsequente und effektive Kontrolle über alle Verträge und Abkommen, die zu Abrüstungsfragen geschlossen werden können. [...]

Die auf dem Wiener Treffen angenommenen Beschlüsse kennzeichnen in diesem Sinne einen wahren Durchbruch. Vorgezeichnet ist ein ganzes Programm gemeinsamer Aktionen der europäischen Länder, das verschiedenartige Maßnahmen vorsieht. In vielen Fragen, die erst vor kurzem ein Stein des Anstoßes in den Beziehungen zwischen Ost und West waren, wurde eine gegenseitige Verständigung erzielt. [...]

Die Europäer können den Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts nur unter Vereinigung ihrer Anstrengungen gerecht werden. [...] Sie brauchen ein Europa - ein friedliches und demokratisches, das all seine Mannigfaltigkeit erhält und sich an allgemeine humanistische Ideale hält, aufblüht und der ganzen restlichen Welt die Hand reicht. Ein Europa, das sicher in den morgigen Tag schreitet. In einem solchen Europa sehen wir unsere eigene Zukunft.

Die Perestrojka, die sich eine tiefgreifende Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft zum Ziel setzt, bestimmt auch unsere Politik voraus, die auf die Entwicklung Europas gerade in dieser Richtung abzielt. Die Perestrojka verändert unser Land und führt es zum Neuen. Dieser Prozeß wird weiter vor sich gehen, sich vertiefen und die sowjetische Gesellschaft in vieler Hinsicht - in der Wirtschaft, im sozialen, politischen und geistigen Bereich, in allen inneren Angelegenheiten und den menschlichen Beziehungen - umgestalten.

Quelle: Dokumente Sowjetische Botschaft in Bonn/Presseagentur Nowosti, Nr. 20, 10. 7. 1989.

Nur eine Öffnung der sowjetischen Gesellschaft (Glasnost) sowie eine radikale Umgestaltung (Perestroika) der seit den zwanziger Jahren gewachsenen Strukturen schien bei der Machtübernahme Gorbatschows noch geeignet, den gordischen Knoten von Zentralismus und Mißwirtschaft zu durchschlagen. Die Fehler und Versäumnisse wurden allerdings nicht dem Sozialismus, sondern seiner "Deformation" in der Nach-Lenin-Zeit angelastet. Gorbatschow appellierte daher ständig an "die echten sozialistischen Ideale" und rief zur "klugen Verteidigung der Ideale der Revolution" auf, um "die Gesellschaft auf der Grundlage der Leninschen Prinzipien und der echten sozialistischen Werte zu erneuern".

Was darunter genau zu verstehen war, blieb indessen unklar. Noch 1991 hielt Gorbatschow an der Einparteiherrschaft der KPdSU fest, die er auch in der Zukunft sichern wollte. Er erklärte weiterhin die Unzulässigkeit von Privateigentum an Produktionsmitteln in größerem Umfang und bekannte sich zu einer gesteuerten Planwirtschaft, die zwar durch einen Markt ergänzt, aber nicht ersetzt werden sollte. Glasnost und Perestroika basierten somit nicht auf einem festen Konzept, sondern waren tagespolitisch bestimmte Improvisationen, deren Entwicklung maßgeblich von der Person Gorbatschows und seinen wechselnden Beratern abhing. Ihre gemeinsame Grundlage war die Analyse der bestehenden Mißstände, ihr Ziel die Stärkung des Sozialismus. Über den Weg dorthin wurde jedoch heftig gestritten.

Neue Osteuropa-Politik

Die osteuropäischen Länder, die zwischen 1939 und 1948 durch Stalins Machtpolitik unter sowjetische Kontrolle geraten waren, wurden von den Reformmaßnahmen keineswegs ausgespart. Zwar bildete Osteuropa einen wichtigen Eckstein der sowjetischen Einflußsphäre, so daß eine Zunahme von Unabhängigkeitsbestrebungen - wie in den sechziger Jahren - das Risiko einer Auflösung des gesamten Sowjetblocks in sich barg. Aber Gorbatschow ließ nach anfänglicher Unsicherheit bald keinen Zweifel mehr daran, daß das "neue Denken" in der Sowjetunion auch für die Beziehungen zwischen der UdSSR und ihren osteuropäischen Verbündeten gelten sollte.

Um die Jahreswende 1987/88 entstanden so die Umrisse einer neuen sowjetischen Osteuropa-Politik, in denen die Abkehr von der "Breschnew-Doktrin" und die Hinwendung zu einem eher partnerschaftlichen Verhältnis mit Respekt vor nationalen Unterschieden erkennbar wurde. Mehr als vier Jahrzehnte lang war die Zugehörigkeit der osteuropäischen Staaten zum sowjetischen Herrschaftsbereich ein Kernelement der Nachkriegsordnung gewesen, wobei die sowjetische Hegemonie nicht auf der Zustimmung der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern, sondern auf der Anwesenheit übermächtiger sowjetischer Streitkräfte beruht hatte. Dabei hatte die "Breschnew-Doktrin" noch unter Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko bis Mitte der achtziger Jahre als Vorwand gedient, um Reformen zu unterdrücken.

Dies änderte sich erst unter Gorbatschow. Für den neuen Generalsekretär der KPdSU bestand, auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, eine zwingende Notwendigkeit zu Reformen - vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Allerdings blieben die Konturen der sowjetischen Osteuropa-Politik in den ersten zwei Jahren der Amtszeit Gorbatschows noch vage und widersprüchlich. Bekenntnisse zu größerer nationaler Eigenständigkeit wechselten mit Forderungen nach Aufrechterhaltung der Einheit, wobei der Akzent zumeist auf der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration als Mittel zur Stärkung der sozialistischen Gemeinschaft lag. Doch am 10. April 1987 deutete sich erstmals eine Positionsveränderung an, als Gorbatschow in einer Rede in Prag erklärte:

"Wir sind weit davon entfernt, von jedem zu erwarten, uns zu kopieren. Jedes sozialistische Land hat seine spezielle Gestalt, und jede Bruderpartei entscheidet vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Bedingungen selbst über ihre politische Linie. [...] Niemand hat das Recht, einen Sonderstatus in der sozialistischen Welt für sich zu beanspruchen. Die Unabhängigkeit jeder Partei, ihre Verantwortung für ihr Volk, und das Recht, die Probleme der Entwicklung ihres Landes auf souveräne Weise zu lösen - das sind für uns unumstößliche Prinzipien."

Auch bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution am 2. November 1987 bemerkte Gorbatschow, Einheit bedeute "weder Identität noch Einförmigkeit". Bei einem Besuch in Jugoslawien im März 1988 wurde im abschließenden Kommuniqué ausdrücklich "Respekt für verschiedene Wege zum Sozialismus" bekundet und das Recht aller Länder auf "ungehinderte Unabhängigkeit" hervorgehoben. In seiner Rede vor dem Europarat in Straßburg am 7. Juli 1989 erklärte Gorbatschow schließlich unter direkter Bezugnahme auf die Breschnew-Doktrin (ohne sie allerdings beim Namen zu nennen), "jede Einmischung in innere Angelegenheiten, alle Versuche, die Souveränität von Staaten - sowohl von Freunden und Verbündeten als auch von jedem sonst - zu beeinträchtigen", seien "unzulässig". Die "Philosophie des gemeinsamen europäischen Hauses" schließe die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes und "die Anwendung von Gewalt, vor allem militärischer Gewalt, zwischen den Bündnissen, innerhalb der Bündnisse oder wo auch immer" aus.

"Sinatra-Doktrin"

Was jetzt noch fehlte, war ein ausdrücklicher Widerruf der Doktrin. Dafür sorgte im Oktober 1989 der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, der am Rande eines Besuches von Gorbatschow in Finnland gut gelaunt verkündete, die Breschnew-Doktrin sei "tot" und werde durch die "Sinatra-Doktrin" ersetzt. Gerassimow spielte damit auf den amerikanischen Sänger Frank Sinatra an, zu dessen Repertoire auch der in aller Welt populäre Song "My Way" gehörte, der sich auf sehr persönliche Weise zu einem "eigenen Weg" bekannte. Der indirekte Hinweis auf dieses Lied bedeutete somit eine elegante Aufforderung an die Länder im bisherigen sowjetischen Machtbereich, nunmehr ohne Furcht politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einzuleiten. Mit anderen Worten: Die Bevormundung und Kontrolle durch Moskau war beendet. Die Regierungen in den einzelnen Ländern waren frei, über ihren "eigenen Weg" selbst zu entscheiden.

Zusammenbruch der DDR

Als Gerassimow die "Sinatra-Doktrin" verkündete, war das Moskauer Imperium in Osteuropa schon dem Zusammenbruch nahe, ohne daß der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums dies vermutlich ahnte. Doch die Rede Gorbatschows vor dem Europarat in Straßburg, die die eigentlichen Kernaussagen zur Rücknahme der Breschnew-Doktrin enthielt, konnte als Antwort auf Ereignisse verstanden werden, die sich kurz zuvor an der österreichisch-ungarischen Grenze abgespielt hatten: Ungarische Soldaten hatten hier am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus begonnen. Ungarn kündigte damit praktisch die Solidarität der Ostblockstaaten bei der Abriegelung des kommunistischen Herrschaftsbereichs gegenüber dem Westen auf. Zum ersten Mal seit 1945 wurde das Prinzip des "Eisernen Vorhangs" durchschnitten.

Für die DDR sollte diese Entwicklung bald schwerwiegende Folgen haben. Die Versicherung von DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler gegenüber dem SED-Politbüro, daß es sich nach Mitteilung aus Budapest lediglich um "technische Maßnahmen" handele, von denen die eigentlichen Grenzkontrollen nicht betroffen seien, trug kaum zur Beruhigung bei. Die SED-Führung zog es vor, weiter an ihrem starren Kurs der Reformverweigerung festzuhalten. Dies zeigten sowohl ihre Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Tiananmen-Massaker in Peking am 4. Juni 1989 - mit Besuchen von Günter Schabowski und Egon Krenz in der chinesischen Hauptstadt. Während die durch die Wahlfälschung erzielten Resultate die Zustimmung der Bevölkerung zum SED-Regime unterstreichen sollten, war der Schulterschluß mit den repressiven Kräften in China ein Signal an innenpolitische Gegner, wie man auch in der DDR mit "umstürzlerischen Elementen" umzugehen gedachte, wenn diese zu einer ernsthaften Gefahr für die Regierung zu werden drohten.

Massendemonstrationen

Doch diesmal ließ sich die Bevölkerung nicht mehr einschüchtern wie in der Vergangenheit. Man war unzufrieden mit den wirtschaftlichen Verhältnissen und stieß sich auch zunehmend an den Begrenzungen der politischen Freiheit. Zudem hatte die Entwicklung seit den siebziger Jahren - vor allem forciert durch die KSZE - einerseits eine größere Öffnung des Regimes bewirkt. Zum anderen offenbarte aber gerade diese Öffnung mehr denn je den tatsächlichen Zustand in der DDR. Die DDR-Bürger reagierten daher auf die Beschwichtigungs- und Einschüchterungsversuche des SED-Regimes - augenscheinlich ermutigt durch die Vorbilder in Polen, Ungarn und auch der Sowjetunion - mit offen geäußerter Entrüstung und Protest. Zwar waren die Manipulationen nicht gravierender als bei früheren "Wahlen" in der DDR, und die politische Hilfestellung für ein undemokratisches Regime war ebenfalls kaum etwas Neues. Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten ehemaligen Verbündeten der DDR befanden sich jetzt auf Reformkurs, und die meisten DDR-Bürger hielten ihre Regierung inzwischen nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Führung war deshalb weithin isoliert, ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit.

In dieser Situation faßte eine wachsende Zahl von DDR-Bewohnern den Entschluß, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ost-Berlin und Prag zu erzwingen. Und etwa 600 DDR-Urlauber nutzten am 19. August ein Fest der "Paneuropa-Union" bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht nach Österreich, während die ungarischen Grenzposten sich demonstrativ bemühten, die Massenflucht nicht zu bemerken.

Die Ereignisse von Sopron waren der Beginn eines rasch anschwellenden Flüchtlingsstroms, der sich aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ergoß. Der "Eiserne Vorhang" hörte damit auf zu existieren. Täglich trafen nun zwischen 100 und 200 Ostdeutsche in Aufnahmelagern in Bayern ein, bis die SED-Führung am 5. September von der ungarischen Regierung informiert wurde, daß es vom 11. September an DDR-Bürgern erlaubt sein würde, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten. Jetzt flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es insgesamt bereits 32500.

Auch in den Reihen der SED begann man jetzt zu begreifen, daß Selbstisolierung und Verweigerung keine angemessenen Antworten auf die Herausforderung der Reformbestrebungen darstellten. Am 7. Oktober 1989 - dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR - wurde die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich wie selten zuvor: Einerseits wurde der Jahrestag der Staatsgründung noch mit altem Gepränge gefeiert. Andererseits kam es am Abend dieses Tages in Ost-Berlin zu spontanen Demonstrationen gegen das SED-Regime. Und Gorbatschow kritisierte als Ehrengast der Feierlichkeiten die DDR-Führung in kaum verhüllter Form mit der Bemerkung: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

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Am 18. Oktober wurden schließlich die längst fälligen Konsequenzen gezogen: Auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED wurde Erich Honecker von allen Funktionen in Partei und Staat entbunden. Sein Nachfolger, Egon Krenz, ließ am 9. November die Grenzen zur Bundesrepublik öffnen, um den innenpolitischen Druck zu mindern. Er konnte jedoch die Reformbewegung, die sich inzwischen in regelmäßigen Massendemonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern in vielen Städten der DDR äußerte und bei denen der Ruf "Deutschland, einig Vaterland" immer lauter wurde, nicht mehr eindämmen. Am 4. Dezember wurde Krenz als SED-Generalsekretär zum Rücktritt gezwungen. Die SED wurde umbenannt - zunächst in "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands-Partei des Demokratischen Sozialismus" (SED-PDS), dann unter Weglassung des belasteten SED-Kürzels in PDS. Neuer Parteivorsitzender wurde der Berliner Rechtsanwalt Gregor Gysi. Der am 13. November zum Ministerpräsidenten der DDR ernannte Hans Modrow versprach eine demokratische Erneuerung des politischen Lebens und schlug sogar eine "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden deutschen Staaten vor, die zu neuer gesamtdeutscher Gemeinsamkeit und schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands führen sollte.

Deutsche Einigung

Nach den ersten freien Parlamentswahlen in der DDR am 18. März 1990, die mit einem Sieg der "Konservativen Allianz" aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch endeten, erhielten die Initiativen zur Verwirklichung der deutschen Einheit weiteren Auftrieb. Der mit großer Mehrheit von der Volkskammer zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählte CDU-Politiker Lothar de Maizière legte bereits in seiner Regierungserklärung am 19. April 1990 ein klares Bekenntnis zur Einigung Deutschlands ab. Er äußerte seinen Willen, "in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG" Schritt für Schritt die Marktwirtschaft in der DDR zu entwickeln. Überdies sprach er sich für die Durchführung des Einigungsprozesses nach Artikel 23 des Grundgesetzes (für einen Beitritt der ostdeutschen Länder zur bisherigen Bundesrepublik) und damit für eine möglichst schnelle Lösung der deutschen Frage aus.

In der Bundesrepublik waren die Überlegungen zu den Einzelheiten des Einigungsverfahrens inzwischen schon weit gediehen. So konnte bereits am 23. April in Bonn mitgeteilt werden, daß Bundesregierung und Koalition sich, unter Beteiligung der Deutschen Bundesbank, auf die Grundzüge eines Staatsvertrages zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR geeinigt hätten. Die nachfolgenden Verhandlungen mit Ost-Berlin waren am 2. Mai abgeschlossen, so daß der Vertrag am 18. Mai im Bonner Palais Schaumburg - symbolträchtig auf dem ehemaligen Schreibtisch Konrad Adenauers - durch die Finanzminister der Bundesrepublik und der DDR, Theo Waigel und Walter Romberg, unterzeichnet und nach Ratifizierung durch die parlamentarischen Gremien in den beiden deutschen Staaten am 1. Juli 1990 in Kraft treten konnte. Bei der Unterzeichnungszeremonie sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von der "Geburtsstunde des freien und einigen Deutschland". Ministerpräsident de Maizière hob hervor, mit dem Tag der Unterzeichnung beginne die "tatsächliche Verwirklichung der Einheit Deutschlands".

Ehe die deutsche Einheit Wirklichkeit werden konnte, waren jedoch nicht nur interne deutsche Fragen, sondern auch die äußeren Aspekte der Einigung zu klären. Dabei ging es um die Ablösung noch bestehender Vier-Mächte-Rechte, um Bündniszugehörigkeit und die Stationierung ausländischer Truppen sowie um Garantien für die polnische Westgrenze und Maßnahmen zur Sicherung der Nachbarn eines wiedervereinigten Deutschland. Bereits bei seinem Staatsbesuch in der DDR vom 20. bis 22. Dezember 1989 hatte der französische Präsident François Mitterrand in diesem Zusammenhang vor Studenten in Leipzig sowie auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin die Deutschen dazu aufgerufen, bei der Entscheidung über ihre Einheit die bestehenden Grenzen und Realitäten zu achten. Beim legitimen Streben nach Einheit dürfe das Gleichgewicht in Europa nicht verletzt werden.

Am Rande einer Konferenz der Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes in Ottawa vom 11. bis 14. Februar 1990 kamen die Außenminister der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten schließlich überein, die "auswärtigen Aspekte der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten" in sogenannten "Zwei-plus-Vier"-Gesprächen unter Beteiligung der Bundesrepublik und der DDR sowie der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs zu klären. Nach Abschluß dieser Gespräche - voraussichtlich im Herbst 1990 - sollten die Ergebnisse auf einer Konferenz der KSZE allen europäischen Staaten zur Kenntnis gebracht werden.

Zwei-plus-Vier-Gespräche

Anfang Mai 1990 trafen sich die sechs Außenminister zum ersten Mal in Bonn, danach erneut Ende Juni in Ost-Berlin, Mitte Juli in Paris und schließlich am 12. September in Moskau. Dazwischen fanden Expertengespräche der Sechs statt. Aber die Thematik wurde auch bei bilateralen Gesprächen zwischen Vertretern der einzelnen Länder erörtert, vor allem bei Zusammenkünften der Präsidenten Bush und Gorbatschow und ihrer Außenminister Baker und Schewardnadse sowie Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher.

Anfängliche Versuche der Sowjetunion bei diesen Verhandlungen, einen separaten Status für das DDR-Gebiet, eine Doppelmitgliedschaft Deutschlands in NATO und Warschauer Pakt oder eine Loslösung der Bundesrepublik aus der militärischen Westintegration zu erreichen, blieben erfolglos und wurden schließlich aufgegeben, als die sechzehn Regierungschefs der NATO mit ihrer "Londoner Erklärung" vom 6. Juli 1990 den sowjetischen Erwartungen weit entgegenkamen. Darin hieß es, der Westen werde "nie, unter keinen Umständen" als erster militärische Gewalt anwenden. NATO und Warschauer Pakt sollten gemeinsam eine Nichtangriffserklärung abgeben, und die NATO-Strategie werde mit dem Ziel überprüft, die Atomwaffen in der westlichen Planung so herunterzustufen, daß ihr Einsatz nur noch als "letztes Mittel" erwogen würde.

Danach fand sich die Sowjetunion mit der Einigung Deutschlands entsprechend den westlichen Vorstellungen ab, die sie ohnehin nicht mehr verhindern konnte. Bei einem Besuch Kohls im Kaukasus bestätigte Gorbatschow seine bereits am 31. Mai gegenüber Präsident Bush gegebene Zusage der freien Bündniswahl und damit der außenpolitischen Handlungsfreiheit des vereinigten Deutschland. Kohl faßte am 16. Juli die Gesprächsergebnisse zusammen:

(1) Die Einigung Deutschlands umfasse die Bundesrepublik, die DDR und Berlin.

(2) Mit dem Vollzug der Einigung würden die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte vollständig abgelöst; Deutschland erhalte zum Zeitpunkt seiner Vereinigung die "volle und uneingeschränkte Souveränität".

(3) Das geeinte Deutschland schließe mit der Sowjetunion einen zweiseitigen Vertrag zur Abwicklung des sowjetischen Truppenabzuges aus Ostdeutschland, der innerhalb von drei bis vier Jahren beendet sein solle.

(4) Das vereinte Deutschland könne über seine Bündniszugehörigkeit frei entscheiden. Solange sowjetische Truppen noch auf dem ehemaligen DDR-Territorium stationiert blieben, würden die NATO-Strukturen jedoch nicht auf diesen Teil Deutschlands ausgedehnt; nicht-integrierte Verbände der Bundeswehr, wie Verbände der territorialen Verteidigung, könnten dagegen sofort nach der Einigung Deutschlands auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und in Berlin stationiert werden.

(5) Die Streitkräfte des vereinten Deutschlands würden innerhalb von drei bis vier Jahren auf 370000 Mann reduziert.

(6) Ein geeintes Deutschland werde auf die Herstellung, den Besitz und die Verfügung über atomare, biologische und chemische Waffen verzichten und Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages für Kernwaffen bleiben.

Einigung über Ostgrenze

Mit diesem Durchbruch, der nicht zuletzt durch einen vorangegangenen Parteikongreß der KPdSU ermöglicht worden war, auf dem Gorbatschow sich gegen seine konservativen innenpolitischen Gegner durchgesetzt hatte, waren die wichtigsten außenpolitischen Hürden auf dem Weg zur deutschen Einheit beseitigt. Am Tage darauf, beim dritten Treffen der Zwei-plus-Vier-Runde am 17. Juli in Paris, wurde dann zusammen mit dem polnischen Außenminister Skubiszewski auch eine Einigung über die endgültige Regelung der polnischen Westgrenze erzielt.

Nachdem in bilateralen Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau schließlich auch die Einzelheiten der Abwicklung des sowjetischen Truppenabzuges aus der DDR geregelt worden waren, wobei vor allem die finanziellen Aspekte (mit deutschen Zahlungen an die Sowjetunion in Höhe von insgesamt etwa 12 Milliarden DM bis zum Jahre 1994 sowie einem zusätzlichen zinslosen Darlehen von drei Milliarden DM) umstritten gewesen waren, konnten die Außenminister der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten in Anwesenheit von Präsident Gorbatschow das Zwei-plus-Vier-Schlußdokument - den "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" - am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnen. Die deutsche Einigung vollzog sich am 3. Oktober durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, das mit dem verbrieften Einverständnis der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und aller Nachbarn Deutschlands zustande kam.

Auch in den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereiches in Osteuropa hatte sich inzwischen eine Entwicklung vollzogen, die eine Revolution der politischen und sozialen Strukturen bedeutete. In Polen hatte der Wahlmodus bei den Parlamentswahlen vom Juni 1989 zwar eine Mehrheit für die Kräfte der Opposition verhindert. Doch am 24. August wurde mit Tadeusz Mazowiecki ein Mann als Ministerpräsident bestätigt, der als Berater der "Solidarität" die Machtbeteiligung der ehemals verbotenen Gewerkschaft sicherte. Die Regierung Mazowiecki leitete nicht nur weitreichende Wirtschaftsreformen ein, die den Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System bedeuteten, sondern erklärte Polen auch am 30. Dezember 1989 zur "Republik". Die kommunistische Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP), die die Zeichen der Zeit nun ebenfalls erkannte, löste sich am 28. Januar 1990 selbst auf und gründete sich neu als "Sozialdemokratie der Republik Polen".

Zerfall des Sowjetimperiums

Ähnlich verlief die Entwicklung in Ungarn, das am 23. Oktober 1989 - dem Jahrestag des sowjetischen Einmarsches von 1956 - vom neuen Präsidenten Mátyás Szürös ebenfalls zur "Republik" erklärt wurde. Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei löste sich gleichfalls selbst auf und gründete sich mit verändertem Programm neu. Die politischen und wirtschaftlichen Reformen, die bereits mit den Diskussionen der Jahre 1982 bis 1984 eingeleitet worden waren, wurden mit dem Ziel des Aufbaus einer pluralistischen Demokratie und einer sozial verantwortlichen Marktwirtschaft fortgesetzt.

In Bulgarien wurde Partei- und Staatschef Todor Schiwkow am 10. November 1989 zum Rücktritt gezwungen und durch Petar Mladenow ersetzt. Auf einer außerordentlichen Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei am 8. Dezember wurden neben Schiwkow 26 weitere Mitglieder aus dem ZK ausgeschlossen. Eine Plenartagung des ZK vom 11. bis 13. Dezember schaffte das stalinistische Modell des Sozialismus ab und hob das Machtmonopol der KP auf. Bei Gesprächen am "Runden Tisch" zwischen Regierung und Oppositionsgruppen seit dem 16. Januar 1990 wurden freie und geheime Wahlen vereinbart, die im Mai 1990 stattfanden.

In der Tschechoslowakei forderten Demonstranten erstmals am 17. November 1989 das Ende der Einparteiherrschaft. Nach weiteren Demonstrationen traten das Zentralkomitee und das Präsidium der KP der CSSR am 24. November zurück. Zwei Tage später begannen Gespräche zwischen Regierung und Opposition am "Runden Tisch". Nach einer erneuten Großdemonstration und einem Generalstreik für Demokratisierung wurde Regierungschef Milos Jakés am 28. November zum Rücktritt gezwungen. Das Machtmonopol der Kommunistischen Partei wurde aufgehoben. Am Tage darauf verabschiedete das tschechoslowakische Parlament die mit der Opposition am "Runden Tisch" vereinbarten Verfassungsänderungen. Der daraufhin am 10. Dezember gebildeten Regierung des neuen Ministerpräsidenten Marian Calfa gehörten mehrheitlich Vertreter der Bürgerbewegungen als Minister an. Zugleich trat Gustav Husák als Präsident zurück. Als sein Nachfolger wurde am 29. Dezember der Dramatiker und Bürgerrechtler Václav Havel gewählt.

Blutvergießen in Rumänien

Auch in Rumänien kam es schließlich Mitte Dezember 1989 zu Protesten gegen die kommunistische Führung. Sie begannen im ungarischen Landesteil, von wo sie bald auf Bukarest und das übrige Land übergriffen. Die Unruhen wurden zunächst blutig niedergeschlagen, bis sich große Teile der rumänischen Armee nach Meldungen über den gewaltsamen Tod von Verteidigungsminister Vasile Milea am 22. Dezember der Aufstandsbewegung gegen die Führung von Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu anschlossen. Dieser floh noch am selben Tag aus Bukarest, wurde jedoch bald darauf ergriffen und am 25. Dezember durch ein militärisches Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Am 26. Dezember wurde der frühere Ceausescu-Parteigänger und ZK-Sekretär Ion Iliescu von der "Front der Nationalen Rettung Rumäniens" zum neuen Staatspräsidenten ernannt. Er erklärte Rumänien bereits drei Tage später ebenfalls zur Republik. Petre Roman wurde Chef einer provisorischen Regierung, die sich bei umstrittenen Wahlen im Mai 1990 überraschend behauptete.

Überall in Osteuropa gab es somit Bestrebungen zur politischen Demokratisierung und zur Abkehr von der zentralen Wirtschaftslenkung. Die Macht der Kommunisten zerfiel. Der Einfluß des Kreml schwand. Das sowjetische Imperium, das im Gefolge des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa errichtet und seither mit politisch-ideologischer Repression und militärischer Gewalt aufrechterhalten worden war, gehörte der Vergangenheit an.

Alle diese Entwicklungen führten dazu, daß sich die Bedingungen, die den Ost-West-Konflikt geformt und geprägt hatten, von Grund auf änderten. Das Ende des Konflikts in seiner bekannten Form bedeutete jedoch keineswegs von vornherein den Anbruch eines goldenen Zeitalters, sondern vor allem mehr Instabilität und Unsicherheit. Dies galt besonders für Osteuropa, wo nach dem Rückzug der Sowjetunion ein politisches Vakuum entstand, das erst allmählich durch neue Strukturen einer nach Westen orientierten Staatengemeinschaft gefüllt wurde, die Sicherheit und Wohlstand sowohl in der NATO als auch in einer nach Osten erweiterten Europäischen Union suchte.

Ende der UdSSR

Für die Sowjetunion war der Niedergang mit dem Rückzug aus Osteuropa aber noch nicht beendet. Dem außenpolitischen Abstieg folgte nun der innere Zusammenbruch. Sechs Jahre nach Beginn der Perestroika war der Reformdruck nicht geringer geworden, sondern dramatisch gewachsen. Am Beginn der neunziger Jahre befand sich die Sowjetunion tatsächlich in einer quasi-revolutionären Situation - aber gänzlich anders, als Gorbatschow es sich 1985 vorgestellt hatte: Die staatliche Gewalt war paralysiert, die Republiken und Nationalitäten der Sowjetunion pochten auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die Versorgung mit elementaren Konsumgütern brach zusammen, in der Wirtschaft kam es zu politischen Streiks. Gorbatschow und seine Regierung wurden immer unüberhörbarer zum Rücktritt aufgefordert.

Stanislaw Schatalin, bis Ende 1990 einer der führenden Wirtschaftsberater Gorbatschows, stellte dazu am 30. Januar 1991 in der Literaturnaja gazeta fest, "der sogenannte humane demokratische Sozialismus" sei "ein Bluff". Die Reformversuche am sowjetischen Sozialismus hätten nur seine Unreformierbarkeit an den Tag gebracht. Die mit der Politik der Perestroika betriebene entschiedene und endgültige Abkehr vom Stalinismus und die Überwindung des Breschnewismus führten nicht zu einem "humanen Sozialismus" mit "kommunistischer Perspektive", wie es im Programm des XXVIII. Kongresses der KPdSU im Juli 1990 geheißen hätte, sondern zu der Einsicht, daß das sowjetische System nicht in der Lage sei, den Völkern der Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts eine Perspektive für die Zukunft zu bieten.

Diese Kritik der Reformpolitik Gorbatschows las sich bereits wie ein Abgesang an die Sowjetunion. Tatsächlich war es bis dahin nicht mehr weit: Am 6. Dezember 1991 machte der Oberste Sowjet der Ukraine den Anfang und kündigte den Unionsvertrag, mit dem die Sowjetunion am 30. Dezember 1922 als "Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken" gegründet worden war. In dem Beschluß betonten die Abgeordneten, die Ukraine betrachte sich ab sofort nicht mehr als Mitglied der Union. Der Vorsitzende des Obersten Sowjets Weißrußlands, Stanislaw Schuschkewitsch, der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk sowie der russische Präsident Boris Jelzin - mächtigster Gegenspieler Gorbatschows - berieten daraufhin am 8. Dezember in Minsk über die Aussichten für die künftigen Beziehungen zwischen ihren Republiken. Sie veröffentlichten eine Erklärung, wonach die Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag gescheitert seien. Deshalb seien sie übereingekommen, eine "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) zu bilden, die offen sei für den Beitritt aller bisherigen Unionsrepubliken sowie für andere Staaten, die die Ziele und Prinzipien dieses Abkommens teilten.

Gorbatschow, der jetzt mit dem Titel "Präsident", als Staatschef der Sowjetunion fungierte, erklärte daraufhin in einem Interview für das ukrainische Fernsehen, nunmehr sei eine Scheidelinie erreicht, hinter der Anarchie und Chaos begännen. Im sowjetischen Fernsehen ergänzte Gorbatschow diese Bemerkung am 9. Dezember 1991 mit der Feststellung, das Abkommen der drei Republiken enthalte zwar auch positive Elemente. Vor allem aber verkünde es das Ende der Sowjetunion.

Karikatur: NATO (© Verwendung ist honorarpflichtig.)

Aus den Trümmern der Sowjetunion ging schließlich Rußland als wichtigster Nachfolgestaat hervor. Das alte, traditionelle Sowjetsystem zerfiel, auch wenn es in vielem noch weiterwirkte. In dem folgenden Transformationsprozeß gerieten ein halber Kontinent - Osteuropa und Rußland bis zum Ural - und Teile Asiens in Bewegung. Der Wandel war grundlegend. Er zielte auf eine neue politische Architektur, bei der Elemente der Globalisierung mit Ansätzen einer gesamteuropäischen Integration, aber auch einer partiellen Renaissance des Nationalstaates und dem Aufschwung nationalistischer und fremdenfeindlicher Ideen einherhingen. Für den Ost-West-Konflikt markierte das Ende der Sowjetunion das Ende der politisch-ideologischen Konfrontation zwischen Kommunismus und westlicher Demokratie und damit das Ende des Kalten Krieges.