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„Volksgemeinschaft“?

Michael Wildt

/ 3 Minuten zu lesen

Während eine überwältigende Mehrheit bei einem Werftbesuch Adolf Hitlers 1936 die Arme zum " Deutschen Gruß" hebt, verschränkt ein einzelner Arbeiter seine Arme. (© Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)

Einleitung

Ein genauer Blick auf das Umschlagfoto lohnt! Es zeigt Arbeiter der Hamburger Werft Blohm & Voss beim Stapellauf des Marineschulschiffs „Horst Wessel“ am 13. Juni 1936. Zu dem Ereignis war selbst der „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler angereist, ebenso wie etliche ranghohe Militärs und Parteiobere, des Weiteren waren Ehrenkompanien der Wehrmacht, der SA und der SS angetreten. Zum Höhepunkt der Großveranstaltung, als das Schiff zu Wasser gelassen und die Nationalhymne gespielt wurde, hoben alle den Arm zum sogenannten deutschen Gruß – nur einer nicht. Auf dem Bild ist ein Mann zu erkennen, der die Arme verschränkt hält. Wer dieser Mann ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Irene Eckler meinte ihren Vater August Landmesser zu erkennen, der seine jüdische Verlobte Irma Eckler wegen der Nürnberger Rassengesetze von 1935 nicht heiraten durfte. Die Töchter Ingrid und Irene kamen außerehelich zur Welt. August Landmesser wurde 1938 denunziert, wegen „Rassenschande“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und dann als Soldat an die Front geschickt, wo er seit 1944 als verschollen galt. Irma Eckler wurde 1938 ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und 1942 ermordet.

Aber auch eine andere Hamburger Familie glaubte, in dem Mann mit den verschränkten Armen ihren Verwandten Gustav Wegert identifizieren zu können, der nachweislich als Schlosser bei Blohm & Voss gearbeitet hatte und als gläubiger Christ aus religiöser Überzeugung den Hitler-Gruß verweigerte.

Doch unabhängig davon, um wen es sich bei diesem Arbeiter handelt, besitzt dieses Bild eines unbekannten Fotografen eine starke Aussagekraft. Denn es zeigt zum einen die hohe Bereitschaft mitzumachen, den Arm zum „Hitler-Gruß“ zu heben, wenn es verlangt war, und zum anderen die durchaus vorhandenen, alltäglichen Handlungsmöglichkeiten, sich dem Druck zur Gleichförmigkeit zu entziehen. Selbst bei den vielen erhobenen Armen lassen die individuellen Haltungen auf ganz unterschiedliche Grade der Zustimmung schließen.

Die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ war so einheitlich nicht, wie die nationalsozialistischen Machthaber glauben machen wollten. Trotz aller Gleichheitspropaganda gab es nach wie vor große soziale Unterschiede, und die nationalsozialistische Politik selbst schuf neue, rassistische Ungleichheiten, indem sie bestimmten Gruppen, allen voran den Juden, die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ absprach. Durch Ausgrenzung und Gewalt wurde die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ definiert. Antisemitismus, Judenfeindschaft, bildete ihren radikalisierenden Kern.

Dennoch bot die Formel von der „Volksgemeinschaft“, die Gleichheit und Gerechtigkeit versprach und in der Weimarer Republik von nahezu allen Parteien im Mund geführt wurde, genügend Anknüpfungspunkte für die Nationalsozialisten, um Zustimmung für sich zu mobilisieren. Endlich sollte der „Parteienkrieg“ der ungeliebten Republik überwunden, das Parlament als „Schwatzbude“ beseitigt und die Regierung einem starken „Führer“ übertragen werden, der von sich behauptete, zu wissen, was das Volk wolle. Alle Probleme einer modernen Gesellschaft, in der sich viele ohnmächtig und verloren fühlten, sollten durch die „Volksgemeinschaft“ aufgehoben sein. „Was macht eine Demokratie“, fragte der Zeitgenosse und Publizist Sebastian Haffner, „wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?“

Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, Zustimmung und Terror, „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung, Zugehörigkeit und Verfolgung sind die Themen dieses Heftes. Der Sieg des Nationalsozialismus 1933 war kein unausweichlicher Prozess, ebenso wie die große Zustimmung zum NS-Regime keineswegs bedeutete, dass nicht auch Widerstand, Ablehnung und alltägliche Zivilcourage möglich waren. Militarisierung und Gewalttätigkeit waren bereits im Kaiserreich angelegt, wurden durch den Ersten Weltkrieg verstärkt und prägten auch die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik. Aber erst die nationalsozialistische Herrschaft schuf gewaltsame Strukturen, die die deutsche Gesellschaft zunehmend bestimmten. Der Novemberpogrom 1938 legte offen, wie sehr sich diese Gesellschaft im Nationalsozialismus innerhalb weniger Jahre verändert hatte, wie gewalttätig scharf die Grenzen zwischen der „Volksgemeinschaft“ und den „Fremdvölkischen“ und „Gemeinschaftsfremden“ schon in der Vorkriegszeit gezogen worden waren.

Michael Wildt ist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungsvorstellungen in der Moderne.

Kontakt: E-Mail Link: michael.wildt@geschichte.hu-berlin.de

Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der inhaltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstimmung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.