Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der Totale Krieg | Zeitalter der Weltkriege | bpb.de

Zeitalter der Weltkriege Editorial Prolog Wie die Weltkriege entstanden Der Globale Krieg Der Totale Krieg Völkermord Der Krieg von unten Wie die Weltkriege endeten Erinnerung Epilog Der Erste Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg und seine Vorläuferkonflikte Karten Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Der Totale Krieg

Sönke Neitzel

/ 18 Minuten zu lesen

Der industrialisierte Massenkrieg 1914 bis 1918 kostet Millionen Menschen, Soldaten wie Zivilisten, das Leben. Im Zweiten Weltkrieg wird die Radikalisierung der Gewalt noch einmal erheblich gesteigert – maßgeblich befördert durch menschenverachtende Ideologien wie den Nationalsozialismus.

Städte und Landstriche werden im totalen Krieg verwüstet. Von Oktober 1914 bis weit ins Jahr 1918 liegt die flandrische Stadt Ypern unmittelbar im Frontgebiet und nahezu täglich unter Granatenbeschuss. Luftbild der Zerstörungen von 1915 (© Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo)

Ein Begriff und seine Definition


"La guerre que fait L’Allemagne est une guerre totale, une guerre de tous ses nationaux du dedans et du dehors contre les nationalités alliées." ("Der Krieg, den Deutschland führt, ist ein totaler Krieg, ein Krieg aller Deutschen im In- und außerhalb ihres Landes gegen die alliierten Nationen.")

Der französische Journalist Léon Daudet schrieb diese Zeilen am 9. Februar 1916 unter dem Eindruck deutscher Luftangriffe auf Paris und einer in Frankreich grassierenden Spionagefurcht. Der Krieg, der seit gut eineinhalb Jahren im Gang war, war auch in den Augen der Zeitgenossen kein herkömmlicher Krieg. Er war anders als alles andere zuvor, größer, brutaler, umfassender. Es schien keine Grenze zwischen Front und Heimat mehr zu geben. Alle wurden zu Kämpfern und zu Zielen des Feindes. Dieser Krieg war ein totaler.

Daudets Begriff verbreitete sich schnell in der französischen Publizistik. Er sollte der Bevölkerung verdeutlichen, dass dies ein Kampf auf Leben und Tod sei, in dem jeder die größten Anstrengungen zu leisten habe, um den Feind niederzuwerfen. In Deutschland wurde diese Bezeichnung erst viele Jahre später von Erich Ludendorff geprägt. Von 1916 bis 1918 hatte er als heimlicher Militärdiktator wie kein Zweiter für die Radikalisierung des Krieges gesorgt. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte er 1935 das Buch "Der totale Krieg", in dem er die Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte für den nächsten Krieg forderte. Während des Zweiten Weltkrieges wurde der Begriff dann durch Joseph Goebbels’ Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 bekannt, in der er das deutsche Volk zu mehr Kriegsanstrengungen aufforderte.

"Guerre totale", "Totaler Krieg" oder japanisch "soryokusen (総力戦)" ist von den Zeitgenossen in unterschiedlichen Kontexten mit durchaus verschiedenen Bedeutungen verwendet worden. In der wissenschaftlichen Diskussion beschreibt der Begriff heute:

  • Totale Mobilisierung – des Militärs, der Volkswirtschaft und der Bevölkerung für den Krieg. Auch Frauen und Kinder wurden als Soldaten an der Front oder als Arbeiter in der Heimat für den Kampf mobilisiert.

  • Totale Kontrolle – aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Staat (Freizeit und Kultur inklusive), um die totale Mobilisierung sicherzustellen.

  • Totale Kriegsziele – zur vollständigen Niederwerfung des Feindes. Der Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation konnte im Extremfall die physische Ausrottung des Feindes bedeuten.

  • Totale Kriegsmethoden – um in dem zum Kampf auf Leben und Tod hochstilisierten Krieg siegreich zu sein. Alles schien erlaubt, solange es nur dem eigenen Erfolg diente. Der Unterschied zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, Kämpfern und Zivilisten, verschwamm zusehends, und die Zivilbevölkerung wurde immer mehr zum eigentlichen Ziel der Kriegshandlungen.

Schattenseiten der Moderne – der industrialisierte Massenkrieg


Kein Krieg der Geschichte ist jemals vollständig total gewesen. Es gab immer auch Momente der Mäßigung, Phasen, in denen das Völkerrecht peinlich genau befolgt wurde. Insofern ist der totale Krieg in seiner absoluten Form allenfalls theoretisch denkbar. Die Totalisierung des Krieges begann nicht erst 1914, sondern reicht bis zu den Französischen Revolutionskriegen zurück. Seitdem vollzog sich eine stetig wachsende Radikalisierung, die erst durch die Angst vor der nuklearen Katastrophe beendet wurde. Der totale Krieg ist somit ein Phänomen der Moderne, also jener Phase der Geschichte, die mit den atlantischen Revolutionen 1776 und 1789 begann und mit den friedlichen Revolutionen von 1989/90 endete. In dieser Zeit veränderte sich die Welt in einem atemberaubenden Tempo. Doch die technischen, kulturellen und politischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts waren stets ambivalent, brachten zivilisatorische Höchstleistungen hervor ebenso wie schlimmste Verbrechen. Eines der herausragenden Symbole für den technischen Fortschritt der Moderne ist die Mondrakete Saturn V.

Sie war eine Weiterentwicklung der V-2 – jener deutschen Fernrakete, deren Bau und Einsatz in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges tausende KZ-Häftlinge und Zivilisten das Leben kostete. Beide Raketen wurden maßgeblich entwickelt von dem deutschen, später US-amerikanischen Ingenieur Wernher von Braun (1912-1977).

Der moderne Staat mit seiner städtisch-industriell geprägten Gesellschaft und der alle Einwohner erfassenden Idee des Nationalismus verwandelte die Welt auch durch Krieg. Zunächst bekamen dies die außereuropäischen Völker zu spüren, denn im 19. Jahrhundert waren die Europäer durch ihre technischen Errungenschaften erstmals in der Lage, alles, was sich ihnen in den Weg stellte, zu unterwerfen. Die Vorboten des industrialisierten Massenkrieges offenbarten sich indes nicht in den blutigen Kolonialkriegen, sondern beim Aufeinanderprallen hochgerüsteter Gegner. Im Krimkrieg (1853-1856), im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) und im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) deutete sich die stetige Radikalisierung der Kriegsziele und Kriegsmethoden, von Mobilisierung und staatlicher Kontrolle bereits an. Und dennoch blieben die Kriege des 19. Jahrhunderts mehr oder minder "eingehegt", vor allem, weil sie so kurz waren und radikale Kriegsziele sich noch nicht durchsetzen konnten.

Doch übersteigerter Nationalismus, Rassismus und Sozialdarwinismus verschärften am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellungen, wie ein Krieg zu führen sei. Dazu ließ das rasche Bevölkerungswachstum die Heere anwachsen, und die fortschreitende Industrialisierung sorgte für deren Ausrüstung. Ein kurzer Krieg wurde so immer unwahrscheinlicher. Helmut von Moltke, 1857 bis 1888 Chef des preußisch-deutschen Generalstabes, warnte 1890 in einer Reichstagsrede kurz vor seinem Tod, dass der nächste Krieg ein "siebenjähriger", wenn nicht gar ein "dreißigjähriger" werde. Allgemeingut waren solch pessimistische Ansichten allerdings nicht. 1914 zogen in ganz Europa viele Männer jubelnd in den Kampf, während die Generalstäbe aller Großmächte hofften, mit wuchtigen Angriffsoperationen ihre Gegner schnell besiegen zu können – obwohl sie es eigentlich besser hätten wissen können.

Die Völker im Kampf um "Sein" oder "Nicht-Sein"


An allen Fronten scheiterten im Herbst 1914 die Auftaktoffensiven im Dauerfeuer der Maschinengewehre und im Geschosshagel der Artillerie. Die Verluste überstiegen alles Vorstellbare: Bis Jahresende 1914 waren auf den Schlachtfeldern Europas rund eine Million Mann gefallen, ganz zu schweigen von Verwundeten und psychisch Erkrankten. Es waren die verlustreichsten fünf Monate des gesamten Krieges, und die Ausfälle überstiegen damit bereits bei weitem den Blutzoll des vierjährigen Amerikanischen Bürgerkrieges. Eigentlich hätte es nun Frieden geben müssen. Die Munition war fast verschossen, die Soldaten waren desillusioniert und Politiker wie Militärs am Ende ihrer Weisheit. Niemand hatte ein schlüssiges Konzept, wie der Sieg errungen werden konnte. In früheren Jahrhunderten hätten sich die Monarchen eventuell auf ein Unentschieden geeinigt, den Status quo ante bekräftigt, opulent gespeist und wären friedlich auseinander gegangen. Doch Ende 1914 zog niemand eine diplomatische Lösung auch nur in Betracht.

Ausgleich war keine Option mehr. Dieser Krieg war kein Konflikt zwischen Monarchen oder Kabinetten. Es war ein Krieg der Völker, ein Krieg, der vom ersten Tag an zum Kampf um "Sein" oder "Nicht-Sein" überhöht wurde. Solche Sinndeutungen waren keineswegs nur von "oben" verordnet. Bereits im August 1914 fühlten sich Abertausende in ganz Europa dazu bemüßigt, in allen denkbaren publizistischen Formen den Kampf von "Gut" gegen "Böse" zu beschwören, "das Eigene" abzugrenzen vom vermeintlichen Wesen der verfeindeten Nationen, denen man die Schuld am Krieg zuschob. Der Feind wurde als absolut niederträchtig hingestellt, der unehrenhaft und heimtückisch kämpfe. Gemeinsame Werte schien es nicht mehr zu geben. Eifrig beteiligten sich Wissenschaftler und Intellektuelle an den Debatten und verhalfen der Hasspropaganda mit ihren Argumenten zu einer noch größeren gesellschaftlichen Anerkennung.

Auf diesem wohlbereiteten Boden konnte die staatliche Propaganda aufbauen. Sie wurde nach den Worten des Historikers Michael Jeismann zum "Schwungrad des Krieges" und forderte von der Bevölkerung immer mehr Anstrengungen für den Sieg. Selbst in der zweiten Kriegshälfte, als der Leidensdruck immer größer wurde, wirkte die anfangs hervorgerufene Sinndeutung noch lange nach. Die Massivität des Propagandakrieges war ein zweischneidiges Schwert, weil sie einerseits der Konstruktion einer geeinten Nation Vorschub leistete, andererseits aber die Politik unter Zugzwang setzte und es beinahe unmöglich machte, einen Kompromissfrieden abzuschließen.

Nach dem Scheitern der Anfangsoffensiven hatten Ende 1914 alle dieselbe Idee, wie es weitergehen sollte: den Gegner mit noch mehr Soldaten und noch mehr Artillerie zu zermalmen. Die Mittelmächte mobilisierten im Verlauf des Krieges 25,8 Millionen Soldaten, die Entente gar knapp 47 Millionen. In Deutschland und Frankreich wurden mehr als 80 Prozent der wehrfähigen männlichen Bevölkerung eingezogen. Ihren Platz in der Industrie und der Landwirtschaft nahmen Frauen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene ein. Die Volkswirtschaften wurden umfassender denn je in den Dienst der Rüstung gestellt, die zivile Produktion erheblich gedrosselt. Es ging darum, wie Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen schrieb, "dem Krieg zu geben, was des Krieges ist".

Außerdem erhielt überall in Europa die Exekutive quasi diktatorische Vollmachten, die Parlamente spielten keine Rolle mehr. Und je länger der Krieg dauerte, desto stärker wurden die autoritären Tendenzen in der Politik und dies nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in Großbritannien. Nach Kriegsbeginn hatte das Parlament machtpolitisch abgedankt, und die liberale Wirtschaftsordnung ließ sich in einem Krieg dieses Ausmaßes nicht mehr aufrechterhalten. Die Folge war der Niedergang des Liberalismus und der liberalen Partei. Labour – als klassische Vertreterin der Arbeiterschaft – entwickelte sich fortan neben den Konservativen zur führenden politischen Kraft des Landes.

Mobilisierung und Kontrolle der Gesellschaft erreichten im Ersten Weltkrieg somit eine neue Qualität. Neu an den Kriegszielen war vor allem die Überzeugung, bis zur totalen Niederlage des Gegners kämpfen zu müssen und keinen diplomatischen Kompromiss zuzulassen. Nicht neu war hingegen die territoriale Dimension der Kriegsziele. Bereits im Krimkrieg (1853-1856) hatte der britische Premierminister Lord Palmerston vor, das Zarenreich auf das russische Kerngebiet zurechtzustutzen. Und Napoleon hatte bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts zeitweise den ganzen europäischen Kontinent in eine Ansammlung französischer Vasallenstaaten verwandelt.

Der Wille zur Vernichtung


Eine regelrechte Zeitenwende war der Erste Weltkrieg vor allem aufgrund der Radikalität der Kriegsmethoden. Im 19. Jahrhundert hatte man noch versucht, durch die Schaffung eines verbindlichen Völkerrechts dem Krieg Regeln zu geben und ihn so einzuhegen. Diese Fortschritte schienen nun verloren. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten verwischte sich merklich. 40 Prozent aller Kriegstoten waren Zivilisten. Die britische Blockade, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Mittelmächte und die Bombardierung britischer und französischer Städte durch deutsche Zeppeline verstießen allesamt gegen das Völkerrecht und richteten sich primär gegen die feindliche Zivilbevölkerung, die damit in einem nie dagewesenen Ausmaß zum Ziel wurde.

Die Beispiele machen des Weiteren deutlich: Wer über ein Kriegsmittel verfügte, setzte es auch ein. Die Briten kontrollierten die Nordsee, also schnitten sie das Deutsche Reich vom Überseehandel ab, auch wenn sie Schiffe mit rein ziviler Ladung eigentlich hätten passieren lassen müssen. Die Folgen waren verheerend: Die Sterblichkeit der deutschen Zivilbevölkerung stieg rapide an. Hunderttausende – vor allem ältere Menschen – starben an den Folgen der Mangelernährung, wozu allerdings auch die ineffiziente Verteilungsorganisation deutscher Behörden beitrug. Das Deutsche Reich erklärte im Gegenzug die britischen Inseln zum Blockadegebiet und griff mit seinen U-Booten britische Handelsschiffe immer wieder ohne Warnung an, was nach geltendem Seerecht strikt untersagt war. Ab dem 1. Februar 1917 wurden sogar neutrale Handelsschiffe gezielt attackiert, um diese vom Handel mit Großbritannien abzuhalten. 28 000 zivile Seeleute starben im Ersten Weltkrieg durch deutsche U-Boot-Angriffe.

Jede Kriegslist und jede neue Waffe wurde bald vom Gegner kopiert, und so etablierte sich jenseits der öffentlichen Empörung bald ein von allen Kriegsparteien getragener neuer Kriegsbrauch. Dies lässt sich etwa am Beispiel chemischer Waffen zeigen. Bereits im August 1914 setzte die französische Armee versuchsweise Granaten ein, die mit Tränengas gefüllt waren. Die Deutschen verwendeten im Januar 1915 an der Ostfront in größerem Umfang Gasgranaten und brachten im April 1915 bei Ypern zum ersten Mal Chlorgas zum Einsatz. Die Westmächte folgten bald darauf, und fortan gab es einen Wettlauf um das giftigste Kampfgas. Allein an der Westfront forderte der Gaskrieg etwa 20 000 Tote und 500 000 Verwundete.

Mit dem Luftkrieg wurde der Krieg in eine neue Dimension getragen. Aus bescheidenen technischen Anfängen entwickelten sich bald Streitkräfte, die mehrere Tausend Flugzeuge umfassten und vor allem unmittelbar über den Schlachtfeldern eingesetzt wurden. Schon im September 1914 griffen deutsche Zeppeline aber auch Paris und ab Januar 1915 englische Städte an. Die Schäden waren zwar überschaubar, dennoch trugen die Angriffe zur Totalisierung des Krieges bei. Die Intention war nämlich meist, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und so deren Durchhaltewillen zu schwächen. 1600 britische Zivilisten kamen im Ersten Weltkrieg durch deutsche Bomben ums Leben – alliierte Luftangriffe auf deutsche Städte forderten etwa 800 zivile Todesopfer. In Anbetracht des verheerenden Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg (62 000 tote britische Zivilisten, ca. 500 000 deutsche, 300 000 japanische) mögen diese Zahlen nicht sehr beeindruckend sein. Es war gleichwohl nur die wenig ausgereifte Technik, die der Eskalation Grenzen setzte. Der Wille dazu war vorhanden. Zuallererst bei den im Zeppelinbau führenden Deutschen. Auch hier zeigte sich wieder: Sobald eine neue Waffe einen Vorteil versprach, wurde sie auch eingesetzt, und niemand scherte sich mehr um rechtliche (und moralische) Bedenken.

QuellentextLuftkrieg

Am 1. November 1911 warf der italienische Leutnant Giulio Gavotti aus seinem Flugzeug des Typs "Taube" über einer Oase in der Nähe von Tripolis mehrere 2-kg-Bomben ab. Das Königreich Italien hatte vier Wochen zuvor Libyen angegriffen und es vier Tage später offiziell annektiert. Die neue Flugmaschine war eine Art Geheimwaffe im Kampf gegen die sich heftig wehrende einheimische Bevölkerung.

Dies war der erste Luftangriff der Geschichte. Welche Formen und Folgen der Kampf in der dritten Dimension einmal haben würde, konnte sich zu diesem Zeitpunkt vermutlich weder Giulio Gavotti noch sonst jemand vorstellen. Es war ein düsteres Kapitel, was im November 1911 aufgeschlagen wurde. Bereits im Ersten Weltkrieg bot das Flugzeug die Möglichkeit, den Krieg weiter in das Hinterland des Feindes zu tragen, als dies jemals zuvor möglich war. Der Unterschied von Front und Heimat verschwamm, alles wurde zum Kampfgebiet. Manche Strategen, wie der Italiener Giulio Douhet oder der Brite Hugh Trenchard, forderten bereits in den 1920er-Jahren, künftig alle Anstrengungen darauf zu richten, die Kraftquellen im Hinterland des Gegners zu zerstören, um künftig einen blutigen Stellungskrieg zu vermeiden. Ob es moralisch gerechtfertigt sei, nicht mehr gegen Soldaten, sondern gegen Zivilisten zu kämpfen, wurde dabei nicht diskutiert. In einem totalen Krieg schien es nicht opportun, solche Unterscheidungen zu machen. Entscheidend war nur, den Krieg zu gewinnen.

Die Folgen dieses Denkens sind bekannt. Der Luftkrieg prägte das radikale Gesicht des Zweiten Weltkrieges ganz erheblich. Über eine Million zivile Opfer, zerstörte Städte, wohin das Auge reichte, nicht nur in Deutschland und Japan, auch in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Österreich, Polen und der Sowjetunion. Aufgrund der großen Zahl der zivilen Opfer kommt dem strategischen Bombenkrieg gegen Städte zweifellos mehr Aufmerksamkeit zu als dem Einsatz von Flugzeugen im Seekrieg oder bei der unmittelbaren Unterstützung der Bodentruppen. Die Analyse des Bombenkrieges mündete nach dem Krieg oftmals in eine emotional geführte Schulddebatte. Dabei wurde die Entwicklung von 1937 bis 1945 auf meist wenige vermeintlich besonders symbolhafte Angriffe reduziert. Guernica (1937), Warschau (1939), Rotterdam (1940), Coventry (1940), Hamburg (1943), Dresden (1945) und Hiroshima (1945) gelten als Ikonen der Zerstörung von Städten aus der Luft. Die meisten dieser Angriffe sind allerdings bereits zeitgenössisch von der Propaganda der kriegführenden Mächte herausgestellt worden, sodass sich der befremdliche Befund ergibt, dass heutige Debatten vielfach weniger die Realität des damaligen Luftkriegs als seine propagandistische Instrumentalisierung widerspiegeln.

Grundsätzlich sollten bei der Betrachtung des Bombenkrieges vier analytische Ebenen unterschieden werden:

  1. Was war die Intention des Angriffes? Welche Ziele sollten mit welcher Absicht getroffen werden?

  2. Welches gegebenenfalls hiervon abweichende Resultat wurde mit dem Luftangriff dann wirklich erzielt?

  3. Wie wurde der Angriff von der Propaganda der Kriegsparteien instrumentalisiert?

  4. Wie erlebten und interpretierten die Betroffenen am Boden und in den Flugzeugen die Angriffe?

Je nach Analyseebene ergeben sich dabei ganz unterschiedliche Befunde ein- und desselben Luftangriffs. Dabei fällt auf, dass durch die technische Unmöglichkeit präziser Bombenabwürfe die Unterscheidung von militärischen und zivilen Zielen sehr bald verschwamm – und dies führte auf keiner Seite zu moralischen Bedenken: wurden doch in Zeiten des totalen Krieges auch Zivilisten zuerst noch zögerlich, ab 1942 dann aber bedenkenlos als legitime Ziele definiert. Die Unterscheidung in "gute" und "böse" Luftangriffe ist dadurch außerordentlich problematisch – ein Befund, der für alle Kriegsparteien gilt, die Luftwaffe ebenso wie die US Army Air Force oder die Royal Air Force. Wendet man die skizzierte Analyseebene einmal auf die genannten Angriffe von Guernica bis Tokio an, so stellt man rasch fest, dass es sich um sehr unterschiedliche Phänomene des Bombenkrieges handelte.

Gleichwohl gilt, dass sich die militärischen und politischen Entscheider weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg je durch moralische Argumente von ihrem Handeln haben abhalten lassen – es ging stets um eine nüchterne Kalkulation, was mit einem Luftangriff erreicht werden konnte. Diente das zu erwartende Ergebnis dazu, einen Beitrag zum Sieg zu leisten, standen rechtliche oder moralische Bedenken stets hintan.

Eines der häufigsten Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg war die Ermordung von Zivilisten unmittelbar im Frontgebiet. Beim Einmarsch nach Belgien und Nordfrankreich im August und September 1914 töteten deutsche Soldaten rund 6400 Zivilisten. Ausgelöst durch eine Spionage- und Partisanenpsychose der unerfahrenen Truppen, die überall Hinterhalte witterten, kam es stellenweise zu wahren Gewaltexzessen. In Löwen exekutierten am 25. August 1914 deutsche Soldaten 248 Belgier und brannten zahlreiche Gebäude nieder, darunter die berühmte Universitätsbibliothek.

QuellentextKampf gegen Widerständler in Charleroi

Sonnabend, den 22. August 1914
[...] Nun befahl der Oberst, welcher zufällig bei unserm Bataillon war, die methodische Durchsuchung der Häuser, namentlich solcher, wo ausgehobene Dachpfannen und Schießscharten in den Fensterläden die Anwesenheit von Franktireurs vermuten ließ. Haus für Haus wurden die Türen mit dem Kolben eingeschlagen und die Bewohner herausgetrieben; wurde jemand mit der Waffe oder mit rauchgeschwärzten Händen gefunden, so wurde er über den Haufen geschossen oder mit dem Bajonett niedergestochen und das Haus den Flammen übergeben. [...] Es ist ja im höchsten Grade zu bedauern, daß bei solchen Gelegenheiten die eigentlichen Rädelsführer meistens nicht erwischt werden und daß dann Unschuldige dafür büßen müssen, denn davon bin ich überzeugt, obwohl ich es selbst mit eigenen Augen nicht gesehen habe, daß in diesem Wirrwarr auch Unschuldige ums Leben gekommen sind. Wenn die Leidenschaften und Urinstinkte erst einmal geweckt sind, wenn die Menschenbestie erst Blut geleckt hat, dann ist es schwer, ihr Zügel anzulegen, dann verwischen sich die schmalen Grenzen zwischen Notwehr und Totschlag. [...]

Es hieß, in der Hauptstraße läge ein schwerverwundeter Dragoner, welcher der ärztlichen Hülfe bedürfe. Begleitet von dem kleinen Sanitätsunteroffizier Roeder von der 11. Komp. ging ich sofort dorthin; […]. Der Dragoner lag mitten auf der Straße, so wie er vom Pferd gestürzt war, es war ein ganz junger Mensch, ich sah gleich, daß ihm nicht zu helfen war, ein Schrotschuß aus nächster Nähe war ihm durch die Brust gegangen; vorn und hinten klaffte ein faustgroßes Loch, durch das der stoßweise Atem pfeifend hindurchging. Das Gesicht war bläulich angelaufen und in höchster Atemnot verzerrt. Ich habe vorher und nachher selten einen Menschen so schwer sterben sehen wie dieses erste Opfer des Krieges; ich werde diese Mienen, auf denen sich die äußerste Todesangst spiegelte, niemals vergessen; der Eindruck war zu furchtbar, ich dachte immer, wenn das der Krieg ist, dann ist er ja entsetzlich. […] Ich kniete neben ihm auf der Straße und holte aus meinem Besteck die Spritze und eine Morphiumampulle hervor. Während ich ihm die Einspritzung machte, vernahm ich plötzlich ein klirrendes Geräusch; als ich den Kopf wandte, sah ich, wie im ersten Stock eines Hauses links an der Straße ein Fenster offengestoßen wurde; ein Zivilist, ich sah ihn deutlich, ein Mann in mittleren Jahren, mit dem typischen dunklen Knebelbart, schob sein Gewehr über die Fensterbrüstung und legte auf mich an. In der Erkenntnis der drohenden Gefahr warf ich die Spritze hin und riß meinen Revolver heraus, aber er kam mir zuvor; seine Kugel ging mir durch den Helmüberzug und zog eine Rinne über den Helm, ohne mich selbst zu verletzen […]. Ich erwiderte sofort den Schuß, und der Kopf verschwand. […] Ich habe später eidlich zu Protokoll gegeben, daß es zweifellos ein Zivilist war, der auf mich schoß, ferner, daß eine augenscheinliche Verletzung der Genfer Convention vorlag; […] so war [meine] weiße Armbinde mit dem roten Kreuz deutlich zu erkennen.

Wenn ich die Vorgänge in Charleroi, jetzt nach einem Jahre vorurteilslos betrachte, ohne mein Urteil durch Haß trüben zu lassen, so komme ich doch wieder zu dem Schluß, unser Vorgehen daselbst war hart aber berechtigt und wenn, was ich für ganz zweifellos halte, viele Unschuldige an Hab und Gut, an Leib und Leben dadurch geschädigt worden sind, so trifft die Schuld daran nicht uns, sondern diejenigen, welche das verblendete Volk zu diesen Akten der Selbsthülfe aufgefordert haben. Belgien hat schwer büßen müssen, aber es hat auch schwer gefehlt.
[...] Wie großzügig der Plan angelegt war, kann man daraus entnehmen, daß an demselben Tage die auf unserm linken Flügel in gleicher Höhe marschierende Garde in der Stadt Chatelet (Châtelet) in ganz ähnlicher Weise überfallen wurde. Die eigentliche Absicht war, uns ahnungslos in die Stadt einmarschieren zu lassen, dann die Klappe zuzumachen und uns durch die Civilbevölkerung, welche zu dem Zweck mit Bürgergarde, der "garde civique" und regulären Truppen in Civilkleidung vermischt wurde, überfallen zu lassen.

Brief: nahe bei Charleroi, Sonntag, den 23. August 1914 morgens auf dem Marsch
Nun habe ich die Feuertaufe erhalten und zwar gründlich. Wir waren in Charleroi in einer Mausefalle, wie man sich schlimmer nicht denken kann. Alles erschien friedlich und als die Division drinnen war, da ging die Kanonade los aus allen Fenstern und Kellerlöchern und oben von den Dächern. Es war eine scheußliche Situation, wir mußten Haus für Haus erstürmen, alle Männer, die mit den Waffen gefunden wurden, wurden sofort über den Haufen geschossen; die Häuser angesteckt, die ganze Stadt war ein Feuermeer, dann stürmten wir die umliegenden Höhen, um aus dem Wurstkessel herauszukommen, wobei wir auch ziemliche Verluste hatten […].

Aus dem Tagebuch des Dr. med. Alfred Bauer sen., "Der Weltkrieg, wie er sich spiegelte im Gehirn von Alfred Bauer, Stabs- und Regimentsarzt im Res. Inf. Rgt. 78 später Feldlazarett 6", Eschau Elsass, Quelle: privat

Zu ähnlichen Vorfällen kam es im August 1914 beim Einmarsch russischer Truppen nach Ostpreußen – wo zwischen 1500 und 6000 deutsche Zivilisten getötet wurden – und österreichisch-ungarischer Einheiten nach Serbien, später dann auch in Galizien. Offenbar war dies ein Phänomen des Bewegungskrieges, das verschwand, sobald die Fronten erstarrten. Die Ermordung von Zivilisten kam daher vor allem an der Ostfront und auf dem Balkan vor, wo der Krieg bis Ende 1916 über große Distanzen hinweg geführt wurde. Die ausgeprägte ethnische und religiöse Vielfalt heizte hier die Gewalt weiter an. In Serbien, Montenegro und Albanien gab es – anders als in Belgien oder Frankreich – eine Kultur des bewaffneten Widerstandes. So kam es auf dem Balkan zu einem regelrechten Guerillakrieg gegen die Besatzungsherrschaft der Mittelmächte, der im Februar und März 1917 im serbischen Aufstand seinen Höhepunkt erreichte. Bulgarische, deutsche und österreichisch-ungarische Truppen schlugen ihn blutig nieder. 20 000 Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen unbeteiligte Zivilisten.

Unterschiedliche Kulturen der Gewalt?


Geht man von den Zahlen aus, so waren Kriegsgefangene die größte Opfergruppe irregulärer Gewalt. Laut Haager Landkriegsordnung von 1907 hatten die Kriegsparteien ihre Gefangenen "menschlich" zu behandeln. Zwischen 6,6 und acht Millionen Soldaten gerieten zwischen 1914 und 1918 in Gefangenschaft. Niemand war auf ein solches Massenphänomen vorbereitet, und insbesondere die Mittelmächte und Russland hatten aufgrund der schwierigen Ernährungslage erhebliche Probleme, ihre riesigen Gefangenenheere zu versorgen. Knapp 136000 Gefangene starben in deutschem Gewahrsam, 650 000 in russischen und 400 000 in österreichisch-ungarischen Lagern.

Die Todeszahlen bei den anderen Gewahrsamsmächten lagen deutlich niedriger. Ob dies primär an den viel kleineren Kontingenten sowie der allgemein deutlich besseren Versorgungslage in Großbritannien und Frankreich lag oder aber an einer anderen Gewaltbereitschaft, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Niemand wird glauben, dass die Armeen des Ersten Weltkrieges kulturell identisch waren. Es gab denkbar unterschiedliche Traditionen, Wertesysteme, Strukturen und Wahrnehmungsmuster. Doch erklären diese unterschiedlichen Kulturen auch die Gewaltentwicklung? Brachten die deutschen Soldaten belgische Zivilisten um, weil sie in der preußischen Armee zu besonderer Härte erzogen worden waren? Starben so viele Gefangene in Russland, weil es dort eine außergewöhnliche Gewaltkultur gab? Und töteten Briten und Franzosen deswegen weniger Gefangene, weil ihre Armeen zivilisierter oder zumindest weit mehr als anderswo der zivilen Kontrolle unterworfen waren? Kämpften also letztlich die "Guten" gegen die "Bösen"?

Der Vergleich der Mittelmächte mit der Entente wird freilich schon deshalb erschwert, weil sich deren Streitkräfte in sehr unterschiedlichen Situationen befanden: Frankreich und Großbritannien waren nie Besatzungsmächte und hatten auch keine Versorgungsengpässe zu beklagen.

Bezieht man zumindest ansatzweise vergleichbare Rahmenbedingungen mit ein, so erscheinen die Gewaltausbrüche im Ersten Weltkrieg – mit Ausnahme des Genozides an den Armeniern – ähnlich. Panikhafte Reaktionen auf das Auftreten von Guerillakämpfern gab es überall dort, wo ein schneller Bewegungskrieg geführt wurde, Massensterben von Kriegsgefangenen, wo die Verwaltung unterentwickelt und die Versorgungslage schlecht war, Ermordung von Zivilisten insbesondere dort, wo es reale oder vermeintliche Aufstände gegen Besatzungsmächte gab. Und vor allem trifft man auf etwas, das trotz aller Radikalität später im Zweiten Weltkrieg gerade auf deutscher Seite vielfach fehlte: das Moment der Mäßigung. Nach Protesten im In- und Ausland wurden die 60 000 ins Reich verschleppten belgischen Zwangsarbeiter 1917 zurückgeschickt. Und nach Gewaltausbrüchen bei der Aufstandsbekämpfung in der Ukraine mäßigten sich deutsche Truppen im Kampf gegen die Bolschewiki 1918 spürbar, nachdem sie noch im Juni in Taganrog über 1500 Gefangene exekutiert hatten.

Die in der britischen und amerikanischen Forschung diskutierte These der besonders brutalen deutschen Gewaltkultur, die im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 ihren Ausgang nahm und sich dann im Ersten Weltkrieg voll entfaltete, erscheint allzu verkürzt, da sie sich lediglich radikale Beispiele herausnimmt und zu wenig international vergleichend arbeitet. Spürt man nationalen Gewaltkulturen nach, so lohnt sich durchaus ein Blick über den Ersten Weltkrieg hinaus. Der von den Briten überaus hart geführte Buren-Krieg 1899 bis 1902 oder die wenig bekannte Aufstandsbekämpfung im Irak 1920 lassen etwa die Vorstellung einer prinzipiell gemäßigten britischen Militärmacht fragwürdig erscheinen. Letztlich verhielten sich die Briten im Irak 1920 ähnlich wie die Deutschen in der Ukraine 1918. Gewiss gibt es nationale Spezifika hinsichtlich der Formen, der Massivität und der Kontrolle militärischer Gewaltanwendung. Insgesamt überwogen zur Zeit des Ersten Weltkrieges aber die Gemeinsamkeiten.

Eine Vielzahl von soziologischen, sozialpsychologischen und historischen Studien hat verdeutlicht, dass es keine einfachen Erklärungen für Kriegsverbrechen gibt, "Gut" und "Böse" keine analytischen Untersuchungskategorien sind. Es gilt vielmehr, die komplexe Wechselwirkung persönlicher Dispositionen von Soldaten mit der Befehlslage und den spezifischen Situationen zu analysieren, in denen die Gewaltveranlagungen überhaupt zum Tragen kamen. Zweifellos gab es in den Armeen des Ersten Weltkrieges unterschiedliche Sitten und Gebräuche und auch wechselnde Befehlslagen, etwa darüber, wie mit realen oder vermeintlichen Guerillakämpfern zu verfahren sei. Und dennoch scheint der wirkungsmächtigste Faktor die konkrete Situation gewesen zu sein, in der Armeen und Soldaten unterschiedlicher Kulturen dann sehr ähnlich – nämlich meist gewaltsam – reagierten.

Kriegsverbrechen waren nicht das primäre Merkmal des Ersten Weltkrieges. Dies war vielmehr der industrialisierte Massenkrieg in den Schützengräben. Die tagelange Kanonade von über tausend Geschützen, die jeden Flecken Erde in eine leblose Mondlandschaft verwandelten, die Sturmangriffe zehntausender Soldaten, die von Maschinengewehren niedergemäht wurden – diese Szenarien prägten das eigentliche Schreckensbild des Ersten Weltkrieges.

Radikalisierung der Gewalt im Zweiten Weltkrieg


Der Zweite Weltkrieg war anders. Die Verbrechen bildeten die eigentliche Signatur dieses Krieges. Zuallererst ist hier der Holocaust zu nennen, über den im nächsten Kapitel mehr zu erfahren sein wird, aber auch der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen und die Tötung hunderttausender Zivilisten im Partisanenkampf – vor allem in Weißrussland und im Norden Chinas. Die Massaker an der Zivilbevölkerung in Nanking, Singapur, Manila oder Warschau gingen weit über das Ausmaß der Massengewalt im Ersten Weltkrieg hinaus.

Staatliche Mordbefehle, allen voran die der Deutschen, schufen einen neuen kriminellen Rahmen, und die erbitterten Kämpfe ideologischer Todfeinde taten das ihre zur Radikalisierung. "Es herrschen Sitten und Gebräuche wie im 30-jährigen Krieg", schrieb der deutsche General Gotthard Heinrici am 12. September 1941 unter dem Eindruck alltäglichen Sterbens und Mordens in sein Tagebuch. Und dies war mitnichten nur an der Ostfront so. Im Pazifik führten japanische und US-amerikanische Truppen einen gnadenlosen Kampf, in dem auf beiden Seiten kein Pardon gegeben wurde.

Und nicht zuletzt ist die neue Dimension sexueller Gewalt zu erwähnen. Zahlreiche Vergewaltigungen gab es auch im Ersten Weltkrieg, vor allem an der Ostfront und auf dem Balkan. Im Zweiten Weltkrieg spielte die sexuelle Gewalt gegen Frauen aber eine viel größere Rolle als bislang vermutet – und dies betraf alle Armeen, auch die Wehrmacht. Die japanische Armee richtete eine Vielzahl von Bordellen ein, in denen Hunderttausende koreanische und chinesische Frauen vergewaltigt wurden. Die Gewalt der Roten Armee gegenüber Frauen in Deutschland, aber auch in Polen oder Ungarn 1944/45 ging noch darüber hinaus. Heute schätzt man, dass rund zwei Millionen deutsche Frauen vergewaltigt wurden.

QuellentextEntgrenzte Gewalt

"General Patton made it very plain over there that we were to kill the enemy wherever we found him", remembered Captain Howard Cry of the divisions 180th Regimental Combat Team. "He said to kill and to continue to kill and that the more we kill the less we’d have to kill later and the better off the Division would be in the long run. […] He did say that the more prisoners we took the more men we’d have to feed and not to fool around with prisoners. He said that there was only one good German and that was a dead one."
Zit. nach: Stanley Hirshon, General Patton. A Soldier’s Life, New York 2002, Seite 2

“They [German soldiers] finally surrendered, and they came out and were lined up, and per usual no one knew what was going on. It was confusion. [The battalion commander] lined them up and said ‘I want you to shoot ‘em’. And I was horrified. Quite a few of us were horrified. And I went to him and told him, you know, that this was against all international law and humanity. Then my good buddy grabbed me and said, ‘This nut’ll shoot you. You better quit. Knock this off’.
A hastily assembled party of Americans led some twenty-five Germans into a snowy-field out of sight of the enemy in the woods beyond the village and shot them.”
Afterwards Miller wondered what could have made a commander order such a thing.
“I’ve rationalized that the Germans had massacred a group of Americans at Malmedy and maybe he’d gotten wind of this or something. But it was a terrible thing to see, and I talked to a lot of my buddies who had shot these guys, and they were horrified, too, after it happened.
You can’t comprehend doing that under any circumstances. But you know, people do change in war. When you’ve seen people killed every day and people maimed every day, pretty soon you become hardened, very hardened. I once stayed in a hole for an hour and a half or something like that – it seemed like that, anyway – with a dead German. And it’s kind of an eerie feeling. But you were so worried, really, about yourself that you didn’t think too much about it. I remember I was not affected when a good friend of mine was killed and run over by a tank, and it was an awful horror, and I was shocked that it didn’t bother me very much. But about a week after the war ended, I saw an automobile accident and I got sick, as I normally would have before the war. I went from being terribly, terribly tough to being normal.”

Erinnerungen des Private Burnett Miller, in: Geoffrey C. Ward / Ken Burns, The War. An Intimate History 1941-1945, Knopf Verlag / Random House, New York 2007, Seite 331 f.

Erklärungsansätze für den Radikalisierungsschub


Wie lässt sich die Gewalteruption des Zweiten Weltkrieges erklären? Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg dafür verantwortlich gemacht. Die Soldaten seien durch die jahrelange Erfahrung des Kämpfens, Tötens und Sterbens brutalisiert worden.

Mittlerweile ist die Wissenschaft solchen Interpretationen gegenüber zurückhaltender. Der eigentliche Radikalisierungsschub erfolgte etwa in Deutschland vielmehr durch den traumatischen Umstand der Niederlage und der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe nach dem Waffenstillstand. So weiß man mittlerweile, dass Adolf Hitler seine Hinwendung zum radikalen Antisemitismus erst 1919/20 in München vollzog. Aber nicht nur in Deutschland gab es mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes kein Ende der Gewalt. Auch Italien versank im Chaos, und der brutale Kampf zwischen Links und Rechts endete im Oktober 1922 mit der Machtübernahme der Faschisten Benito Mussolinis.

Noch extremer war die Situation in Russland, wo die Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917 in einen jahrelangen Bürgerkrieg mündete, der erst 1922 endete. Er kostete rund acht bis zehn Millionen Menschen das Leben und war damit beinahe so verlustreich wie der gesamte Erste Weltkrieg. Die von Stalin etablierte Gewaltherrschaft führte dann zu einer ungeahnten Radikalisierung des gesellschaftlichen Lebens. Die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die Enteignung der Bauern und ihr Zusammenschluss in Produktionsgenossenschaften Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre, forderte drei bis sieben Millionen Todesopfer. Die "Große Säuberung", die Verfolgung vorgeblicher Feinde Stalins 1937/38, kostete 200 000 Menschen das Leben (siehe auch Seite 60).

In anderen Ländern ging es bei weitem nicht so gewalttätig zu. Aber es kam doch vielerorts zu einer Verschärfung der innenpolitischen Verhältnisse. Autokratische Staatsformen setzen sich in Spanien, Albanien, Portugal, Polen und Litauen durch. Schließlich folgten Jugoslawien, Griechenland, Rumänien und spätestens ab 1932 Deutschland und 1934 Österreich. Außerhalb Europas ist vor allem an Argentinien und Japan zu denken. Die 1919/21 geschaffene Friedensordnung hat den Hass der Völker aufeinander nur noch weiter geschürt: so etwa den der Deutschen auf die Polen und Tschechen und umgekehrt, der Polen auf die Russen, der Ungarn auf die Rumänen und der Italiener auf die Kroaten. Zur Durchsetzung des vermeintlichen Rechts schien Gewalt das gebotene Mittel zu sein, solange man nur sein Ziel erreichte. Der Stärkere würde sich sein Recht schon nehmen, von Schiedsgerichtsbarkeit und Ausgleich wollten immer weniger politische Kräfte etwas wissen, weil sie keine brauchbaren Lösungen hervorbrachten. Gewalt war als Mittel der Politik in einem Ausmaß akzeptiert, wie dies noch im 19. Jahrhundert unvorstellbar erschien.

QuellentextEin Erlass des Oberbefehlshabers des Heeres

Abschrift
An A.O.K.3
Zur Bekanntgabe an alle unterstellten Truppen
Mit richterlicher Untersuchung der Vorgänge in Bromberg beauftragte Oberkriegsgerichtsrat meldet:
Am Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Bromberg, der am Montag, dem 4.9.39 stattfand, also am 3.9.39, wurden in der Zeit zwischen 12.00 Uhr vorm. und etwa 15.00 Uhr nachm. die Wohnungen der Volksdeutschen von polnischem Militär durchsucht. Als Grund der Durchsuchung wurde stets angegeben: Es sei aus dem Haus auf poln. Soldaten geschossen worden, oder das Haus solle nach Waffen durchsucht werden. In sehr vielen Fällen fand die Durchsuchung ausschließlich durch poln. Soldaten statt, in anderen Fällen beteiligten sich neben den Soldaten auch die poln. Eisenbahner der französischen Bahn, halbwüchsige Bengel und sonstiges übles Volk. Bei den Haussuchungen wurde zunächst von den Soldaten und dem Mob sämtliches Geld und die Wertsachen gestohlen, die Wohnungen auch sonst ausgeplündert und völlig verwüstet. Die Männer der Familien, von 13- oder gar 10-jährigen Jungen bis zum 70- oder 80-jährigen Greis, wurden in fast allen Fällen in viehischer Weise umgebracht. Nur in wenigen Fällen begnügte man sich mit dem einfachen Abschießen. Zumeist wurden die ermordeten mit Brechstangen, Seitengewehren, Gewehrkolben, Knüppeln derart zusammengeschlagen, daß ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden. Es wurden Leichen vorgefunden, denen Oberschädeldecke und Gehirn fehlten, denen das Gesicht gänzlich nach innen geschlagen war, denen die Augen mit Seitengewehren ausgestochen waren, denen mit Seitengewehren der Leib aufgestochen war, denen die Zunge abgeschnitten oder herausgerissen war, denen Herz und in einem Fall auch die Lunge herausgenommen war. Ich vernahm Zeugen, die bekundeten, daß sie ein Mädchen mit gespaltenem Schädel und abgeschnittenen Fingern gesehen hätten.

Ich selbst sah angekohlte, z. T. verbrannte Leichen ermordeter Volksdeutscher. In vielen Fällen mußten die Volksdeutschen die Ermordung ihrer Väter, Brüder mit ansehen, ohne ihnen wenn sie verletzt nicht gleich tot waren, Hilfe bringen zu dürfen. Da wurden sie noch von den Soldaten und vom Pöbel verhöhnt. In all diesen Fällen mußten sie die Ermordung der Angehörigen ansehen, um dann selbst als nächstes Opfer erschlagen oder erschossen zu werden. Es handelt sich nach dem Ergebnis der Ermittlung offensichtlich um ein systematisches Vorgehen des poln. Militärs mit dem Ziele, sämtliche volksdeutschen Männer zu beseitigen.
Die an den Schandtaten von Bromberg beteiligten polnischen Truppen sind im Raum Kutno – Warschau – Modlin – Plock eingeschlossen. Den gegen sie angesetzten deutschen Truppen ist das Verhalten der poln. Wehrmacht gegen wehrlose Volksdeutsche bekanntzugeben.
Ein solcher Feind ist jeder Niedertracht fähig und verdient keine Schonung.

gez. von Brauchitsch
Infanterie – Regiment 48
22. Sept. 1939
II. Bataillon
Abschrift zur Kenntnis und Bekanntgabe.
Vom II. Btl. sind keine Gefangenen zu machen.
Verteiler A. B.
je Zug 1 Abdruck.
(handschriftliche Unterschrift)
Oberleutnant und Adjutant

Quelle: privat

Kriegführung Deutschlands


Das Fatale war, dass sich in Deutschland Hitler mit seinen radikalen Vorstellungen politisch durchsetzen konnte. Ab 1933 fielen schrittweise alle Grenzen. Die massive Gewalt gegen Kommunisten und Sozialdemokraten sowie der Ausschluss aller vermeintlichen Feinde aus der "Volksgemeinschaft", allen voran der jüdischen Deutschen, verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Wahrnehmung von "Normal" und "Nicht-normal" verschob sich. Die deutschen Soldaten des Jahres 1914 zogen mit einem anderen Referenzrahmen in den Krieg als ihre Söhne im Jahr 1939. Die Haltung gegenüber Juden verdeutlicht dies. Die jüdischen Deutschen waren während des Ersten Weltkrieges trotz aller Diskriminierungen Teil der soldatischen Gemeinschaft. 1939 gab es keine jüdischen Deutschen in der Wehrmacht, und es hat sie auch schon in der Reichswehr praktisch nicht gegeben. Juden waren 1939 "Andere", und dies ist eine Erklärung, warum es schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges auch von "ganz normalen" Wehrmachtsoldaten zu weit mehr Übergriffen auf Juden kam als im Ersten.

QuellentextDer deutsche Blick auf Warschau 1942

[...] Der offizielle Soldaten-Führer von 1942, der […] eine Auflage von mehreren 10.000 Stück erreichte, widmet der Zeit von der Gründung Warschaus bis 1939 ebenso viele Seiten wie der Beschreibung der Kampfhandlungen im September 1939. Die Darstellung ist nicht von Sympathie für die ehemalige polnische Kapitale geprägt: "Eine besonders sehenswerte Stadt im üblichen Sinne ist Warschau nicht. [...] Ja, es ist nicht einmal ein schönes Stadtbild vorhanden, das unser Auge erfreut." Bereits die Einführung macht deutlich, dass das Büchlein vor allem darauf abzielte, Besuchern eine angebliche deutsche Vergangenheit des eroberten Gebiets vor Augen zu führen […]. […]

Was der Besucher mit eigenem Auge erkennen könne, zeige bereits die Geschichte Warschaus, in der immer wieder "der Kampf zwischen Lebenswillen und Lebensuntüchtigkeit deutlich hervor[trete]" – also beispielsweise durch den "starken Zuzug deutscher Kaufleute, Edelhandwerker, Architekten, Ärzte, Künstler im 16. bis 18. Jahrhundert", die mit dem "kulturell zurückgebliebenen polnischen Kleinbürgertum" konkurrieren mussten: "Ihnen hauptsächlich ist der schnelle Aufstieg Warschaus aus seinem mittelalterlichen Kleinstadtsein zur kulturellen Keimzelle des polnischen Staates zu danken, und an ihr Wirken erinnern besonders augenfällig die Bauten, die heute den Alten Markt umzäunen. Neben Deutschen waren an dieser Leistung auch Italiener beteiligt." Großzügig billigt diese Interpretation sogar dem verbündeten Achsenpartner einen Anteil an der Stadtgeschichte zu – ohne allerdings im Weiteren zu erwähnen, warum Warschau wieder polnisch und der deutsche Einfluss zurückgedrängt wurde.

Es passt zu dieser verqueren Sicht auf die Geschichte, dass Baumeister oder Künstler, die in der Stadt gearbeitet hatten, nur erwähnt werden, wenn sie Deutsche waren – oder zumindest deutsche Namen hatten. Treten schon die Polen als Akteure in Warschau stark zurück, so gilt das noch viel mehr für die jüdische Bevölkerung der Stadt. Das Ghetto mit fast einer halben Million Insassen, das beim Erscheinen des Soldaten-Führers einen der touristischen Höhepunkte jeder Besichtigung der Metropole durch Deutsche darstellte, wird nur an einer Stelle kurz erwähnt, und zwar als "Seuchensperrgebiet, das im Jahre 1940 von der Stadtverwaltung zum Schutze der Großstadtbevölkerung angelegt worden ist". Mit dieser Formulierung wurde nicht nur die scheinbare Notwendigkeit begründet, die Juden abzusondern, sondern das deutsche Vorgehen auch noch als logisch und sinnvoll legitimiert. Es passt zu dieser Sichtweise, dass die Aleje Jerozolimskie [Jerusalemer Alleen] – die während des Kriegs Bahnhofstraße hießen – als ein "Beweis" für frühere vergebliche Versuche, "die Juden aus dem allgemeinen Stadtbild auszuscheiden", instrumentalisiert wurden. [...]

Der deutsche Blick auf Warschau 1917

[…] Ein Soldaten-Führer, der bis 1917 alleine vier Auflagen erlebte, liefert eine halbwegs nüchterne geschichtliche Einführung. Betont wird darin allerdings, dass "die russische Regierung darauf bedacht [gewesen sei], die mehr oder weniger ausgeprägte Selbständigkeit Polens zu beschneiden oder ganz zu vernichten". Damit hebt das schmale Büchlein die Selbstinszenierung der Mittelmächte als Befreier vom zaristischen Joch hervor, weist aber auch darauf hin, dass die Polen kein sehr ruhiges Volk seien und stets die Freiheit gesucht hätten. Die Legitimierung der eigenen Besatzung geschah also durch eine Delegitimation der russischen Fremdherrschaft. Immer wieder zielt der Führer darauf ab, wie sehr der Kriegsgegner der Stadt geschadet habe, so etwa, weil er den Bau eines Zentralbahnhofs verweigerte oder die Stadt nicht verschönern wollte.

Gleichzeitig ist aber die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten betont neutral. Zwar gäbe es einerseits kaum bemerkenswerte Denkmäler, aber nicht wenige der "sehr zahlreichen" Kirchen seien wertvoll. Die 1877 erbaute Synagoge wird besonders hervorgehoben, weil sie eine "wertvolle Bibliothek" enthalte. Auch Warschaus Parks finden lobende Erwähnung: "Der Zauber des Lazienki ist groß." Deutsche Kultur wird nur insofern betont, als die eigenen Ingenieure die 1915 zerstörten Brücken wiederhergestellt hatten – ansonsten referiert der Wegweiser die polnisch-sächsische Geschichte, aber nicht in bemerkenswerter Ausführlichkeit. Ein wesentlicher Unterschied zu dem Werk von 1942 besteht darin, dass im Ersten Weltkrieg keine Separation der Besatzer von den Besetzten gesucht wurde. 1917 waren die von Polen betriebenen Cafés und Gasthäuser daher benutzbar, es gab keine Sperrzone, dafür aber gezielte Empfehlungen, die auch für die Warschauer Theater, die Oper und die Philharmonie ausgesprochen wurden. [...]

Stephan Lehnstaedt, Mit Führer in Warschau. Deutsche Reiseliteratur aus zwei Weltkriegen, in: Ruth Leiserowitz / Stephan Lehnstaedt / Joanna Nalewajko-Kulikov / Grzegorz Krzywiec (Hg.), Lesestunde – Lekcja czytania, Deutsches Historisches Institut Warschau 2013, Seite 185 ff.

Der Polenfeldzug 1939 zeigt, wie sehr sich der Referenzrahmen mittlerweile verschoben hatte. Zunächst forderte eine Freischärlerpsychose, jener im Belgien oder Ostpreußen des Jahres 1914 nicht unähnlich, etwa 7000 Todesopfer. Daneben hatte sich aber in der Zwischenkriegszeit unter dem Eindruck der Abtrennung Ostpreußens vom Reich und der Behandlung der deutschen Minderheit in Polen ein Hass aufgestaut, der durch die Ermordung einer niedrigen vierstelligen Zahl von Volksdeutschen in den ersten Kriegstagen weiter angestachelt wurde. In der Folge kam es zu zahlreichen Gewaltausbrüchen gegen gefangene polnische Soldaten und Zivilisten. Diese Gewalteruption überstieg deutlich das Ausmaß des Ersten Weltkrieges, und auch im weiteren Verlauf des Krieges war die Bereitschaft der Wehrmacht, etwa gegen polnische Partisanen mit äußerster Härte vorzugehen, viel ausgeprägter als in den Jahren 1915/18. In dieser Zeit war Polen von den deutschen Soldaten noch als Kulturland wahrgenommen worden. All dies gab es im Zweiten Weltkrieg von Anfang an nicht mehr. SS-Einheiten töteten bis Ende 1939 40 000 Polen, darunter 7000 Juden, meist Angehörige der polnischen Gesellschaftseliten – Ärzte, Rechtsanwälte, Priester und Politiker. Diese Massenmorde führten zwar zu Protesten auf Seiten der Wehrmacht. Doch auch in ihren Reihen gab es genug Soldaten, die sich an den Gewaltmaßnahmen beteiligten oder diese zumindest stillschweigend akzeptierten.

Hitler war entschlossen, einen radikalen Krieg zu führen. Und dabei war er nicht allein. Viele Wehrmachtangehörige griffen die Anregungen Hitlers willig auf, um vor allem in der Sowjetunion einen Feldzug zu führen, in dem jede Gewaltmaßnahme recht war, wenn sie nur zum eigenen Sieg führte. Die Dispositionen und die Befehle – zwei wesentliche Voraussetzungen für Verbrechen – hatten sich im Vorfeld des Angriffs auf die Sowjetunion massiv verschärft. Auch Stalin und die Rote Armee waren entschlossen, einen radikalen Krieg zu führen, sodass sich die Gewaltbereitschaft der Kontrahenten gegenseitig verstärkte. Das Zusammenwirken von rassistisch, ideologisch und kulturell geprägten Feindbildern mit außerordentlich verlustreichen Gefechten führte im Übrigen auch im Pazifik zu zahllosen Verbrechen auf beiden Seiten.Dennoch war auch der Zweite Weltkrieg in seinen Kriegsmethoden nicht überall und ständig total. So brutal die Deutschen etwa über das besetzte Polen herrschten, so vergleichsweise fair behandelten sie zur selben Zeit die 700 000 polnischen Kriegsgefangenen – im Übrigen auch die Juden unter ihnen, die fast ausnahmslos überlebten. Der Krieg zwischen Deutschen und Westalliierten wurde zu Lande und zu Wasser im Wesentlichen nicht brutaler geführt als im Ersten Weltkrieg, und auch an der Ostfront gab es Phasen, in denen man zu zivilisierteren Formen des Krieges zurückfand.

QuellentextDer Kriegsgerichtsbarkeitserlass

Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht.
Führerhauptquartier, d. 13. Mai 1941.
Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet "Barbarossa" und über besondere Massnahmen der Truppe.
[…] [Für] […] den Raum "Barbarossa" (Operationsgebiet, rückwärtiges Heeresgebiet und Gebiet der politischen Verwaltung) [wird] folgendes bestimmt:
I. Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen.

  • 1. […]

  • 2. Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen.

  • 3. Auch alle anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht, ihre Angehörigen und das Gefolge sind von der Truppe auf der Stelle mit den äussersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niederzukämpfen.

  • 4. Wo Massnahmen dieser Art versäumt wurden oder zunächst nicht möglich waren, werden tatverdächtige Elemente sogleich einem Offizier vorgeführt. Dieser entscheidet, ob sie zu erschiessen sind. Gegen Ortschaften, aus denen die Wehrmacht hinterlistig oder heimtückisch angegriffen wurde, werden unverzüglich […] kollektive Gewaltmassnahmen durchgeführt, wenn die Umstände eine rasche Feststellung einzelner Täter nicht gestatten.

  • 5. Es wird ausdrücklich verboten, verdächtige Täter zu verwahren, um sie bei Wiedereinführung der Gerichtsbarkeit über Landeseinwohner an die Gerichte abzugeben.

  • 6. […]

II. Behandlung der Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner.

  • 1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.

  • 2. […]

  • 3. Der Gerichtsherr prüft […], ob […] eine disziplinare Ahndung angezeigt oder ob ein gerichtliches Einschreiten notwendig ist. Der Gerichtsherr ordnet die Verfolgung von Taten gegen Landeseinwohner im kriegsgerichtlichen Verfahren nur dann an, wenn es die Aufrechterhaltung der Mannszucht oder die Sicherung der Truppe erfordert. […]

  • 4. […]
    […]

Im Auftrage
Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht
gez. Keitel

Hier nach: Bundesarchiv-Militärarchiv (BArch MA), RW 4/v. 577, Bl. 72-74

Abschied vom Mythos des "guten Krieges"



Die finale Stufe des Totalen Krieges, der atomare Schlagabtausch von NATO und Warschauer Pakt, blieb der Menschheit glücklicherweise erspart. Zu Recht kann man aber darauf verweisen, dass es in den Kriegen nach 1945 teilweise noch wüster zuging als in den Jahren 1939 bis 1945. Der Bombenkrieg der US Air Force im Korea-Krieg stellte auch den Zweiten Weltkrieg in den Schatten. Der Norden des Landes wurde in Schutt und Asche gelegt, mehr als eine Million Zivilisten wurden getötet. Vom Mythos des "guten Krieges" der Demokratien blieb nicht viel übrig. Massaker an der Zivilbevölkerung, die Tötung von Kriegsgefangenen, die Ausplünderung ganzer Landstriche kamen in den zahllosen Kriegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder vor. Es gab auch Völkermorde, Hungerpolitik und Vertreibungen. Und dennoch: In keinem anderen Konflikt wurden mehr Menschen mobilisiert, radikalere Ziele verfolgt und mehr Verbrechen begangen als im Zweiten Weltkrieg. Niemals zuvor und niemals seither hat die Menschheit einen so totalen Krieg geführt.

Sönke Neitzel ist Professor für International History an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er studierte in Mainz Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaft, wurde dort 1994 promoviert und 1998 habilitiert. Anschließend lehrte er an den Universitäten Mainz, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken, bevor er 2011 auf den Lehrstuhl für Modern History an der University of Glasgow berufen wurde. Seit September 2012 lehrt und forscht er an der LSE.
Einem breiteren Publikum wurde er durch sein Buch "Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft, 1942-1945" bekannt, das 2005 erschien.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Militärgeschichte und die Geschichte der Internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Kontakt: E-Mail Link: s.neitzel@lse.ac.uk