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Völkermord | Zeitalter der Weltkriege | bpb.de

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Völkermord

Sönke Neitzel

/ 10 Minuten zu lesen

Kriege senken die Hemmschwelle für Gewaltaktionen gegen missliebige oder als feindlich eingestufte Bevölkerungs- gruppen und ebnen den Weg zu "ethnischen Säuberungen". Der Zweite Weltkrieg ist eine wichtige Voraussetzung für die Radikalisierung der NS-Führung, die sehr bald dazu entschlossen ist, alle europäischen Juden zu ermorden.

Mit Beginn des Krieges münden die Bestrebungen, "die Judenfrage zu lösen", in Deportationen in die von den Deutschen besetzten Gebiete im Osten. Hanauer Bürger, die zur Kennzeichnung auf ihrer Kleidung den "Judenstern" tragen müssen, besteigen 1942 unter polizeilicher Bewachung einen Zug nach Theresienstadt. (© akg-images)

Ein Jahrhundert der Gewalt, so wird das 20. gemeinhin bezeichnet. Zu dieser Zuschreibung kam es nicht nur aufgrund des Sterbens auf den Schlachtfeldern, sondern vor allem wegen der Völkermorde: dem Genozid an den Juden, aber auch dem Völkermord im Osmanischen Reich 1915/16, in Kambodscha 1975-1978 und in Ruanda 1994, um hier nur die bekanntesten zu nennen.

Massenmorde sind gewiss keine Besonderheit des 20. Jahrhunderts, man denke nur an die Ausrottungsfeldzüge der Assyrer (im 9. und 7. Jahrhundert v. Christus im heutigen Nahen Osten) oder die Massenmorde der Kreuzfahrer im Mittelalter. In der Moderne veränderten sich gleichwohl der Charakter und der Rahmen der Gewalt grundlegend. Einerseits führten neue Technologien, bürokratische Rationalität, massenmediale Propaganda und radikale Ideologien zu komplexen Planungs- und Organisationsprozessen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Völkermorde – nun meist staatliche Verbrechen – erreichten auch deshalb eine neue quantitative Dimension. Andererseits gab es seit dem 19. Jahrhundert den Versuch, Massengewalt durch verbindliche Rechtsnormen einzugrenzen. Über den Erfolg kann man streiten, gleichwohl veränderte sich dadurch zumindest die Bewertung von Verbrechen. Massenmorde galten nunmehr als elementare Verstöße gegen die internationale Rechtsordnung.

Um den neuen Charakter der Massengewalt zu beschreiben, prägte der Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin 1944 den Begriff "Genozid", den er aus dem griechischen Wort génos (griech. für "Geschlecht") und dem lateinischen caedere (töten) zusammensetzte. Er bezog sich dabei vor allem auf die Ermordung der europäischen Juden. Allerdings konnte sich die Forschung bislang nicht darauf einigen, was unter einem "Genozid" genau zu verstehen ist. Auch die UN-Konvention von 1948 "on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide" lieferte keinen brauchbaren analytischen Begriff, da es sich bei der ihr zugrundeliegenden Definition um einen politisch motivierten Kompromiss der Großmächte handelte, der etwa bestimmte Formen kolonialer Gewalt oder die Massenmorde in der Sowjetunion bewusst ausklammerte. Die Exzesse der Gewalt sind selbst im 20. Jahrhundert so unterschiedlich, dass es wenig sinnvoll erscheint, sie unter einem Begriff zu subsumieren. Man denke etwa an die Niederschlagung des Herero-Aufstandes 1904/05 im damaligen Deutsch-Südwestafrika, die Kollektivierung der ukrainischen Bauern 1929-33, die Massenexekutionen von Republikanern durch die Anhänger General Francos im spanischen Bürgerkrieg (1936-39), die "killing fields" der Roten Khmer in Kambodscha (1975-78) oder die Ermordung von 800 000 Menschen, überwiegend Tutsi, in Ruanda 1994. Jenseits der Fragen um Begriffe und Vergleiche geht es im Folgenden um die Analyse von zwei Phänomenen der Massengewalt, denen im Zeitalter der Weltkriege eine besondere Bedeutung zukommt.

Die Vertreibung und Ermordung der Armenier


Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es im Osmanischen Reich zu gewaltsamen Spannungen zwischen den muslimischen Türken und den christlichen Armeniern, die vor allem in Ostanatolien an der Grenze zu Russland und Persien siedelten. Seit dem Berliner Kongress 1878 war die "Armenische Frage" ein Thema auch auf der Bühne der internationalen Politik. Nachdem 1894/96 und 1909 rund 200 000 Armenier in Pogromen ermordet worden waren, erzwangen die Großmächte unter Führung Russlands schließlich ein Reformprogramm, das den Armeniern eine begrenzte Autonomie im Osten des Osmanischen Reiches gewähren sollte.

Der Erste Weltkrieg stoppte diese Pläne und führte dann zur entscheidenden Radikalisierung der türkischen Armenierpolitik. Sie wurde bestimmt von den Jungtürken, einer nationalistisch-reformistischen Gruppierung, die zwischen 1908 und 1918 die führende politische Kraft im Osmanischen Staat war. Das nationalistische Motiv, die Vorherrschaft der Türken in dem osmanischen Vielvölkerstaat mit allen Mitteln durchzusetzen, verband sich mit der aus der Kriegssituation geborenen Auffassung, dass die an der Grenze zu Russland siedelnden Armenier ein Sicherheitsrisiko seien. Dies war insofern nicht ganz falsch, als diese nach mehr Autonomie strebten, im Zuge der türkisch-russischen Grenzkämpfe 1914/15 in der Tat mit dem Zarenreich sympathisierten und in wenigen Fällen auch die Truppen des Zaren unterstützt hatten. In Konstantinopel wurden bereits kurz nach dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg am 5. November 1914 die armenischen Staatsbediensteten entlassen. Nachdem die türkischen Offensiven unter hohen Verlusten abgewehrt waren und russische Einheiten ihrerseits in den äußersten Osten des Osmanischen Reiches vordrangen, rebellierten armenische Deserteure, deren Widerstand brutal niedergeschlagen wurde.

Dies war ein willkommener Vorwand, um die in der jungtürkischen Führung lange Zeit vorgedachte ethnische Säuberung Ostanatoliens umzusetzen. In der Nacht vom 24./25. April 1915 begann eine Verhaftungswelle, die zunächst armenische Intellektuelle in Konstantinopel betraf. Einen Monat später wurde die Deportation der Armenier aus ihren seit Jahrhunderten angestammten Siedlungsgebieten in die syrische Wüste angeordnet. Hunderttausende starben entweder auf den Märschen oder aber in gezielten Massakern vor Ort, denen vor allem die Männer zum Opfer fielen.

Die wichtigsten Kollaborateure des jungtürkischen Regimes, das von 1913 bis 1918 diktatorisch herrschte, waren die örtlichen kurdischen Stämme. Religiöse Motive standen dabei wohl nicht im Vordergrund, sondern eine Mischung aus Befehlen, Aussicht auf Beute und Straffreiheit bei der Ausübung von jedweden Grausamkeiten. Die Intention Konstantinopels war es, die Armenier zu dezimieren, aber wohl nicht, sie vollständig auszulöschen, so wie es Hitler mit den europäischen Juden vorhatte. Von offizieller türkischer Seite wird der Genozid bis heute bestritten. Die Deportationen werden mit der militärischen Notwendigkeit begründet, eine staatsfeindliche Bevölkerungsgruppe aus dem Frontgebiet zu evakuieren. Die Opferzahl wird mit 150 000 angegeben. Schätzungen westlicher Wissenschaftler gehen von bis zu 1,5 Millionen Toten aus.

QuellentextEin Brief und eine Reaktion

Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht
Nr. 711
Pera, den 7. Dezember 1915

Antwort auf Erlass No. 857, Erlass No. 855 und Telegramm No. 2401.
Ich habe die Armeniergreuel im Laufe der letzten Woche mit Enver Pascha, mit Halil Bey und heute mit Djemal Pascha ernstlich besprochen und darauf hingewiesen, dass Unruhe und Empörung auch im befreundeten Ausland und in Deutschland weite Kreise ergriffen habe und der türkischen Regierung schliesslich alle Sympathien entziehen würde, wenn nicht Einhalt geschehe. Enver Pascha und Halil Bey behaupten, dass keine ferneren Deportationen – insbesondere nicht aus Konstantinopel – beabsichtigt seien. Sie verschanzen sich hinter Kriegsnotwendigkeiten, dass Aufrührer bestraft werden müssten, und gehen der Anklage aus dem Wege, dass Hunderttausende von Frauen, Kindern und Greisen ins Elend gestossen werden und umkommen. Djemal Pascha sagt, dass die ursprünglichen Anordnungen notwendig gewesen seien, ihre Ausführung aber schlecht organisiert worden sei. Er leugnet nicht, dass infolgedessen traurige Zustände herrschten, die er durch Zuführung von Lebensmitteln und Geld zu lindern bestrebt sei. Es ist dies richtig. Seine Etappenstrasse bei Aleppo ist infolge des Elends der Flüchtlinge verseucht, und er sucht nach Abhülfe, hat auch mehrere Personen, die die Flüchtlinge bestohlen haben, aufhängen lassen. Oberst von Kress, der Chef des Stabes Djemals, sagt mir, dass das Elend jeder Beschreibung spotte und alle Schilderungen übertreffe. Dabei wird im Lande verbreitet, die Deutschen wünschten die Massakres.
Ich habe eine äusserst scharfe Sprache geführt. Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos.
Von vertrauenswürdiger Seite erfahre ich, dass nach Auskunft des hiesigen Polizeipräsidenten, die ich bitte, geheim zu halten, auch aus Konstantinopel neuerdings etwa 4000 Armenier nach Anatolien abgeführt worden sind und dass mit den 80 000 noch in Constantinopel lebenden Armeniern allmählich aufgeräumt werden soll, nachdem schon im Sommer etwa 30 000 aus Konstantinopel verschickt und andere 30 000 geflohen sind. Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel notwendig. Ich schlage daher folgende Veröffentlichung in der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vor, mit der Weisung an mich, dass sie im Auftrage der Kaiserlichen Regierung erfolgt sei:
"Infolge der zahlreichen Nachrichten, die über das traurige Loos der aus ihren bisherigen Wohnstätten nach anderen Gegenden umgesiedelten armenischen Bevölkerung der Türkei zum Teil aus der ausländischen Presse nach Deutschland gelangt sind, hat in weiten Kreisen des deutschen Volkes eine zunehmende Beunruhigung Platz gegriffen. Wenn schon es jedem Staate, zumal in Kriegszeiten, frei stehen muss, gegen aufrührerische Elemente seiner Bevölkerung mit aller Strenge des Kriegsrechts vorzugehen, so muss es bei Ausführung der zur Sicherheit des Staates erforderlichen Massnahmen doch vermieden werden, dass unter dem Verschulden Einzelner ein ganzer Volksstamm einschliesslich Greisen, Frauen und Kindern zu leiden hat.
Mit Rücksicht auf die engen freundschaftlichen Beziehungen, die durch das Bündnisverhältnis zwischen der Türkei und Deutschland bestehen, hat die Kaiserliche Regierung es für ihre Pflicht gehalten, sobald die ersten Nachrichten über die bei Umsiedelung der armenischen Bevölkerung vorgekommenen tief bedauerlichen Vorgänge, die hauptsächlich durch die Missgriffe von Unterbehörden entstanden zu sein scheinen, zu ihrer Kenntnis gelangt sind, die türkische Regierung in nachdrücklicher Weise durch die Kaiserliche Botschaft in Konstantinopel auf die Ausschreitungen und Härten aufmerksam zu machen, und wiederholt, schriftlich und mündlich, ihre Abstellung zu verlangen. Die Kaiserliche Regierung hofft ernstlich sowohl im Interesse der Türkei selbst als in dem des armenischen Volksstammes, dass diesen Vorstellungen Folge gegeben wird." […]
Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflössen. Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als mit ferneren erfolglosen Verwahrungen, die mehr verärgern als nützen, zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.
Die Seele der Armenierverfolgungen ist Talaat Bey. Er kehrt erst Ende der Woche aus Anatolien zurück. Ich werde erst dann erfahren, welche Wirkung meine Besprechungen mit seinen Kollegen und Djemal auf ihn haben. Ich schlage daher vor, mit der Veröffentlichung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung zu warten, bis ein ferneres Telegramm von mir eintrifft.
Metternich

[Notiz Zimmermann 16.12]
Das werden wir jedenfalls tun müssen. Der Artikel wird aber m. E. vor Veröffentlichung zu mildern sein. In vorliegender Form würde er der Entente zu sehr passen.

[Notiz Jagow]
Namentlich muß der Schluß freundlicher für die türkische Regierung gehalten sein.

[Notiz Bethmann Hollweg 17.]
Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen. Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen kann, obwohl er es nicht für ausgeschlossen hält, daß Djemal Enver verdrängt.

© Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): Externer Link: www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved

Holocaust


Als Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, war der Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet. Gleichwohl lag für die allermeisten Deutschen "Auschwitz" außerhalb des Vorstellbaren. Doch wie konnte es trotzdem zum Judenmord kommen? Von entscheidender Bedeutung ist, dass dem Genozid ein mehrjähriger Diskriminierungsprozess vorausging, der sich immer mehr radikalisierte, bevor er im zweiten Kriegsjahr in den Massenmord mündete. Die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen aus der Gesellschaft, ihr Ausschluss aus der nationalsozialistisch definierten "Volksgemeinschaft", stieß zweifellos auf die Zustimmung einer großen Mehrheit der nicht jüdischen Deutschen. Verfolgung und Ausgrenzung mündeten in eine neue Normalität der Diskriminierung, die gelegentlich zwar auch kritisiert wurde, aber doch nicht zu einer aktiven Auflehnung führte.

QuellentextWortbedeutung

Ursprünglich ist "holocaust" ein religiöser Begriff und bedeutet "Brandopfer". In den griechischen bzw. lateinischen Texten wurde für ein solches Brandopfer das Wort "holocau(s)tos" bzw. "holocaustum" verwendet. Bei den Übertragungen ins Englische hieß es dann "holocaust". Daneben findet sich bereits in der frühen Neuzeit in der englischen Literatur eine gewandelte Bedeutung von "holocaust", und zwar im Sinne der Vernichtung einer Vielzahl von Menschen oder großer Sachwerte durch Feuer. "Holocaust" war im Englischen also lange vor den Mordtaten des NS-Regimes ein Begriff, mit dem eine Massenvernichtung menschlichen Lebens begrifflich gefasst wurde, beispielsweise im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen oder als Synonym für "Massaker".

Das Wort "Holocaust" dürfte dem deutschen Fernsehpublikum weitgehend unbekannt gewesen sein, als im Januar 1979 an vier Abenden ein mehrteiliger US-amerikanischer Fernsehfilm mit dem Titel "Holocaust" gesendet wurde. Thema des Films ist das Schicksal deutscher Juden während der NS-Zeit, verdichtet dargestellt am Beispiel der Arztfamilie Weiss. Der Film wurde zu einem Meilenstein für die Erinnerung an die Vernichtung der Juden. War bis zu jenem Zeitpunkt zur Kennzeichnung für den Mord an den europäischen Juden überwiegend das Wort "Endlösung" verwendet worden, so ersetzte in der Folgezeit "Holocaust" zunehmend diesen aus dem NS-Amtsdeutsch stammenden und der Verschleierung dienenden Begriff.

Im Judentum wird im Allgemeinen der Begriff "Shoa" (auch: "Schoa" oder "Shoah") verwendet. "Shoa" bedeutet "Unheil" oder "große Katastrophe". 1951 wurde in Israel ein "Shoa-Tag" (Jom haShoah) als Gedenktag für die jüdischen Opfer des NS-Regimes und als säkularer staatlicher Feiertag eingeführt. Zeitlich wird mit dem "Shoa-Tag" an den Aufstand im Warschauer Getto erinnert, der am 19. April 1943 begann. Da der Tag nach dem jüdischen Kalender ausgerichtet wird, fällt er nach dem gregorianischen Kalender auf verschiedene Daten.

Infoaktuell "27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus", 2012, Seite 2

Diskriminierung und Auswanderungsdruck


Der NS-Staat verfolgte mit seiner Politik zunächst das Ziel, die Juden zur Auswanderung zu bewegen. Insbesondere nach der Pogromnacht vom 9. November 1938, in der 276 Synagogen niedergebrannt, 7500 Geschäfte verwüstet und mindestens 91 Juden ermordet wurden, verließen Zehntausende Deutschland, bis Kriegsausbruch etwa 250 000. Nach der Ausschaltung der Oppositionsparteien und ihrer Untergrundorganisationen nahmen die Juden schließlich den prominentesten Platz unter den vom NS-Regime angefeindeten Gruppen ein. Zudem: Ein Kommunist oder Sozialdemokrat hatte die Chance, bei politischem Wohlverhalten seinen Platz in der NS-Volksgemeinschaft zu finden. Ein jüdischer Deutscher hatte diese Möglichkeit nicht. Als Angehöriger einer vermeintlich "jüdischen Rasse" wurde er unabhängig von seinem persönlichen Verhalten als "Volksfeind" angesehen. So musste auch der Versuch einzelner national gesinnter Juden scheitern, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.

Verfolgung


Die Radikalisierung der antisemitischen Politik bedeutete indes zunächst noch nicht, dass die Juden insgesamt umgebracht werden sollten. Bis September 1939 waren im Deutschen Reich 2000 bis 3000 Juden ermordet worden – neben etwa 5000 anderen Gegnern des Regimes, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten. In den Konzentrationslagern saßen bei Kriegsbeginn 21 400 Häftlinge ein, unter ihnen 1500 Juden (Zahlen nach der Historikerin Kim Wünschmann, Mitglied der Martin Buber Gesellschaft Jerusalem). Deutschland hatte 1939 im europäischen Vergleich die schärfste antijüdische Politik. Gesellschaftliche Diskriminierungen gab es zwar auch anderswo, vor allem in Italien, Rumänien und Ungarn. Nirgendwo wurden die Juden aber so umfassend entrechtet und massenhaft zur Auswanderung gezwungen wie in Deutschland.

Deportation und Mordaktionen


Der Beginn des Zweiten Weltkriegs öffnete ein neues Kapitel in der Judenverfolgung. Polen hatte die weltweit größte jüdische Gemeinde. In dem von Deutschland besetzten Teil lebten allein 1,8 Millionen. Die "Lösung" der "Judenfrage" wurde aus Sicht des NS-Regimes nun umso dringender, weil die Auswanderung im Krieg kaum mehr möglich war. Bereits in den ersten Tagen des deutschen Angriffs auf Polen fielen Juden Mordaktionen der neu gebildeten SS-Einsatzgruppen und der Wehrmacht zum Opfer. Bis Ende des Jahres wurden rund 7000 jüdische Polen ermordet.

Rastlos begannen nun Planungen innerhalb der SS, wie unter den neuen Rahmenbedingungen "die Judenfrage gelöst" werden könnte. In Polen wurden von den deutschen Besatzern in einigen Städten Gettos errichtet und Menschen auf engstem Raum und unter erbärmlichen Bedingungen zusammengepfercht. Dies hatte einerseits den Sinn, die jüdische von der nicht jüdischen Bevölkerung zu trennen. Andererseits wollte man so die Ausnutzung ihrer Arbeitskraft erleichtern und möglichst wenige Ressourcen zur Ernährung für die polnischen Juden aufbringen. Die Ideen, ein Reservat in Zentralpolen oder auf Madagaskar einzurichten, scheiterten bereits im Ansatz. Der Tod eines Großteils der Deportierten war in diesen Überlegungen einkalkuliert. Obgleich die Stufe zum Massenmord also noch nicht überschritten war, markieren die Gettoisierung und die Reservatspläne im Vergleich zur Vorkriegszeit doch eine erhebliche Radikalisierung. Der Genozid wurde nun immer häufiger als eine der Möglichkeiten zur "Endlösung" genannt.

QuellentextGespräche deutscher Soldaten über den Holocaust

CSDIC (UK), GRGG 221
Bericht über am 10.-12. Nov. 44 von höheren PW-Offizieren erlangte Informationen [TNA, WO 208/4364]
(m)
Generalleutnant Otto Elfeldt: Damals in der Gegend von Kiew kam mein Pionierführer (?) ganz entsetzt zurück – … gesprochen, ein Pionierbataillonskommandeur war das – und dieses Pionierbataillon hatte den Auftrag, diese … zu sprengen, wo diese 32 000 Juden drin waren mit Frauen und Kindern.
Generalleutnant Ferdinand Heim: Auch wenn die Zahlen nicht stimmen, ich meine, es sind doch absolut Dinge, die man als verbrecherisch bezeichnen kann, oder eben auch als absolut wahnsinnig und verrückt.
Generalleutnant Otto Elfeldt: Genauso, wie ich Pflichten habe meiner Familie gegenüber, meinem Volke gegenüber, genauso habe ich als Volk selbstverständlich gewisse Regeln der anderen Menschheit gegenüber zu beachten, da ist doch gar kein Zweifel, da kann ich mich nicht wie ein wildes Tier benehmen.

CSDIC (UK) SR REPORT, SRGG 676 [TNA, WO 208/4167]
Georg Neuffer – Generalmajor (Kommandeur 20. Flakdivision) – Gefangennahme am 9. Mai 43 in Tunesien.
Gerhard Bassenge – Generalmajor (Kommandant Festungsbereich Tunis und Bizerta) – Gefangennahme am 9. Mai 43 in Tunesien.
Informationseingang: 19. Dez. 1943
Bassenge (betr. deutschsprachige BBC-Nachrichten um Mitternacht): Da haben sie also die ungeheuren Erschiessungen von Juden in Polen aufgetischt, und die schätzen hier insgesamt an polnischen, bulgarischen, holländischen, dänischen und norwegischen Juden – fünf Millionen massakriert.
Neuffer: Wirklich? Ohne die deutschen?
Bassenge: Mit den deutschen Juden insgesamt, während der ganzen Zeit. Da wurden nun Beweise gebracht, dass eine Unmasse aus dem Lager sowieso, in der Zeit von sowieso bis sowieso, 15 000 da, 18 000 da, 12 000 da, 6000 usw. – ich sage ja, wenn nur 10 % davon stimmt, dann muss man sich ja –
Neuffer: Ja, so drei Millionen hätte ich auch gedacht.
Bassenge: Ja, wissen Sie, das ist ja doch eine Schande. [...]

CSDIC (UK), GRGG 271
Bericht über am 10., 11., 12. März 45 von höheren PW-Offizieren erlangte Informationen [TNA, WO 208/4177]
Generalmajor Johannes Bruhn: Wenn Sie mich fragen: Haben wir den Sieg verdient oder nicht? Nach dem, was wir angerichtet haben, nicht. Nach dem, was wir bewusst und in Verblendung und teilweise auch im Blutrausch und sonstigen Eigenschaften vergossen haben an Menschenblut, so wie ich das jetzt sehe, haben wir die Niederlage verdient, also dieses Schicksal, obgleich ich damit mich selbst anklagen muss. Ich müsste die Tapferkeit und alles das, die Leistung des Volkes herausnehmen, die ist ja zweifellos da, aber wir erleiden ja eigentlich gar kein ungerechtes Schicksal, wir werden ja gestraft für das, was wir nach einem an sich vernünftigen Anfang der nationalen Wiedergeburt nachher haben in die Binsen gehen lassen.
Generalleutnant Friedrich Freiherr von Broich: Wir haben Frauen erschossen, wie Tiere. Ich bin in Zhitomir gewesen, einen Tag, nachdem das gewesen ist, auf dem Vormarsch, also die zweite Offensive losging. Da war zufällig der Kommandant, das war ein Oberst von Monich (?), der kam zu mir und sagte – also entsetzt: "Wir können nachher einmal herausfahren; hier ist eine grosse Grube, da haben sie gestern 10 000 Frauen, Männer und Kinder erschossen." Die lagen alle noch in der Grube drin. Wir sind extra herausgefahren. Das Tierischste, was ich je gesehen habe.
General Dietrich von Choltitz: Ich kam an einem Tage nach dem Fall von Sewastopol – als ich da also nach BERLIN geschafft worden war, flog ich zurück mit dem Chef des Stabes. Da kam der Kommandant des Flugplatzes auf mich zu – und da schoss es. "Was", sagte ich, "macht ihr etwa eine Übung?" Da sagte er: "Um Gottes willen, ich darf ja nicht reden. Hier werden seit Tagen Juden erschossen." […]

CSDIC (UK) GG REPORT, SRGG 1158 (C) [TNA, WO 208/4170]
Generalmajor Bruns (Heeres-Waffenmeisterschule I, Berlin) – Gefangennahme am 8. Apr. 45 in Göttingen – und andere höhere PW-Offiziere, deren Stimmen nicht identifiziert werden konnten.
Informationseingang: 25. Apr. 45
Bruns: Als ich davon hörte, dass am Freitag die Juden erschossen werden sollten, ging ich zu dem 21jährigen Bürschchen und sagte, dass sie sich in meinem Dienstbereich sehr nutzbar gemacht hatten, ausserdem: Der Heereskraftfahrpark hatte 1500, dann hatte die Heeresgruppe etwa 800 Frauen eingesetzt, um Wäsche zu nähen von den Beständen, die wir in Riga gefunden hatten, dann nähten in der Nähe von Riga etwa 1200 Frauen aus mehreren Millionen gefundener Schaffelle das, was uns dringend fehlte: Ohrenschützer, Pelzkappen, Pelzwesten usw. Es war doch nichts vorgesehen, weil ja doch der Krieg in Russland schon siegreich beendet war bekanntlich im Oktober 1941. Kurz und gut, alles Frauen, die nutzbar eingesetzt waren. Habe ich versucht, die zu retten. Habe zu diesem Bürschchen da, Altenmeyer (?), den Namen vergesse ich nicht, der kommt auf die Verbrecherliste, sage ich: "Hören Sie mal, das sind doch wertvolle Arbeitskräfte für uns!" "Wollen Herr Oberst die Juden als wertvolle Menschen bezeichnen?" Ich sage: "Hören Sie mal, Sie müssen zuhören, was ich sage, ich habe gesagt: wertvolle Arbeitskräfte. Über ihren Menschenwert habe ich ja gar nicht gesprochen." Sagt er: "Ja, die müssen erschossen werden, ist Führer-Befehl!" Ich sage: "Führer-Befehl?" "Jawohl", und da zeigt er mir das. Skiotawa (?) war es, 8 km von Riga, zwischen Schaulen und Mitau sind ja auch die 5000 Berliner Juden – plötzlich aus dem Zug raus – erschossen worden. Das habe ich zwar nicht gesehen, aber das bei Skiotawa (?) – also kurz und gut, es gab dann mit dem Kerl da noch eine Auseinandersetzung, ich habe dann telephoniert mit dem General im Hauptquartier, mit Jakobs und mit Aberger (?) und mit einem Dr. Schultz, der da war beim General der Pioniere, wegen dieser Arbeitskräfte; ich sagte ihm noch: "Ich will mich Ihrer Auffassung anschliessen, dass das Volk an den Völkern der Erde gesündigt hat, dann lasst sie doch nutzbare Fronarbeit leisten, stellt sie an die Strassen, lasst die Strassen streuen, dass uns die Lastkraftwagen nicht in die Gräben schlittern." "Ja, die Verpflegung!" Ich sage: "Das bisschen Fressen, was die kriegen, ich will mal 2 Millionen Juden annehmen – 125 Gramm Brot kriegten sie per Tag –, wenn wir das nicht mehr aufbringen, dann wollen wir lieber heute als morgen Schluss machen.“ Dann habe ich telephoniert usw. und denke doch nicht, dass das so schnell geht. Jedenfalls, Sonntag morgens höre ich, dass sie es schon machen. Das Ghetto ist aufgeräumt worden, da ist ihnen gesagt worden: "Ihr werdet umlagert, nehmt die wichtigsten Sachen noch mit." Im übrigen war das eine Erlösung für die, denn wie sie im Ghetto behandelt wurden, dass war ein Martyrium. Ich wollte es nicht glauben, da bin ich rausgefahren und habe mir den Laden angeguckt. [...]

Sönke Neitzel, Abgehört: Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, © 2005 Propyläen Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 6. Aufl., 2012, Seite 265, 242 f., 294 f., 304 f.

Organisierter Massenmord


Mit dem Angriff auf die Sowjetunion vollzog die Führungsspitze des "Dritten Reiches" schließlich die Wendung hin zur Ermordung der Juden im eigenen Machtbereich. Wann der Entschluss zur systematischen Ermordung aller Juden konkret gefasst wurde, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Die Interpretationen beziehen sich auf einen Zeitraum von Juli 1941 bis Frühjahr 1942. Unstrittig und vielfach beschrieben ist hingegen der prozesshafte Charakter von den ersten Massakern an jüdischen Bewohnern Litauens und Weißrusslands, über die Ermordung jüdischer Männer bis hin zur Tötung von Frauen und Kindern. Opfer der Mordaktionen wurden ab Oktober 1941 auch die noch in Deutschland verbliebenen Juden.

Die Auswanderung von Juden wurde am 23. Oktober 1941 für die Dauer des Krieges verboten. Der Entschluss zur vollständigen Ermordung der europäischen Juden war damit wohl endgültig gefallen. Jetzt ging es um Fragen der praktischen Durchführung, weshalb Reinhard Heydrich auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 die Staatssekretäre der Reichsministerien über die angelaufene "Endlösung" informierte. Im Frühjahr 1942 war ein Netz von Vernichtungslagern aufgebaut worden, in denen die Insassen mit Kohlenmonoxid und Zyklon B getötet wurden. Bis dahin hatten die Einsatzgruppen mit Massenerschießungen rund 900 000 Juden in der Sowjetunion ermordet – unter Mithilfe lettischer, litauischer und ukrainischer Milizen. Insgesamt wurden 5,6 bis 6,3 Millionen Juden umgebracht – die genaue Zahl lässt sich nicht feststellen. Drei Millionen stammten davon aus Polen, eine Million aus der Sowjetunion, 165 000 aus Deutschland.

QuellentextAbgehörtes Gespräch zweier deutscher Offiziere in einem US-Gefangenenlager, 29. Dezember 1944

Oberstleutnant Helmut Richter (Jahrgang 1898):
"Dass die Juden verschwinden, schadet gar nichts. […] Aber ich kenne auch viele SS-Leute, und ich kenne ihre Handlungen. Ich bin auch gar nicht dagegen, wenn man in Polen da durchgegriffen hat. Dass die Juden da allmählich verschwinden, das kann doch für uns ein Vorteil sein, und einer muss es machen. Hätten wir die Leute in Warschau beizeiten totgeschlagen, dann hätten wir den Aufstand nicht gehabt für 4 Wochen. Da hätten wir unser Blut gespart. Das ist ein Zeichen einer falschen Milde. Jetzt haben sie es zerstört, jetzt haben sie die Leute umgebracht. Wenn sie es vor vier Jahren getan hätten, hätten wir wahrscheinlich 5000 Menschen gespart. Also, die Idee, dass man milde sein muss, ist doch ganz falsch. Hätte Himmler verschiedene Leute vorher verhaften und erschießen lassen, dann hätte man geschrieen, der Mörder. Aber jetzt sind deutsche Menschen gefallen".

Room Conversation, Stössel – Richter, 29.12.1944, NARA, RG 165, Entry 179, Box 531, zit. nach Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von Innen, Piper Verlag München 2012, Seite 292

Haltung der deutschen Bevölkerungsmehrheit


Nach dem Krieg ist der Holocaust – der Begriff wurde in Deutschland durch die gleichnamige US-Fernsehserie aus dem Jahr 1979 eingeführt – von der deutschen Bevölkerung verdrängt worden. Das Wissen um dieses unfassbare Verbrechen wurde immer wieder geleugnet. Die Entrechtung der jüdischen Deutschen vor 1939 fand gleichwohl in aller Öffentlichkeit statt, ihr Ausschluss aus der "Volksgemeinschaft" wurde zweifellos von einer großen Mehrheit der Deutschen gebilligt. Zudem nutzten Hunderttausende die Möglichkeit, sich an dem zurückgelassenen Hab und Gut zu bereichern, billig Grund und Boden von jüdischen Auswanderern zu erwerben oder auch deren Arbeitsstellen zu übernehmen.

Auch die Deportationen nach Polen und in die Sowjetunion blieben nicht verborgen, da sie teilweise bei hellichtem Tage stattfanden. Und selbst jene, die keine Augenzeugen waren, mussten bemerken, dass ihre jüdischen Nachbarn nach und nach verschwanden. Bald war es kein Geheimnis mehr, was mit den Juden im Osten geschah. Die Massenerschießungen entwickelten sich teilweise zu regelrechten Attraktionen für deutsche Soldaten, Verwaltungsbeamte und Männer des Reichsarbeitsdienstes, sodass die SS auf Geheimhaltung drängte, um den "Erschießungstourismus" zu beenden. Erfolgreich waren diese Maßnahmen freilich nicht. Zehntausende waren Augenzeugen von Massakern an Juden, und Berichte darüber verbreiteten sich in Windeseile nicht nur in der Wehrmacht, sondern über die Feldpostbriefe und die Urlauber auch im Reich. Selbst Soldaten, die nie an der Ostfront gewesen waren, erfuhren von Klassenkameraden oder Verwandten bald von dem grauenhaften Geschehen. Wenn es auch oft an detaillierten Kenntnissen mangelte, verdichteten sich diese schauerlichen Nachrichten zu einem eindeutigen Bild: Die Juden wurden in den Osten deportiert und dort umgebracht.

Gleichwohl hielten viele die Massaker wohl nur für Einzelfälle oder wollten Gerüchten keinen Glauben schenken. Über die Existenz der NS-Vernichtungslager in Auschwitz, Chełmno, Bełz˙ec, Majdanek, Treblinka und Sobibór wussten nur wenige Deutsche Bescheid. Das NS-Regime versuchte die Existenz der außerhalb des Reiches in den besetzten Gebieten gelegenen Todeslager strikt geheim zu halten und war damit weit erfolgreicher als mit der Verschleierung der Massenerschießungen.

"Ob die Mehrheit der Deutschen über den unterschiedslosen Massenmord informiert war oder nur eine zahlenmäßig große Minderheit, lässt sich rückblickend nicht mehr mit Sicherheit sagen", bilanziert Alexander Brakel die Forschung zu diesem Thema. Aber was sagt dies über die Haltung der Bevölkerung zur Vernichtungspolitik aus? Die Deutschen befürworteten und unterstützten aktiv die Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft, sie wussten um den Massenmord. Sie taten, von ganz wenigen abgesehen, nichts, um ihn zu verhindern, auch wenn sie ihn vielfach nicht unbedingt billigten. So könnte man das komplexe Geflecht von Wissen, Akzeptanz und Passivität pointiert zusammenfassen.

Quellentext"Davon habe ich nichts gewusst"

[...] ZEIT: Inwieweit machte das NS-Regime seine Mordtaten bekannt, inwieweit hielt es sie geheim?
Peter Longerich: Der Mord an den Juden wurde auf der einen Seite als Staatsgeheimnis behandelt, auf der anderen Seite sandte das Regime immer wieder klare Signale aus, dass es die Juden umbrachte, "vernichtete", "ausrottete", wie es in offiziellen Stellungnahmen hieß. Einzelheiten, etwa über die Vernichtungslager, wurden allerdings zu keinem Zeitpunkt verbreitet. Doch was sich hinter der Ostfront abspielte, war seit dem Winter 1941/42 durch die Berichte von Soldaten zum großen Teil bekannt. So wurde der Mord an den Juden eine Art öffentliches Geheimnis, das in seinen Details verschwiegen, in seinen Umrissen aber klar kommuniziert wurde. Meine These ist, dass die breite Bevölkerung dadurch in Mithaftung genommen werden sollte. Das Regime machte spätestens 1943 klar, dass es alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte und dass das gesamte Volk dafür mit geradestehen müsse.

ZEIT: Wie haben die Deutschen darauf reagiert?
Longerich: Mit einem gewissen Unwillen. Sie waren im Laufe des Krieges immer weniger bereit, Informationen über den Massenmord an den Juden aufzunehmen, weil sie keine Mitwisser und nicht mitverantwortlich sein wollten. Der Satz "Davon haben wir nichts gewusst" formte sich damals als Ausdruck einer kollektiven Verweigerungshaltung gegen die Zumutung, dass das Regime, dem man so lange angehangen hatte, seinen verbrecherischen Charakter offenbarte. Schon vor der Niederlage erfüllte er gleichsam präventiv den Zweck, später nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können. […]

ZEIT: Warum ist eigentlich ausgerechnet die Behauptung, Dinge nicht gewusst zu haben, für die Deutschen so wichtig gewesen?
Longerich: Weil sie vorbeugend vor einer weiteren, noch viel unangenehmeren Frage schützte: Warum habt ihr nichts getan? Die Aussage "Wir haben nichts gewusst" zieht einen klaren Trennstrich: hier die Masse der Unschuldigen, dort das Regime und was es verbrochen hat. So ließ sich die Frage nach der individuellen Verantwortung von vornherein ausschließen, denn jedes Eingeständnis, etwas geahnt, gehört oder gar selbst gesehen zu haben, wirft ja die Frage auf, welchen Handlungsspielraum der Einzelne besaß. [...]

ZEIT: In den [...] Abhörprotokollen von Gesprächen kriegsgefangener Wehrmachtsoldaten sucht man den Satz "Davon habe ich nichts gewusst" vergeblich. Hier tauschen sich die Soldaten sehr freimütig über alle Details des Vernichtungsgeschehens aus.
Longerich: Ja, aber das sind eben Gespräche unter Soldaten, also oftmals unter NS-Tätern. Aufschlussreich sind sie insofern, als sie noch einmal sehr detailliert den Ursprung der Erzählungen vor Augen führen, die damals im Reich kursierten. [...] Die Soldaten wussten natürlich viel mehr als die Bevölkerung zu Hause.

ZEIT: Die Judenvernichtung kommt dabei allerdings nur selten zur Sprache [...]. Wie ist das zu deuten?
Longerich: Wir legen heute ein sehr viel größeres Augenmerk auf dieses Thema als die Zeitgenossen. […] Die Menschen waren damals einfach viel stärker mit anderen Fragen beschäftigt: mit dem Kriegsverlauf etwa und dem eigenen Überleben.

ZEIT: Trotzdem ist es erstaunlich, dass ein so außergewöhnlicher, extremer Vorgang wie die Deportation und Ermordung mehrerer Millionen Menschen keine größere Aufmerksamkeit auf sich zog. [...] Hat beim Gros der Bevölkerung womöglich auch eine allmähliche Verschiebung moralischer Maßstäbe während der NS-Herrschaft dazu geführt, Dinge, die uns heute schockieren, normal zu finden?
Longerich: Gewiss, dieses Phänomen gab es [...].

ZEIT: Lässt sich bestimmen, wie hoch die Zustimmung in der Bevölkerung zur Judenverfolgung war?
Longerich: Das ist schwierig. [...] Es gab im "Dritten Reich" fast keine Möglichkeit, abweichende Meinungen öffentlich zu äußern. Mein Eindruck ist, dass die Bevölkerung durch das Regime immer wieder angehalten werden musste, Zustimmung zur Verfolgung zum Ausdruck zu bringen – und dass sie sich diesem Druck mehr oder weniger willig fügte. [...]

"Die Wahrheit der Propaganda". Interview von Christian Staas mit dem deutschen Historiker Peter Longerich, in: DIE ZEIT, Nr. 31 vom 28. Juli 2011

Erinnerung und Wertung


Aus heutiger Sicht ist der Holocaust das zentrale Ereignis des Zweiten Weltkrieges. Er fand in beinahe allen kontinentaleuropäischen Ländern statt und wäre ohne die Kollaboration in den besetzten Gebieten so nicht möglich gewesen. Jenseits der deutschen Täterschaft sind die europäischen Gesellschaften also in einem komplexen Beziehungsgeflecht mit der Geschichte des Holocaust verbunden. Er nimmt damit auch einen zentralen Ort in der europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ein. 1995 beschloss das EU-Parlament die Einführung eines Holocaust-Gedenktages am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Er wird mittlerweile von 34 Regierungen weltweit begangen, in Deutschland als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

In der Forschung wird zuweilen das Beharren auf der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust und die Forderung, dass der Begriff Genozid einzig für den Mord an den europäischen Juden verwendet werden dürfe, kritisiert. Die Shoah wird vielmehr von Wissenschaftlern wie der Hamburger Historikerin Birthe Kundrus als Genozid unter anderen gedeutet, der aber in Planung, Organisation, der Totalität des Vernichtungswillens und der Opferzahlen extreme Besonderheiten aufweise. Das spezifisch Deutsche an diesem Völkermord war vor allem die Verzahnung von radikalem Antisemitismus, totalem Krieg, Besatzungs- und Ernährungspolitik sowie großräumigen Umsiedlungsplänen mit der industriellen Tötung.

Der Genozid an den Armeniern fand abseits des geografischen Zentrums des Krieges statt und blieb auf das Osmanische Reich beschränkt. Er hat daher die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges kaum geprägt, ganz anders als der Holocaust den Zweiten. Allerdings stand die Shoah für viele Zeitgenossen nicht im Mittelpunkt der Wahrnehmung. Den Rahmen für die kollektive Identität der Deutschen beispielsweise bildete vielmehr lange Zeit die Gewalterfahrung an der Front und in der Heimat – etwa im Bombenkrieg.

Sönke Neitzel ist Professor für International History an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er studierte in Mainz Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaft, wurde dort 1994 promoviert und 1998 habilitiert. Anschließend lehrte er an den Universitäten Mainz, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken, bevor er 2011 auf den Lehrstuhl für Modern History an der University of Glasgow berufen wurde. Seit September 2012 lehrt und forscht er an der LSE.
Einem breiteren Publikum wurde er durch sein Buch "Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft, 1942-1945" bekannt, das 2005 erschien.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Militärgeschichte und die Geschichte der Internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Kontakt: E-Mail Link: s.neitzel@lse.ac.uk