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Der Krieg von unten

Sönke Neitzel

/ 16 Minuten zu lesen

Im Krieg wird Gewalt zur Alltagserfahrung, und militärische Werte werden zur alles bestimmenden Handlungsmaxime. Die Einstellungen der Soldaten werden zudem durch nationale Normen und Gebote geprägt.

Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg wird Gewalt auch für die einfachen Soldaten zur Alltagserfahrung. Wehrmachtsoldat auf Wachposten in der Sowjetunion 1941/44 (© Fotograf unbekannt, Deutsch-Russisches Museum, Berlin)

Referenzrahmen Krieg

Die Weltkriege brachten Tod und Verwüstung. Millionen traumatisierte und entwurzelte Menschen blieben zurück. Warum das alles? Wie konnten Menschen anderen so viel Leid zufügen, wie konnten Millionen Soldaten jahrelang ihren todbringenden Aufgaben nachgehen? Warum wehrten sie sich nicht gegen den Wahnsinn? Warum kämpften die Soldaten weiter, als es doch gar nichts mehr zu gewinnen gab?

Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und die Massenverbrechen des Zweiten scheinen sich jeder Logik zu entziehen. Viele überlieferte Äußerungen aus jener Zeit wirken verstörend. Ernst Jünger schrieb an seinem 21. Geburtstag im März 1916 nach mehr als einem Jahr an der Westfront in sein Tagebuch, dass ihm das Kriegsleben "jetzt grade den richtigen Spaß" mache, dass "das ständige Spiel mit dem Leben als Einsatz […] einen hohen Reiz" habe. In solchen und ähnlichen Zeugnissen liest man über den Horror des Stellungskrieges wie in dem Notizbuch eines Unfallchirurgen. Minutiös hält Jünger fest, wer einen Kopfschuss erhielt, von Granaten zermalmt oder im MG-Feuer zerfetzt wurde. Und dies meist ohne jede emotionale Reaktion. Jünger freut sich über eine gute Unterkunft, ein gutes Essen oder aber über zählbare Erfolge im Kampf. So beschreibt er geradezu genüsslich, wie er nach zweieinhalb Jahren Krieg endlich einmal einen Engländer deutlich im Visier seines Gewehres erblickt und ihn mit einem "trefflichen" Schuss erlegt.

Gewalt als Alltagserfahrung

Die nonchalanten Berichte vom Töten und Sterben verstören uns, weil Gewalterfahrungen dieser Art in unserem Alltag keine Rolle spielen. Wir müssen kaum fürchten, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Joggen im Park erschossen zu werden. Die existenzielle Gewalt eines Krieges, der Weltkriege zumal, empfinden wir daher als krasse Abweichung vom Normalen, als etwas, das erklärungsbedürftig ist. Doch der Glaube an die Gewaltferne als menschlichen Normalzustand ist illusionär. Selbst Massengewalt gehörte und gehört stets zu den Handlungsoptionen, und Menschen haben offenbar kein Problem damit, sie auszuüben. Dies zeigt etwa ein Blick auf den Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Serbische und kroatische Nachbarn, die bis dahin friedlich zusammengelebt hatten, gingen auf einmal mit Gewalt aufeinander los. Zehntausende starben. Die Soldaten, die 1914 in den Ersten Weltkrieg zogen, kamen in aller Regel aus Gesellschaften, die seit Jahrzehnten nichts anderes kannten als Frieden. Ihnen war das tödliche Handwerk des Soldaten ebenfalls sehr fern.

Aber sie gewöhnten sich rasch an die neuen Regeln. Sie lernten zu töten und möglichst nicht getötet zu werden, sie lernten das Überleben auch unter den widrigsten Umständen, und sie reduzierten ihr Dasein auf die allernötigsten menschlichen Bedürfnisse. Die Kameraden wurden zur neuen Familie. Der Kampf ums Überleben schweißte den Mikrokosmos der militärischen Primärgruppen zusammen. Eine rohe Männerwelt mit klaren Regeln. Jedem Soldaten war schnell klar, was er zu tun und was er zu lassen hatte. Der Krieg wurde zur neuen Heimat, und die Welt der Soldaten hatte sehr bald nur noch wenig mit dem Zivilleben zu tun. Dieses wurde ihnen geradezu fremd. "Wir glaubten, es gäbe nur noch Schnee und Eis auf der Erde, und in einer jähen Furcht vor allem Schönen und Gütigen überfiel uns das Heimweh. Wir sehnten uns nach Russland zurück, in die weiße Winterhölle, in Leiden, Entbehrungen, Todesgefahr", schrieb der Soldat Willy Peter Reese über seinen Urlaub im Frühjahr 1942.

QuellentextTöten und Sterben

Sonntag, 23. August 1914

Dann setzte unsere schwere Artillerie ein [...]. Zuerst nahmen sie den links gelegenen Wald hinter dem Dorfe in Arbeit und deckten ihn mit Granaten zu; die direkte und auch die moralische Wirkung dieser schweren Granaten ist eine ganz ungeheure; da war kein Halten mehr. Wie die Erdflöhe kamen die Franzosen aus dem Wald herausgehüpft; in dichten Schaaren liefen sie um ihr Leben; kaum aber waren sie auf dem Feld, da wurde dieses unter Feuer genommen, eine Granate davor, eine dahinter und eine mitten dazwischen; die armen Menschen wußten nicht mehr, wohin sie laufen sollten, und wir, ich schäme mich nachträglich, es zu gestehen, sahen mit grimmiger Freude zu, wie sie zusammengeschossen wurden; ich vermute, daß die Gefühle der alten Römer im Kolosseum ähnlicher Natur gewesen sind. Immerhin muß man zugeben, daß die grausamste Methode in gewissem Sinne auch wieder die menschlichste ist, da sie am schnellsten zum Ziele führt. So war es auch hier. Der Widerstand des Gegners wurde bald schwächer und war schon fast vorbei, bevor unsere Infanterie noch den andern Höhenrand erreicht hatte; zu einem Nahkampf kam es nicht mehr.

Freitag, 28. August 1914

Dann ging ich noch mal aufs Schlachtfeld, um bei Tage nach der Leiche von Delius zu suchen. Ich fand sie schließlich in einer Wiese liegend, nahe dabei ein Hauptmann vom Rgt. 73 und noch ein Offizier, ein Soldat war nicht dabei; es machte den Eindruck, als seien die Offiziere allein vorgestürmt und von ihren Leuten im Stich gelassen worden; damals bestand noch die später aufgehobene Vorschrift, daß Offiziere beim Sprung vorwärts 3 Schritte vor der Front sein mußten. Dadurch waren sie natürlich sofort kenntlich und wurden zuerst abgeschossen, namentlich wenn die Mannschaften den Sprung nicht mitmachten und liegen blieben. Delius hatte einen Gewehrschuß quer durch den Kopf; augenscheinlich hatte er gerade den Kopf gewendet, um seinen Leuten etwas zuzurufen; den Degen hatte er noch in der erstarrten Faust. Ein Arbeitskommando war bereits im Begriff, die Toten zu begraben. Ich ging zurück und kam an der Stelle vorbei, wo eine englische Batterie auf der Flucht von unserer Artillerie überrascht und zusammengeschossen worden war; die Pferde lagen in Geschirren und Strängen übereinander, die Fahrer tot daneben; auf einer Protze saß noch ein Artillerist mit halbem Kopf, ein grauenhaftes Bild, wie der Tod über sie gekommen war. [...]

Aus dem Tagebuch des Dr. med. Alfred Bauer sen., "Der Weltkrieg, wie er sich spiegelte im Gehirn von Alfred Bauer, Stabs- und Regimentsarzt im Res. Inf. Rgt. 78 später Feldlazarett 6", Eschau Elsass, Quelle: privat

Erkenntnisse aus Primärquellen

Die intensive Auswertung von Tagebüchern und Feldpostbriefen hat in den vergangenen Jahren wichtige Erkenntnisse über die Kriegserfahrungen einfacher Soldaten der Weltkriege zutage gefördert. Mit den Abhörprotokollen des britischen und des US-amerikanischen Nachrichtendienstes liegt inzwischen eine neue, außergewöhnlich reichhaltige Quelle vor, die die bisherigen Forschungen wesentlich ergänzt und mithilfe derer wir genauer denn je rekonstruieren können, wie deutsche Soldaten den Zweiten Weltkrieg wahrnahmen, welche Rolle ihre soziale und regionale Herkunft dabei spielte, wie sie über die NS-Ideologie dachten, wie sie Verbrechen bewerteten und über das Kämpfen dachten – kurz: wie sie ihre Welt sahen. Wenngleich auch diese Quellen nur einen Teil der Wehrmacht erfassen, werden die zentralen Deutungsmuster der Soldaten deutlich sichtbar.

Liest man die Zehntausende überlieferten Seiten von heimlich aufgenommenen Gesprächen deutscher Gefangener, trifft man zunächst auf denkbar banale Dialoge. Die Unterhaltungen drehen sich um die Technik ihrer Waffen, um gemeinsame Bekannte, um Frauen und Sex. Die Männer sprechen aber auch über das Töten. Für sie ein alltägliches Handwerk, das keiner besonderen Erklärung mehr bedurfte. Im Gegenteil, vielen machte das Kämpfen Spaß, zumindest, wenn sie aus der Distanz töteten und damit ihre eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen konnten, etwa beim Abschießen feindlicher Flugzeuge oder dem Versenken von Schiffen. Das große Ganze geriet dabei völlig aus den Augen, so es die einfachen Soldaten je interessiert hatte. Bald war es Alltag, dass Menschen zu Tausenden starben. Mit der größten Selbstverständlichkeit sprachen sie von "umlegen", "abknallen" und "niedermachen", und zwar in einem Ton, als ob heute jemand von Meetings im Geschäftsleben berichtet. Das Töten und Sterben gehörte für die Soldaten zum Grundrauschen des Krieges. Die Ausübung von Gewalt war in dieser Welt geboten.

QuellentextAngriff aus der Luft – Gespräch unter Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft, 30. April 1940

Pohl: Am zweiten Tage des Polenkrieges musste ich auf einen Bahnhof von Posen Bomben werfen. Acht von den 16 Bomben fielen in die Stadt, mitten in die Häuser hinein. Da hatte ich keine Freude daran. Am dritten Tage war es mir gleichgültig, und am vierten Tage hatte ich meine Lust daran. Es war unser Vorfrühstücksvergnügen, einzelne Soldaten mit Maschinengewehren durch die Felder zu jagen und sie dort mit ein paar Kugeln im Kreuz liegen zu lassen.
Meyer: Aber immer gegen Soldaten ...?
Pohl: Auch Leute. Wir haben in den Straßen die Kolonnen angegriffen. Ich saß in der Kette. Die Führermaschine warf auf die Straße, die beiden Kettenhunde auf die Gräben, weil da immer solche Gräben gezogen sind. Die Maschine wackelt, hintereinander, und jetzt ging es in der Linkskurve los, mit allen MGs und was du da machen konntest. Da haben wir Pferde herumfliegen sehen.
Meyer: Pfui Teufel, das mit den Pferden ... nee!
Pohl: Die Pferde taten mir leid, die Menschen gar nicht. Aber die Pferde taten mir leid bis zum letzten Tag. [...]
Pohl: Da habe ich mich so geärgert, wo wir abgeschossen wurden – bevor der zweite Motor auch noch heiß wurde, da hatte ich auf einmal unter mir eine polnische Stadt. Da habe ich noch die Bomben drüber geworfen. Da wollte ich alle 32 Bomben auf die Stadt abwerfen. Sie gingen nicht mehr, doch vier Bomben fielen in die Stadt. Das war alles zerschossen da unten. Damals war ich in so einer Wut, man stelle sich vor, was das heißt, 32 Bomben auf eine offene Stadt zu werfen. Es wäre mir damals gar nicht darauf angekommen. Da hätte ich bestimmt von 32 Bomben 100 Menschenleben auf dem Gewissen gehabt.
Meyer: War ein lustiger Verkehr dort unten?
Pohl: Voll. Auf einen Ring wollte ich Notwürfe machen, weil dort alles voll war. Es wäre mir gar nicht drauf angekommen. In 20 Meter Abstand wollte ich werfen. 600 Meter wollte ich bedecken. Es wäre eine Freude gewesen, wenn es geglückt wäre. [...]
Meyer: Wie reagieren die Menschen darauf, wenn sie so vom Flugzeug beschossen werden?
Pohl: Sie werden verrückt. Die meisten lagen immer mit den Händen so und gaben das deutsche Zeichen. Rattattatat: Bums, da lagen sie! An sich bestialisch. [Schnitt] Richtig so auf die Fresse, die kriegten die Schüsse alle ins Kreuz und liefen wie wahnsinnig, so Zickzack, in irgendwelche Richtung. So drei Schuss Brandmunition, wenn sie die ins Kreuz hatten, Hände hoch, bums, da lagen sie auf dem Gesicht. Dann habe ich weiter geschossen.
Meyer: Was ist, wenn man sich gleich hinlegt? Was ist dann?
Pohl: Da wird man auch getroffen. Wir haben angegriffen aus zehn Meter, und wenn sie dann liefen, die Idioten, da hatte ich doch dauernd ein schönes Ziel. Brauch doch nur mein Maschinengewehr zu halten. Manchmal bestimmt, ich war überzeugt, dass der eine 22 Schüsse abgekriegt hat. Und dann, auf einmal, da habe ich 50 Soldaten aufgescheucht, und sagte: "Feuer, Kinder, Feuer!" Und dann immer so hin und her mit dem Maschinengewehr. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, bevor wir abgeschossen wurden, einen Menschen von Hand aus zu erschießen. [...]
Meyer: Man verroht doch furchtbar bei solchen Unternehmungen.
Pohl: Ich sagte ja, am ersten Tage ist es mir furchtbar vorgekommen. Da habe ich gesagt: Scheiße, Befehl ist Befehl. Am zweiten und dritten Tage habe ich gesagt: Das ist ja scheißegal, und am vierten Tag, da hab ich meine Freude daran gehabt. Aber, wie gesagt, die Pferde, die schrieen. Ich glaubte, nicht das Flugzeug zu hören, so schrien sie. Da lag so ein Pferd mit den Hinterbeinen abgerissen. [...]
Pohl: So ein Flugzeug mit MGs ist eigentlich ganz gut. Denn wenn ein MG irgendwo aufgestellt wird, dann müssen sie warten, bis die Menschen kommen.
Meyer: Wehrten sie sich nicht vom Boden? Schossen sie nicht mit MGs?
Pohl: Einen haben sie abgeschossen. Mit Gewehren. Eine ganze Kompanie hat auf Befehl geschossen. Das war diese "Do 17". Die ist gelandet. Die Deutschen haben die Soldaten mit MGs in Schach gehalten und die Maschine angezündet. Ich hatte manchmal 128 Bomben, mit Zehnern. Die haben wir mitten in das Volk hineingeworfen. Und die Soldaten. Und Brandbomben dazu.[...]


[SRA 75, TNA WO 208/4117]
Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben
Fischer Verlag Frankfurt am Main 2011, Seite 84 ff.

QuellentextKriegsverbrechen beim Überfall auf Polen

CSDIC (UK), GRGG 275

Bericht über am 24. März 45 von höheren PW-Offizieren erlangte Informationen [TNA, WO 208/4177]
[...] General Edwin Graf von Rothkirch und Trach: Sehen Sie, wie selbst wir verwildert sind: Ich fuhr durch einen kleinen polnischen Ort, da wurden Studenten erschossen, nur weil sie Studenten sind, und polnische Adelige und Gutsbesitzer, alles wurde erschossen; in der Stadt, nicht draussen auf dem Feld, in einer Stadt, am Rathaus, da wurde erschossen; die Geschosseinschläge sah man noch an dem Dings; komme zu Bockelberg (Vollard-Bockelberg?) und erzähle ihm das. Da sagt er "Ja, hören Sie mal, das können wir nicht anders machen, es muss sein, denn die Studenten, das sind die gefährlichsten Leute, die müssen alle verschwinden, und der Adel, die werden immer gegen uns mucksen. Im übrigen, regen Sie sich doch nicht so furchtbar auf, wenn wir den Krieg gewinnen, ist ja alles egal." Da sage ich: "Herr Generaloberst, das mag sein, aber an diesen neuen Grundsatz muss ich mich erst gewöhnen."

Sönke Neitzel, Abgehört: Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, © 2005 Propyläen Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 6. Aufl., 2012, Seite 299

Aber auch Berichte über Massenerschießungen von Partisanen, Massakern an Juden oder Geiselexekutionen lösten keine Verwunderung aus. Nachfragen galten Details, nicht der Sache an sich. Lediglich bei massenhaften Tötungen etwa von Gefangenen, insbesondere aber von Frauen und Kindern, fiel in den abgehörten Gesprächen mit den Kameraden überhaupt der Begriff des "Verbrechens". Derartige Vergehen wurden meist abgelehnt, und doch schien es nicht weiter verwunderlich zu sein, dass so etwas passierte. Völkerrechtliche Aspekte kamen bei der Deutung des Krieges ohnehin kaum vor. Kriegsverbrechen der Wehrmacht, so zeigt die Auswertung der Abhörprotokolle, spielten in der Wahrnehmung der Soldaten nur eine untergeordnete Rolle. Die eigenen Entbehrungen und Opfer, die eigenen Erfolge, die eigenen Niederlagen waren demgegenüber viel relevanter. Überspitzt formuliert: Das Schicksal der Gegner, sei es jener Soldaten und Zivilisten, die Opfer von Verbrechen wurden, oder auch nur jener, gegen die man auf dem Schlachtfeld kämpfte, fand bei den Soldaten kaum Beachtung.

Vieles, was selbst nach damaligem völkerrechtlichem Verständnis ein Kriegsverbrechen war, wurde von den Zeitgenossen nicht im Entferntesten so wahrgenommen. Und selbst wenn die Soldaten Vorfälle als moralisch verwerflich registrierten, wurden sie rasch als Einzelfälle abgetan oder mit der Schuld anderer begründet. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen beeinflusste das Wissen um Verbrechen die Deutung des Krieges insgesamt. Einige wenige verurteilten deshalb das NS-System, Hitler und den Krieg grundlegend, andere sahen in den Verbrechen eine Notwendigkeit des Weltanschauungskrieges. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten blieb aber weitgehend unbeeindruckt, weil sie das Töten von Gefangenen, die Ermordung von Geiseln im Partisanenkampf und das Ausplündern der besetzten Gebiete schlicht für normal hielten und gar nicht nach besonderen Erklärungen suchten.

Im Zentrum ihrer Gedankenwelt, so zeigen die Abhörprotokolle, aber auch andere Quellen wie Feldpostbriefe und Tagebücher, stand zweifellos das "Kriegshandwerk". Und hier funktionierten die Soldaten wie die allermeisten Menschen auch: Sie wollten ihren Job gut machen und scherten sich wenig um die Folgen ihres Tuns. Erledigt man seine Aufgabe gut, erhält man soziale Anerkennung, Beförderungen und Auszeichnungen. Dies gilt im Frieden ebenso wie im Krieg. Wozu das alles gut war, konnten die meisten nicht sagen. Gewiss, die Verteidigung des Vaterlandes, der eigenen Familie, "denen man durch Kampf und Abwehr eine gesicherte Zukunft geben will", wie der sächsische Gefreite Georg Schleske schon im Januar 1915 in seinem Tagebuch schrieb, war ein häufig verwendetes Stereotyp. Wie Europa politisch nach dem Krieg aussehen sollte, welche Probleme gelöst, welche vielleicht neu geschaffen würden, ob man wirklich der Verteidiger oder nicht doch der Angreifer war, wie viele Menschen durch das eigene Handeln ums Leben kamen, darüber machten sich die allermeisten Soldaten keine Gedanken, und zwar im Ersten Weltkrieg ebenso wenig wie im Zweiten. Und niemand wollte das Rechtmäßige seines Tuns in Frage stellen, weil ihn das in einer totalen Institution wie dem Militär vor große Probleme gestellt hätte. Einfach nach Hause gehen konnte man nicht. Also schien es vernünftiger, Zweifel wegzudrücken, nach positiven Gründen für das eigene Tun zu suchen, seinen Job zu machen und zu versuchen, zu überleben. Sollten doch andere die Verantwortung übernehmen. Oder wie der Gefreite Willy Peter Reese es 1944 literarisch ausdrückte: als Soldat wurde ich "überall getragen und gestützt, brauchte ich selbst nicht zu sein".

Referenzrahmen der Gesellschaft

Menschen handeln nicht im luftleeren Raum. Sie orientieren sich an Ordnungssystemen, die für alle gleichermaßen Klarheit schaffen und zeigen, wie man sich richtig verhält. Diese Referenzrahmen, so der Sozialpsychologe Harald Welzer, werden von sozialen Gruppen wie der Armee und sozialen Situationen wie dem Krieg weiter ausdifferenziert. Ein junger Mann, aufgewachsen im kaiserlichen Deutschland, musste 1914 als Soldat einer preußischen Infanteriedivision an der Westfront also ebenso wenig darüber nachdenken, wie er sich zu verhalten hatte, wie ein Altersgenosse, der 1944 in der Wehrmacht an der Ostfront kämpfte. Auch er stellte nicht in Frage, was er tat und wie er es tat –, es erschien ihm aufgrund der gesellschaftlichen und gruppenspezifischen Rahmenbedingungen selbstverständlich.

Der Krieg ist zweifellos eine der stärksten Kräfte, denen Menschen ausgesetzt sein können. Doch es gibt andere, noch gewichtigere Einflussfaktoren, denn sonst würden alle militärischen Konflikte ähnlich verlaufen. Im Ersten Weltkrieg war die deutsche Besatzungsherrschaft weniger brutal, die Behandlung der Kriegsgefangenen weniger grausam. Es gab keine verbrecherischen Befehle, so wie den Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, der deutsche Truppen ermächtigte, "Straftaten feindlicher Zivilpersonen" auch mit "kollektiven Gewaltmaßnahmen" zu beantworten (siehe Seite 38), oder den Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941, der verlangte, "Politkommissare" der Sowjetarmee ohne Verhandlung zu töten.

Dies lag vor allem an den großen Unterschieden im gesellschaftlichen Werte- und Normensystem. Politik und Gesellschaft radikalisierten sich in Deutschland in den 20 Friedensjahren zwischen 1918 und 1938 erheblich. Rechtsnormen spielen schon 1932 eine viel geringere Rolle als 1913, und in den sechs Jahren vor Kriegsbeginn wurde Deutschland als Rechtsstaat abgeschafft. Juden wurden stigmatisiert, ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, 2000 bis 3000 von ihnen ermordet. Gegen jene, die den Nationalsozialismus ablehnten, ging das Regime mit aller Härte vor. Das soziale Handeln der Gesellschaft hatte sich seit 1933 erheblich verändert und damit beispielsweise auch, welches Maß an Gewalt als normal und legitim galt.

Im Krieg wurden die Rahmenbedingungen von der politischen Führung weiter verschärft, kriminelle Befehle erteilt, Härte und Gewalt gepredigt. Die Soldaten aller Dienstgrade passten sich dem an – mal zögernd, meist aber sehr rasch. Wer meinte, in einem Tausendjährigen Reich zu leben, für den waren die Werte und Normen des Nationalsozialismus tonangebend. Dies galt sowieso für diejenigen, die schon immer an die NS-Bewegung geglaubt und sich ihr früh angeschlossen hatten. So steht zu vermuten, dass die 400 000 SA-Männer "der ersten Stunde" zum Großteil in der Wehrmacht kämpften und das ihre taten, um dieser ein nationalsozialistisches Gepräge zu geben. Der gesellschaftliche Rahmen ist für das Denken und Handeln von Soldaten also ebenso wichtig wie die Gesetze des Krieges.

Referenzrahmen des Militärs

17 Millionen Männer haben sich weitgehend problemlos in die Wehrmacht integriert. In der deutschen Gesellschaft hatte sich spätestens am Ende der 1920er-Jahre ein Wertesystem ausgebildet, das dem des Militärs sehr ähnlich war. Pflichterfüllung, Vaterlandsliebe, absoluter Gehorsam und unbedingte Loyalität waren bereits vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gesellschaftlich tief verankert. 1933 war der Boden für eine umfassende Durchdringung der deutschen Gesellschaft mit dem Wehrgedanken somit längst bereitet.

QuellentextEin deutscher Infanterieoffizier über seine Soldaten

22.6.1942:

Aber in solchen Stunden bekommt man auch wieder – auch als der Offizier, dem es selber nicht anders geht – eine grenzenlose Hochachtung vor der Haltung des kleinen Mannes und einfachen Landsers, der gar kein "Idealist" ist von Haus aus, sondern ein nüchterner und alltäglich denkender Realist, dessen private Wünsche und Interessen sehr weit weg liegen von dem, was er jetzt tun muss, der keinen militärischen Ehrgeiz hat, der ihm dieses Elend erleichtern könnte, der vielleicht Jahre hindurch diesen Krieg mitmachen muss und doch noch ohne Orden und Ehrenzeichen nachhause kommt – denn alle kriegen die ja nicht –, der morgen vielleicht schon totgeschossen wird und der das alles doch mit einer stoischen Ruhe und Gelassenheit hinnimmt. Da ist kein Schimpfen und Toben, kein Wutgeschrei oder Verzweiflungsausbruch, sondern eher fast eine gelassene oder grimmige Heiterkeit, eine Art Eulenspiegelphilosophie: Grösser kann die Sch…. nicht mehr werden, also muss es uns bald wieder besser gehen.

26.11.1943:

Von da aus kann man alles sehen, und deshalb sind erhebliche Teile meiner HKL auch nur zur Nachtzeit zugänglich. Die Neigung meiner Landser, auch bei Tage hin- und herzulaufen mit der Begründung – "och, er schiesst ja nicht immer!" –, bekämpfe ich mit allen Mitteln. Nicht allein der eben doch immer möglichen Verluste wegen, sondern weil ich ganz genau weiß, dass der Iwan – ebenso wie wir – seine Beobachtung natürlich sammelt, auf diese Art die Lage der Bunker, die Verbindungs- und Versorgungswege, die Essenausgabestellen u. -zeiten usw. ermittelt und diese Kenntnisse dann eines Tages, wenn es darauf ankommt, mit vernichtender Wirkung auswertet. Aber den Landser kümmern solche Überlegungen wenig. Er lebt den Tag, ihn interessiert das Essen, die Post und der nächste Urlaub, und alles andere ist ihm weitgehend wurst.

Kriegstagebuch Theodor Habicht, Inf.Rgt. 27 / Gren.Rgt. 547; Bundesarchiv-Militärarchiv (BArch MA), MSg 2/12956 (22.6.1942) / MSg 2/12958 (26.11.1943)

Rolle der Wehrmacht und militärischer Werte

Mit der Einberufung wurde dann ein Wertekanon bestätigt, der den Männern längst geläufig war: Die Wehrmacht sei eine der leistungsfähigsten Armeen der Welt, der deutsche Soldat sei potenziell der beste der Welt, es sei seine Pflicht, tapfer, hart, siegreich und angesichts einer drohenden Niederlage bis zur letzten Patrone zu fechten. Kämpfte man als Soldat erfolgreich, so konnte man sein Gesicht, seine Ehre wahren, auch wenn die Schlacht oder gar der Krieg verloren ging. Man war dann selbst nicht schuld – konnte sozusagen nichts dafür. Man befand sich in der Rolle eines Fußballspielers, der gut spielt und erhobenen Hauptes vom Platz geht, obwohl sein Team verliert.

Dieser Logik entsprechend wurde die Wehrmacht – trotz aller Kritik im Einzelnen – als Institution niemals in Frage gestellt. Zu kämpfen war eine Pflicht, die zu erfüllen den allermeisten selbstverständlich war. Und erst als die Wehrmacht im Herbst 1944 und vor allem im Frühjahr 1945 den Zusammenhalt verlor, Ordnung, Struktur und Einheit im Chaos der Niederlagen verlorengingen, waren immer mehr Soldaten bereit, den Kampf aufzugeben und in Gefangenschaft zu gehen. Bis dahin wurde die Wehrmacht – nicht zuletzt wegen der großen Erfolge der ersten Kriegsjahre – als Organisation sehr positiv wahrgenommen, als effektiv, leistungsfähig und erfolgreich. Und dies selbst von solchen Soldaten, die das NS-System massiv kritisierten.

Dies lag gewiss auch daran, dass die politische und militärische Führung aus dem Klassensystem der kaiserlichen Streitkräfte gelernt hatte: In der Wehrmacht bekamen alle das gleiche Essen, trugen die gleiche Uniform, erhielten die gleichen Orden. Das Kämpferideal galt nun auch für die hohen Offiziere, und das Führen von Vorne wurde zum Prinzip. 289 deutsche Generäle sind im Zweiten Weltkrieg gefallen, mehr als doppelt so viele wie im Ersten. So war der innere Zusammenhalt deutscher Soldaten 1939 bis 1945 insgesamt zweifellos höher und ihre Moral besser als 1914 bis 1918.

Der Blick auf militärische Werte, die in ähnlicher Ausprägung auch in anderen Armeen zu finden waren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wehrmacht Teil der nationalsozialistischen Gesellschaft war. Das bedeutet nicht, dass alle Soldaten überzeugte Nationalsozialisten sein mussten. Doch die Institution war dem NS-Staat treu ergeben und gab den Soldaten vor, was sie zu tun und zu lassen hatten. Konkret hieß dies, etwa in der Sowjetunion keinerlei Rücksichten zu nehmen sowie hart und erbarmungslos zu kämpfen. Obwohl die meisten Generäle einem eher konservativ-monarchistischen Weltbild anhingen, sorgten sie dafür, dass der Krieg in der Sowjetunion im nationalsozialistischen Sinne geführt wurde. Ihre Anpassungsleistung war aus Sicht Hitlers nahezu perfekt. Gewiss, er traute der Wehrmacht nicht alles zu. Zahlreich waren seine Klagen, dass sie eben doch zu weich für den Weltanschauungskrieg sei. So überließ er die Mordaktionen im Hinterland lieber den Einsatzgruppen der SS und stellte mit der Waffen-SS eine politische Armee auf. Doch es gab allenfalls halbherzige Bemühungen, die Befehle Hitlers abzumildern, und zahllose Wehrmachtoffiziere waren selbst von der Notwendigkeit einer radikalen Kriegführung überzeugt. Militärgerichte ließen 1939 bis 1945 20 000 deutsche Soldaten wegen "Feigheit vor dem Feind" hinrichten. 1914 bis 1918 waren es gerade einmal 48. Dies ist ein deutlicher Beleg für die Veränderungen des militärischen Referenzrahmens, zumal es die meisten Soldaten bis zur exzessiven Anwendung der Todesstrafe ab Frühjahr 1945 als vollkommen normal erachteten, dass Überläufer und "Feiglinge" mit dem Tode bestraft wurden.

Rolle von Ideologie und politischer Überzeugung

Nach wie vor ist heftig umstritten, welche Rolle politische Überzeugungen für die Soldaten spielten. Können etwa die Verbrechen der Wehrmacht damit erklärt werden, dass die Landser Nazis waren? Die Abhörprotokolle und Feldpostbriefe zeigen, dass sich die große Mehrheit der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges für komplexere politische Fragen nicht interessierte. Über die NS-Ideologie in einem differenzierten Sinne wurde kaum diskutiert. Es finden sich in den Quellen nur wenige tiefer gehende Reflexionen über "Rassenfragen", die Neuordnung Europas oder den "Kreuzzug gegen den Bolschewismus". Die Beurteilung der Kameraden war ebenfalls nicht an deren politische Überzeugungen gebunden. Ob jemand Nationalsozialist, Kommunist oder ein Sozialdemokrat war, spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, welche Leistungen er als Soldat erbrachte, ob er "schneidig" und tapfer oder ängstlich und feige kämpfte. Soweit glichen die Soldaten des Zweiten jenen des Ersten Weltkrieges.

Und doch gab es einen gewichtigen Unterschied. Politik vermittelt sich nämlich nicht durch gelehrte Diskussionen, sondern durch die soziale Praxis, die zur Aneignung ideologisch gefärbter Normen führt. Die Vorstellung von der Ungleichheit der Rassen, das Einverständnis zum Ausschluss der Juden aus der "Volksgemeinschaft", die Rechtfertigung von Verbrechen und die Selbstverständlichkeit eines Härteideals teilten wohl die meisten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Sie leiteten dies mehrheitlich gewiss nicht aus dem Schrifttum der NSDAP ab, sondern es erschien ihnen schlicht als gegeben und bedurfte keiner weiteren Begründung. Insofern hatten die Soldaten des Jahres 1943 sicherlich einen ideologischeren Referenzrahmen als jene des Jahres 1916. Überzeugte Weltanschauungskrieger, die ihr Denken und Handeln bewusst in einen nationalsozialistischen Kontext stellten, bildeten gleichwohl nur eine deutliche Minderheit, die mit zunehmender Kriegsdauer immer kleiner wurde. 1944 machten sie vielleicht noch fünf bis zehn Prozent der Soldaten aus.

Welche Rolle spielte die Ideologie für das Handeln der Soldaten? Zweifellos haben nationalsozialistische Wertvorstellungen zu Dispositionen geführt, die Gräueltaten begünstigten. Ob es dann aber wirklich zu einem Verbrechen kam, hing ganz erheblich von der konkreten Situation und der jeweiligen Befehlslage ab. Es gab Nationalsozialisten, die keine Kriegsverbrechen begingen, und NS-Kritiker, die es taten. Dieser Befund ist durchaus beunruhigend, denn die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, dass fast jeder Mensch die fürchterlichsten Verbrechen begehen kann, wenn die situativen Rahmenbedingungen dies geboten erscheinen lassen. Ob jemand im Zweiten Weltkrieg zum Täter wurde, hing dann meist von Zufällen ab, etwa in welcher Einheit oder an welchem Frontabschnitt er kämpfte.

QuellentextEin Gespräch über den Massenmord

C.S.D.I.C. (UK), G.R.G.G. 197, [TNA, WO 208/4363]

Bericht über am 20. und 21. Sept. 44 von höheren PW-Offizieren erlangte Informationen
Gespräch von General Heinrich Eberbach mit seinem Sohn, OLt. z. S. Heinz Eugen Eberbach
(e)

Sohn: Was sagst du zu den Leuten wie Himmler und Goebbels und so, Speer?
Vater: Also Himmler ist zweifellos einer von den Leuten, die uns in der ganzen Welt am meisten geschadet haben.
Sohn: Ja, das hat er, aber da ist ja die Frage, ob er nicht wahnsinnig viel geleistet hat.
Vater: Nein, nein, wir sind von einem gewissen Mindestmass Menschlichkeit und Anständigkeit, das man doch einfach haben muss, weil nämlich sonst der Pendel der Geschichte gegen einen einschlägt; ich habe früher dir schon einmal gesagt, da bei diesem Geschichtsbuch, das ich da immer mitgeschleppt habe, dass das eine meiner Erfahrungen aus der Geschichte ist. Ich meine, man kann sogar vielleicht noch so weit gehen, dass man sagt, gut, es müssen eben diese Million Juden, oder wie viele wir da umgebracht haben, gut, das musste eben im Interesse unseres Volkes sein. Aber die Frauen und die Kinder, das musste nicht sein. Das ist das, was zu weit geht.
Sohn: Nun ja, wenn die Juden, dann auch die Frauen und Kinder, oder mindestens auch die Kinder. Brauchen sie gar nicht öffentlich machen, aber, was nützt mir das, wenn ich die alten Leute umlege.
Vater: Ja, das geht einfach zu sehr gegen die Menschlichkeit, das schlägt letzten Endes gegen einen selber, einfach weil es schon auch eine solche Roheit ins Volk hineinbringt, das sind ja Dinge, die ich teilweise erst hier so erfahren habe von den Offizieren, die das selber miterlebt haben – was haben wir an Polacken umgebracht, wir haben mindestens eine Million umgebracht, was haben wir in Jugoslawien umgebracht – ich habe das auch nie gewusst. Ich habe es auch nie getan. Was haben wir an Russen umgebracht, nicht nur Polen, 10000e. [...]

Sönke Neitzel, Abgehört: Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, © 2005 Propyläen Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 6. Aufl., Berlin 2012, Seite 139 f.

Referenzrahmen des Individuums

Ludwig Crüwell und Wilhelm Ritter von Thoma waren gleich alt und durchliefen eine beinahe identische militärische Karriere. Sie kämpften als junge Frontoffiziere im Ersten Weltkrieg, dienten in der Reichswehr und stiegen in der Wehrmacht zum General auf. Beide kommandierten Panzerdivisionen an der Ostfront, waren zuletzt Befehlshaber des Afrika-Korps und gerieten im Mai bzw. November 1942 in britische Gefangenschaft. Man möchte meinen, dass sie sich sehr ähnlich waren. Doch sie deuteten Krieg und Nationalsozialismus denkbar unterschiedlich. Crüwell war ein glühender Anhänger Hitlers, glaubte fest an den "Endsieg" und bestritt vehement den verbrecherischen Charakter der deutschen Kriegführung. Thoma war ein ebenso glühender NS-Gegner, hielt bereits Ende 1942 den Krieg für verloren und empörte sich über die ungeheuerlichen Gräueltaten.
Das Beispiel zeigt, dass selbst in der Militärelite ganz unterschiedliche Persönlichkeiten anzutreffen waren. Und dieser Befund trifft erst recht zu, wenn man die ganze Wehrmacht mit ihren 17 Millionen Soldaten – einen Querschnitt der männlichen deutschen Bevölkerung – in den Blick nimmt. Hier fanden sich Arbeiter, Angestellte und Akademiker, Nationalsozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten, Protestanten, Katholiken und Atheisten, Österreicher, Mecklenburger, Ostpreußen und Westfalen.
Doch hatten die Sozialmilieus einen Einfluss auf das Denken und vor allem auf das Handeln der Männer? Auf den ersten Blick kaum. So sehr sich Crüwell und Thoma in ihren politischen Überzeugungen unterschieden, so sehr ähnelten sie sich in ihrem Handeln als Berufsoffiziere: Sie wollten vor allem die ihnen gestellten Aufgaben an der Front gut erfüllen. Auch die große Masse der einfachen Soldaten akzeptierte, wie wir bereits gesehen haben, die Regeln des Militärs und sah es zumindest bis zum Herbst 1944 – und im Ersten Weltkrieg bis Sommer 1918 – als ihre Pflicht an, für Deutschland zu kämpfen.
Und doch handelten die Soldaten nicht alle gleich. Selbst auf der untersten Ebene gab es in einer totalen Organisation wie einer Armee noch Entscheidungsfreiheiten, Gelegenheiten, sich so oder so zu entscheiden: einen Gefangenen zu erschießen oder ihn laufenzulassen, sich zu ergeben oder weiterzukämpfen. Das Bild von der Truppe ist keineswegs einheitlich. Der wichtigste Unterschied betrifft zweifellos die Moral. Es gab intrinsisch motivierte Soldaten, die unbedingt kämpfen wollten und auch noch schossen, wenn es niemanden mehr gab, der ihnen dies befahl. Die meisten aber waren Mitläufer, die nur ihre vermeintliche Pflicht taten, mehr aber nicht.
Hoch motivierte "Krieger" finden sich besonders häufig unter den Offizieren und den Unteroffizieren. Oberleutnant Ernst Jünger war einer von ihnen. Als er bei einem Sturmangriff am 25. August 1918 – gut zwei Monate vor Kriegsende – einen Brustdurchschuss erlitt, musste er hilflos mit ansehen, wie sich Soldaten seiner Kompanie den Engländern ergaben. "Leider konnte ich kein Gewehr regieren", so Jünger in seinem Tagebuch, "um die ganze Lumpenbagage zusammenzuknallen." Ganz ähnlich klang der 25-jährige Pionierhauptmann Werner Otto im Dezember 1944. Er zeigte sich noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft vollkommen verständnislos darüber, dass einige "Scheißkerle" seines Panzerpionierbataillons 220 "nicht mehr gewollt" hätten und sich, ohne einen Schuss abzufeuern, ergeben hätten. Manche Historiker glauben, dass die Zahl solch besonders motivierter Soldaten in der Wehrmacht höher gewesen sei als in der kaiserlichen Armee und dass so die große Kampfkraft und das lange Aushalten bis Mai 1945 zu erklären seien.

National spezifische Prägungen

Werte, Normen und Gebote der Gesellschaft und des Militärs, persönliche Prägungen und schließlich die konkrete Situation des Kämpfens bilden als komplexes Beziehungsgeflecht den Rahmen für soldatisches Denken und Handeln. Dies gilt heute ebenso wie für die beiden Weltkriege.

Und doch waren und sind nicht alle Armeen gleich. Abgesehen von den Unterschieden in der Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung unterschied sich der Referenzrahmen etwa der deutschen, italienischen und japanischen Soldaten teilweise erheblich. Während auf den Pazifikinseln die japanischen Garnisonen praktisch bis zum letzten Mann kämpften und den Tod der Gefangenschaft vorzogen, ergab sich die Wehrmacht meist erst nach hartem Gefecht.

QuellentextEinstellungen von US-Soldaten

"Der Krieg hatte die Soldaten verändert. Zynischer, brutaler, mit geänderten Vorstellungen für ihre persönliche Zukunft, erwarteten sie das Ende des Krieges. Daß die Amerikaner ihrem Land besonderen Patriotismus gezollt hätten, geht aus der […] Feldpost nicht hervor. Wie alle anderen Soldaten hatten sie Heimweh, setzten sich mit ihren Vorgesetzten auseinander, kritisierten das Armeeleben und freuten sich auf die Heimkehr.
Die Zensur trug sicherlich ihren Anteil an der Homogenität der Briefe, konnte aber nicht alle negativen Äußerungen verhindern. Vom Kriegsverlauf durften die Soldaten nichts berichten, genau so wenig von den Brutalitäten und Entbehrungen des Kriegslebens. Patriotische Äußerungen hätte die Zensur sicher nicht unterbunden. Statt Stolz klangen jedoch Frustrationen in der Feldpost deutlich durch. Die Soldaten paßten sich zu einem gewissen Grad an die Zensur an, verliehen aber dennoch ihren Gefühlen in den Briefen Ausdruck. Kritik an Militär und Politik stand meist zwischen den Zeilen. Im Laufe der Kriegsjahre nahm die Zahl der Beschwerden in den Briefen zu. Sie reflektieren die zunehmende Ermüdung der amerikanischen Soldaten, die trotz des Siegeszuges schwer am Kriegsdasein trugen.
Zudem wirkte sich das Leben im Militär auf die Persönlichkeiten der Soldaten aus. Die Trennung von gewohnten Lebensumständen zwang die Soldaten, neue Überlebensmechanismen zu entwickeln. Die […] Briefsammlungen zeigen, daß der Krieg die Soldaten über Jahre hinweg psychisch veränderte. […] Bei aller Vorsicht, die Soldaten und Vorgesetzte gleichermaßen in den Briefen an die Angehörigen walten ließen, stehen zahlreiche Hinweise auf Radikalisierung, suchtähnliche Verhaltensweisen und Verrohung zwischen den Zeilen. […] Obwohl sich der Sieg der Amerikaner im Laufe des Jahres 1944 abzeichnete, kämpften die G. I. s nicht mit Euphorie. Dagegen beschrieben die Briefe, wie sowohl Soldaten als auch der Offizier versuchten, die blutige Auseinandersetzung zu überleben, persönlich zu verkraften und die Zeit bis zur Heimkehr zu verkürzen. Von einer breitflächigen Identifikation mit amerikanischen Kriegszielen in den Feldpostbriefen der Gefreiten kann man nicht sprechen."

Johanna Pfund, "Zurück nach Hause!" Aus Feldpostbriefen amerikanischer GIs, in: Detlef Vogel, Wolfram Wette (Hg.), Andere Helme – andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Klartext-Verlag Essen 1995, Seite 301

QuellentextEin typisch japanischer "Spiritual Talk"

The following are extracts from a speech made by a Japanese lieutenant to his men before going into battle:

When we fight, we win. When we attack, we capture. The results of our recent glorious battles are facts acknowledged by all. What induces these admirable military achievements? America, England, and China, whose natural resources, physical strength, and equipment are not inferior to ours, were routed miserably in battles with the Imperial Army. Here we must consider that for some reason they have defects. If so, what are those defects?
Fundamentally, America and England are countries which traditionally value individualism. It is known from American and English literature and orations that the people regard the state as an assembly of individuals. Accordingly, the individual is of supreme importance, and the state secondary. Thus, it is quite understandable that there is no disgrace in the individual sacrificing everything to save his life when endangered.
China is a country dominated by the family system. From ancient times the traditions of a perennial family have been observed and respected, but the people have little interest in changes of the constitution of the country. Their past history reveals twenty changes of dynasties. Among them were families, but nothing higher. The Chinese still observe the family system, as of old. Recently, their leaders have endeavored to arouse national consciousness, but the crust of tradition still remains unbroken. It stands to reason that such a people cannot win in the arena of modern decisive battles.
Then, what about Japan? It is a known fact that Japan is not an individualistic country. It is not even a country of family systems. In Japan, the family is stressed; blood ties are highly regarded and ancestors are worshipped more than in China. But there is much more than this in Japan. There is the Imperial Family, unique in this world, that is over us. The Imperial Family is the light, the life, the pride of Japan. In truth, Japan is Japan and the Japanese are Japanese because of the Imperial Family. From this consciousness the Japanese spirit is born. A loyalty, which utterly disregards the safety of the home and family, even one’s own life, for the welfare of the Emperor and country, is born. This special Japanese spirit is something peculiarly Japanese, quite different from anything American, English, or Chinese. When setting out to do things, we who possess this special Japanese spirit can accomplish our duty; but those who do not have it, perform only a superficial duty. Thus, in the arena of decisive battles, the issue between the enemy and ourselves is already decided.
Carry out your duty with sincerity, self-sacrifice, and patriotism, and strengthen your determination to adopt an honorable attitude when dying or wounded.
The spirit of bushido has been spoken of from olden times in these words: "Among flowers, the cherry; among men, the warrior". With this spirit hold your ground without yielding a step, no matter what wounds you may receive, and thus make your end glorious by carrying out your duty calmly.

The National Archives, London [TNA, WO 208/1447]
Dieses Dokument wird in englischer Übersetzung wiedergegeben, weil eine verlässliche deutsche Übersetzung nicht auffindbar war.

Italienische Soldaten kapitulierten vielfach vorzeitiger, weil sie häufiger als die Deutschen den Staat als ein feindliches Organ ansahen, dessen Interessen nicht die seiner Bürger waren. Ähnliche Ansichten hegten sie oft über die italienische Armee, deren Offiziere ihnen als eine "inkompetente, feige Clique" galt, die ihre Posten nicht durch Leistung, sondern einzig durch Vetternwirtschaft erhalten hatte.

Ganz anders in Japan: Die wichtigsten militärischen Regeln – Gunjin Chokuyu, Senjinku und Bushido, Verhaltenskodizes der Samurai, mit kaiserlichem Erlass von 1882 für das Verhalten in der Schlacht vorgeschrieben – verpflichteten die Soldaten zu Loyalität, Tapferkeit, Mut und vor allem zu absolutem Gehorsam. Rückzug war verboten, und die Männer wurden vergattert, sich niemals zu ergeben. Diese Wertvorstellungen waren auch deshalb so wirkungsmächtig, weil sie auf der auch in der Zivilgesellschaft verankerten Überzeugung aufbauten, dass Gefangenschaft etwas zutiefst Unehrenhaftes sei. Sie bringe nicht nur Schande über einen selbst, sondern auch über die eigene Familie. Deshalb begingen zahllose japanische Soldaten in hoffnungsloser militärischer Lage lieber Selbstmord, als sich in die Hände des Feindes zu begeben. Bis März 1945 hatten die Alliierten lediglich knapp 12 000 japanische Soldaten interniert, aber Millionen von Wehrmachtsoldaten.

Der gesellschaftliche und militärische Referenzrahmen unterlag also national spezifischen Prägungen. Wer aus japanischer Perspektive ein vorbildlicher Soldat war, war für die meisten Italiener eher ein Dummkopf und für die Wehrmachtsoldaten ein teils bewunderter, teils verachteter Fanatiker. Solch große Unterschiede hatte es im Ersten Weltkrieg zumindest bei den Armeen der klassischen Großmächte nicht gegeben. Die gesellschaftlichen Wertesysteme waren ähnlicher als im Zweiten, und das Verhalten der Soldaten auf dem Schlachtfeld wies weniger Unterschiede auf.

QuellentextDer Umgang mit dem Tod – Bericht eines japanischen Soldaten

Extracts from an account by Private Takeshi Uchiyama published under the title "The Frontline in the South Seas" in the "FUJI", October 1943, are reproduced below from S.E.A.C. and I. C. Weekly Intelligence Summary NO. 118. This article throws further light on the characteristics of the Japanese:

[…] What the troops are always considering seriously is the question of suicide in the case of emergency. When it comes to a desperate fight, we may unfortunately be severely wounded and fall prisoners into the enemy’s hands. For a Japanese to be taken prisoner is not only a personal disgrace, it is the greatest dishonour that can befall his whole family. Accordingly, we are giving serious consideration to the question how to commit suicide in such an event.
As for myself, I have fortunately procured some potassium cyanide which I have put in a small phial and stitched inside my collar, so that in the last issue I shall by no means die by the bayonet. As I intend to take poison – thanks to it – I can go into the front line resolutely. All the troops who are engaged in dangerous places, by a previous agreement, are declaring that they each want a dose of poison for suicide. Those who possess revolvers will keep the last cartridge for themselves. They do not say this because they want to die at once and be put out of their misery. They are convinced that when the end comes, this is the most certain way of dying. It is the poignant cry of those, who feel their shame.
The enemy, however, take a completely different view. They desire by all means to save their lives. Recently, when we examined some prisoners from an enemy plane that had been brought down, they said that they would have received a reward if they had bombed the Japanese forces. As they grudged their lives, however, they had dropped their bombs into the sea or on the mountains and fled home. Consequently, now an observer is put on every Boeing and Consolidated plane to make certain that every bomb is dropped on the enemy. In this respect I think that their airmen and ours are totally different. They are quite unconcerned about being taken prisoner. Give them a few cigarettes and they sing and dance with glee. They are indeed despicable. […]
On this occasion I have returned from the front bringing the remains of the fallen soldiers. In the army we regard these ashes as more precious than living beings. When we were on board ship we were given strict instructions by the officer-in-charge as follows: – "You are about to cross seas that are dominated by enemy submarines. You know now what may befall you. If the ashes of those who have fallen in battle are lost and their spirits are again made to meet a second death, we who are responsible for bringing home those ashes, will be without excuse before their bereaved families. Whatever happens, even though the ship sinks, do all you can to save these ashes."
[…] Every one of us in charge of these boxes of ashes kept them by our sides continually. At night we tied them to our waists with a rope attached to a life belt, so that if we were struck by a torpedo and had to dive overboard, though we might be drowned, the boxes of ashes would certainly float.

The National Archives, London [TNA, WO 208/1447]
In Englisch wiedergegeben, weil eine verlässliche deutsche Übersetzung nicht auffindbar war.

Sönke Neitzel ist Professor für International History an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er studierte in Mainz Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaft, wurde dort 1994 promoviert und 1998 habilitiert. Anschließend lehrte er an den Universitäten Mainz, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken, bevor er 2011 auf den Lehrstuhl für Modern History an der University of Glasgow berufen wurde. Seit September 2012 lehrt und forscht er an der LSE.
Einem breiteren Publikum wurde er durch sein Buch "Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft, 1942-1945" bekannt, das 2005 erschien.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Militärgeschichte und die Geschichte der Internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Kontakt: E-Mail Link: s.neitzel@lse.ac.uk