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Politik in der Bismarck-Ära | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de

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Politik in der Bismarck-Ära

Prof. Dr. Benjamin Ziemann

/ 12 Minuten zu lesen

Otto von Bismarck ging als einer der erfolgreichsten Machtpolitiker in die deutsche Geschichte ein. In wechselnden Bündnissen und mit autoritärer Manier sucht er seine politischen Ziele durchzusetzen, doch Maßnahmen wie der Kulturkampf und das Sozialistengesetz sorgen für eine fortschreitende Entliberalisierung und innenpolitische Polarisierung des Reiches.

Otto von Bismarck (1815–1898), hier während einer Rede im Reichstag am 6. Februar 1888, bestimmt über lange Jahre die Politik des Deutschen Kaiserreichs und setzt mit wechselnden Koalitionen seine politischen Ziele durch. (© akg-images/DeAgostini Picture Library)

Die Politik der "liberalen Ära" der Jahre ab 1871 stand im Zeichen einer Zusammenarbeit zwischen Bismarck und den Nationalliberalen. Zusammen mit den Linksliberalen der Deutschen Fortschrittspartei und einer kleineren liberalen Partei verfügten diese über eine komfortable Mehrheit im Reichstag. Diese Kooperation war nicht frei von Konflikten, wie sich etwa 1874 im Streit über den Militärhaushalt zeigte. In diesem Jahr lief das sogenannte Pauschquantum aus, ein über vier Jahre laufender Etat, den der Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 bewilligt und dann 1871 nochmals um drei Jahre verlängert hatte. Die Linksliberalen forderten nun eine jährliche Bewilligung der Militärausgaben. Doch die Mehrheit der Nationalliberalen stimmte einem Kompromiss zu, nach dem der Reichstag nur in jeder zweiten Legislaturperiode, alle sieben Jahre, die Militärausgaben bewilligte (Septennat). Insgesamt jedoch überwog die Kooperation. Die liberale Mehrheit im Reichstag setzte das 1867 im Norddeutschen Bund begonnene Reformwerk fort und schuf durch die legislative Aufhebung korporativ-ständischer Hemmnisse die Grundlagen für eine moderne reichsweite, kapitalistische Verkehrsgesellschaft.

QuellentextOtto von Bismarck – der "weiße Revolutionär"

Bereits vor seinem Tod 1898 war Otto von Bismarck zum Gegenstand mythologischer Überhöhung geworden. Zu seinem 80. Geburtstag 1895 wurden ihm Hunderte von Ehrenbürgerschaften angetragen. Nach seinem Tod entstanden allerorten in Deutschland Bismarck-Denkmäler und Bismarck-Türme. In ihrer massiven, trutzigen Darstellung der Gestalt Bismarcks in Uniform und Pickelhaube verkörpern sie das Bild des "Eisernen Kanzlers", der die Deutschen als Reichsgründer in die nationale Einheit geführt hatte. Bismarck selbst hatte mit seinen als "Gedanken und Erinnerungen" publizierten Memoiren die Vorstellung bestärkt, die deutsche Einheit sei ein planvoll verfolgtes Ziel seiner Politik gewesen. Dabei war die nationale Selbstbestimmung tatsächlich alles andere als ein leitender Wert für den preußischen Machtpolitiker Bismarck gewesen.

Otto von Bismarck wurde 1815 als Sohn eines adeligen Landbesitzers in der Mark Brandenburg geboren. Seine Mutter entstammte allerdings einer bildungsbürgerlichen Familie. Sie sorgte dafür, dass er eine für die provinzielle Welt der adeligen "Junker" ungewöhnlich breite Ausbildung erhielt. An den Besuch des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin schloss sich das Jurastudium an. Doch Bismarck war mit der eintönigen Routine der staatlichen Verwaltungslaufbahn, auf die diese Ausbildung hinführte, extrem unzufrieden und brach das Referendariat 1839 ab. Ihn zog es auf den Familienbesitz zurück, und er widmete sich für mehrere Jahre der Bewirtschaftung von drei Gütern.

Nur durch Zufall zog er als Nachrücker in den Vereinigten Landtag ein, den König Friedrich Wilhelm IV. 1847 einberufen hatte. Dort erwarb er sich rasch den Ruf eines Ultraroyalisten, der bedingungslos den König unterstützte. Dabei war Bismarck durchaus offen für verfassungsstaatliche Ideen, auch wenn er gleichzeitig die ökonomischen Interessen des grundbesitzenden Adels verteidigte. Für die Durchsetzung der machtpolitischen Interessen Preußens war er bereit, taktische Kompromisse einzugehen und das monarchische Legitimitätsprinzip bei anderen Herrschern zu missachten. Der Liberale Ludwig Bamberger (1823–1899) hat Bismarck deshalb treffend als einen "weißen Revolutionär" beschrieben, der machtstaatliche Ziele mit revolutionären Mitteln zu erreichen suchte.

Von 1851 bis 1859 war Bismarck der preußische Gesandte beim Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main. Dort erhielt er praktischen Anschauungsunterricht über den Dualismus zwischen Österreich und Preußen im Deutschen Bund. Bismarck wandte sich entschieden gegen den Anspruch Österreichs, weiterhin die Vormacht im Deutschen Bund zu sein, und beklagte rückblickend mit gehöriger Übertreibung, dessen Vertreter hätten den Bund als ein Instrument zur "Verminderung Preußens" zu handhaben versucht. Nach Stationen als preußischer Gesandter in St. Petersburg und Paris kehrte er im September 1862 nach Berlin zurück, wo Wilhelm I. ihn zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister ernannte. Seine erste große Bewährungsprobe war der Verfassungskonflikt über die Heeresreform. Dieser Streit zwischen dem von einer liberalen Mehrheit beherrschten Abgeordnetenhaus und dem Militär erreichte seinen Höhepunkt, als das Parlament die Ausgaben für die Reform nicht bewilligte. Bismarck vertrat die These von einer "Lücke" in der Verfassung für den Fall, dass es zwischen Krone, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus nicht zu einer Einigung über das Budget käme. Nach dieser "Lückentheorie" konnte die Regierung mit Billigung des Königs dann auch ohne gültigen Haushalt amtieren.

Auch nach dem Epochenjahr 1866, das mit dem Sieg Preußens über Österreich den Deutschen Bund endgültig sprengte und zugleich die Mächtekonstellation in Europa nachhaltig veränderte, arbeitete Bismarck nicht zielstrebig auf eine Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Nationalstaat hin. Allerdings ließ sich seiner Überzeugung nach die monarchische Legitimität – also die Rechtfertigung königlicher Herrschaft – auf Dauer nur erhalten, wenn sie in die neue Form des Nationalstaates überführt werden konnte, der eine moderne, integrative Verfassungsordnung bereitstellte.

Aus diesem Grund konnte Bismarck 1866 das Bündnis mit dem gemäßigten Flügel der liberalen Nationalbewegung eingehen, das erst den Norddeutschen Bund und dann das Reich zu einer integrativen politischen Ordnung ausbaute. Durch diesen Schritt entfremdete sich Bismarck allerdings von seiner politischen Heimat, den preußischen Konservativen. Diese beklagten die preußischen Annexionen von 1866 als "Kronenraub" und Verletzung des Legitimitätsprinzips und sahen in dem Bündnis mit den Nationalliberalen eine konservativen Prinzipien widersprechende Realpolitik. So führte das Epochenjahr 1866 auch zur Spaltung des preußischen Konservativismus. 1867 gründete sich die Freikonservative Partei (ab 1871 Deutsche Reichspartei), die anders als die Altkonservativen Bismarcks Politik vorbehaltlos unterstützte.

Der Kulturkampf

Der wichtigste innenpolitische Konflikt der 1870er-Jahre betraf das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche. Da die Kompetenz für Angelegenheiten der Kultur und Kirche im föderalen System bei den Ländern lag, fand dieser Kulturkampf ab 1871 vornehmlich in Preußen statt. In Baden und Bayern hatte der Konflikt bereits in den 1860er-Jahren eingesetzt. Der bekannte Mediziner und Abgeordnete der Fortschrittspartei Rudolf Virchow (1821–1902) prägte den Begriff "Kulturkampf" 1873. Er bezeichnete damit das Ringen um die Autonomie der modernen Kultur, die er als Kern der Auseinandersetzung betrachtete. Der Kulturkampf in Deutschland war Teil einer Serie von erbitterten Konflikten zwischen liberal-antiklerikalen Kräften auf der einen Seite und der katholischen Kirche auf der anderen Seite, die in fast allen westeuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbrachen. Die Überlagerung dieses Konflikts mit der konfessionellen Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken war dabei eine deutsche Besonderheit.

In Deutschland gab es keine Staatskirche wie etwa die an­glikanische Church of England. Dennoch gab es wichtige Bereiche, in denen Staat und Kirchen zusammenarbeiteten – etwa in der staatlichen Förderung der theologischen Fakultäten –, und solche, in denen sich die Kompetenzen überlappten, wie bei den Volksschulen. Bei den protestantischen Liberalen, die eine treibende Kraft des Konflikts waren, überwog die negative Wahrnehmung des Katholizismus. Dieser erschien ihnen als das autoritäre Gegenbild der rationalen und individualistischen Moderne. Die papsttreue Ausrichtung der ultramontanen ("über die Berge", also nach Rom ausgerichteten) Katholiken nährte Zweifel an ihrer nationalen Zuverlässigkeit.

Für Bismarck war dagegen der Kampf gegen die 1871 gegründete katholische Zentrumspartei das wichtigste Motiv. Die Partei befürwortete das Reich, kooperierte im Reichstag aber mit den Vertretern von Partikularisten und Minderheiten. Dazu zählten die Welfen, die dem 1866 von Preußen annektierten Königreich Hannover nachtrauerten, und Abgeordnete der polnischen Minderheit, die vor allem aus den östlichen preußischen Provinzen Posen und Westpreußen kamen. Ferner kooperierte das Zentrum mit jenen Abgeordneten, die das 1871 von Frankreich annektierte "Reichsland" Elsass-Lothringen vertraten. Diese Ansätze einer Opposition waren für Bismarck Anlass genug, das Zentrum und die Katholiken pauschal als "Reichsfeinde" zu denunzieren.

Die liberale Mehrheit im Reichstag und im preußischen Landtag setzte den Kulturkampf durch den Erlass von Gesetzen in Gang. Auf Reichsebene untersagte der "Kanzelparagraph" im Strafgesetzbuch Ende 1871 den Geistlichen, sich in Ausübung ihres Amtes zu politischen Angelegenheiten zu äußern. Dies wurde als Störung des "öffentlichen Friedens" geahndet. Es folgten das Verbot aller Niederlassungen des Jesuitenordens (1872) und die obligatorische Einführung der Zivilehe (1875).

Der eigentliche Startschuss war jedoch bereits im Juli 1871 in Preußen mit der Auflösung der katholischen Abteilung im Kultusministerium erfolgt. Die geistliche Schulaufsicht wurde durch eine staatliche Schulaufsicht abgelöst, und die Maigesetze des Jahres 1873 unterwarfen den Klerus und seine Ausbildung der staatlichen Kontrolle. Viele Katholiken protestierten und wehrten sich gegen diese Maßnahmen, in öffentlichen Reden, Pressekommentaren und spontanen Unmutsäußerungen wurden sie Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Der Konflikt traf die Kirche schwer, zumal als der Staat mit Maßregelungen und Polizeiaktionen in das innere Gefüge der Kirche eingriff. Auf dem Höhepunkt des Konflikts 1875 war ein Viertel aller katholischen Pfarreien in Preußen durch Haft oder Flucht des Priesters vakant, fünf der katholischen Bischöfe in Preußen waren inhaftiert, die anderen sechs abgesetzt.

Doch das Kalkül Bismarcks und der Liberalen, die öffentliche Präsenz von Zentrum und katholischer Kirche zu beschneiden, ging nicht auf. Der katholische Volksteil reagierte mit einer immensen Mobilisierung, die inhaftierten Priester und Bischöfe wurden von einer Welle der Solidarität getragen. Auch in Kreisen der lutherischen preußischen Konservativen, die den Kulturkampf im Prinzip unterstützten, wuchsen angesichts des aggressiven Vorgehens gegen eine christliche Kirche die Bedenken. Angesichts dieser Situation bemühte sich Bismarck um einen Abbau des Konflikts, wofür sich mit dem Pontifikat von Papst Leo XIII. (1810–1903) ab 1878 eine Möglichkeit ergab. Durch Verhandlungen zwischen dem Reich und der Kurie in Rom gelang es, 1886/87 sogenannte Friedensgesetze zu erlassen, welche die meisten Maßnahmen des Kulturkampfes milderten oder zurücknahmen. Ein wichtiges Element der Trennung von Staat und Kirche wie beispielweise die obligatorische Zivilehe – also die Registrierung jeder Eheschließung bei einem Standesbeamten – blieb jedoch in Kraft. Auch das Verbot des Jesuitenordens hob die Reichsleitung erst 1917 auf, als sie die Unterstützung des Zentrums für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg benötigte.

Insgesamt war der Kulturkampf eine empfindliche Niederlage für Bismarck und die Liberalen. Diese hatten dem Ziel einer säkularen Öffentlichkeit die politische Anerkennung liberaler Freiheitsrechte geopfert und damit die autoritären Elemente des Staates gestärkt. Das hatte Folgen weit über das Ende des Kulturkampfes hinaus. Bis zum Kriegsbeginn 1914 blieb eine latente Kulturkampfstimmung lebendig, in der Liberale die Katholiken aus der als protestantisch verstandenen Nation ausgrenzten. Das Zentrum und die katholische Bevölkerung gingen aus dem Konflikt zwar gestärkt hervor. Das im Widerstand geeinte katholische Milieu schottete sich aber nach außen ab, und seine Partei übernahm keine politische Verantwortung für den Staat als Ganzes.

Wirtschaftliche Depression und konservative Wende 1878/79

Die weitere Entwicklung der Innenpolitik unter Bismarck vollzog sich im Zeichen der ökonomischen Krise ab 1873. Die Reichsgründung hatte während des sogenannten Gründerbooms stattgefunden, eines Aufschwungs, der vornehmlich vom wirtschaftlich führenden Sektor des Eisenbahnbaus getragen worden war. Dieser Boom kam allerdings 1873 mit dem "Gründerkrach" an ein Ende, einer von Unternehmenspleiten begleiteten Börsenkrise. Sie war das erste deutliche Anzeichen eines tiefgreifenden Abschwungs, der bis 1879 andauerte. Dabei handelte es sich nicht um eine durch den anhaltenden Rückgang der Wirtschaftsleistung gekennzeichnete Depression, auch wenn es in einzelnen Wirtschaftszweigen zu Stockungen kam und sich das Wachstum insgesamt deutlich verlangsamte. Im Kern basierte der Abschwung vielmehr auf Überkapazitäten der Industrieproduktion, die zu einem schweren Preisverfall, einer Deflation, führten. Seit 1876 kam eine schwere Agrarkrise hinzu. Ausgelöst wurde sie durch den wachsenden Export von Getreide aus den USA nach Europa. Er bewirkte einen weltweiten Preisdruck und führte zu einem langfristigen Verfall der Großhandelspreise, bei Weizen etwa zwischen 1873 und 1887 um 36 Prozent.

Der ökonomische Abschwung hatte zwei direkte politische Folgen. Zum einen erschütterte er das Vertrauen in die Fähigkeit der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung zur Selbststeuerung. Das beförderte die Suche nach Sündenböcken und führte direkt zu einer Zunahme antisemitischer Agitation, welche jüdische Spekulanten für den Börsenkrach verantwortlich machte. In engem Zusammenhang mit dieser Entliberalisierung der politischen Kultur stand die zweite Folge des Abschwungs, die Formierung von wirtschaftlichen Interessenverbänden sowohl der industriellen als auch der agrarischen Produzenten. Der 1876 gegründete Centralverband Deutscher Industrieller orchestrierte die Forderung vor allem der Schwerindustrie nach Schutzzöllen. Diese erschienen nun auch Bismarck als probates Mittel, um das in der Krise zunehmende Defizit des Reiches zu decken. Nach der Verfassung standen dem Reich nur indirekte Verbrauchsteuern zu, während die Einzelstaaten direkte Steuern auf Besitz oder Einkommen erheben konnten, aber nur einen geringen Teil ihrer Einnahmen als eine Umlage – Matrikularbeitrag genannt – an das Reich abführten.

Für die Liberalen war die Abkehr vom Freihandel keine akzeptable Option. Seit 1875 suchte Bismarck deshalb nach Möglichkeiten, um seine Politik im Reichstag durch eine rechts von den Liberalen angesiedelte Mehrheit abzusichern. In dieser Situation erlaubten es 1878 zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. dem Reichskanzler, eine konservative Wende zu vollziehen. Nach dem ersten Anschlag brachte Bismarck ein Gesetz gegen sozialistische Bestrebungen im Reichstag ein. Dabei spielte er mit den Ängsten des Bürgertums vor einer sozialistischen Revolution. Diese waren unter anderem durch die Pariser Commune genährt worden, einen sozialistischen Stadtrat, der nach einem Aufstand im Frühjahr 1871 für etwa zwei Monate die französische Hauptstadt regierte. Aber Liberale und Zentrum stimmten im Mai 1878 noch geschlossen gegen ein solches Gesetz.

Den zweiten Anschlag auf Wilhelm I. im Juni 1878 nutzte Bismarck dann dazu, Neuwahlen ausschreiben zu lassen. Diese brachten Gewinne vor allem für die Deutschkonservative Partei und leichte Verluste für die Liberalen. Nun waren die Nationalliberalen bereit, einem Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zuzustimmen. Es erging im Oktober 1878, unterband sozialdemokratische Vereine und Versammlungen und war damit ein Verbot der SAP und der ihr nahestehenden Gewerkschaften sowie aller sozialdemokratischen Druckschriften. Allerdings war das Gesetz auf zweieinhalb Jahre befristet und musste deshalb bis 1890 mehrfach verlängert werden. Zudem genossen Sozialdemokraten weiterhin das aktive und passive Wahlrecht, konnten also für die Parlamente kandidieren. Zwar wurde der Aufstieg der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen bis 1890 stark gebremst. Gestoppt wurde er allerdings nicht. Mit dem Sozialistengesetz erklärte Bismarck nach den Katholiken eine zweite politische Gruppe zu "Reichsfeinden" genau zu jenem Zeitpunkt, als sich eine Beilegung des Kulturkampfes abzeichnete.

Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1878 verloren die Natio­nalliberalen ihre parlamentarische Schlüsselstellung, da nun auch eine Reichstagsmehrheit von Zentrum und Konservativen rechnerisch möglich war. Bismarck nutzte diese Situation, um sich von den Nationalliberalen als Mehrheitsbeschaffer im Reichstag zu trennen und das informelle Bündnis mit den Liberalen zu lösen, das die Jahre seit 1871 gekennzeichnet hatte. Der Reichskanzler verfolgte dabei keinen von langer Hand vorbereiteten Plan. Noch 1877 bot Bismarck dem Führer der Nationalliberalen, Rudolf von Bennigsen (1824–1902), den Posten eines Vizekanzlers an. Dieser lehnte jedoch ab, da ein einziges liberales Regierungsmitglied keine hinreichende Machtbasis geboten hätte.

Nach den Wahlen des Jahres 1878 stand die Einführung der Schutzzölle auf der Tagesordnung. Dabei optierte Bismarck letztlich für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum anstelle des rechten Flügels der Nationalliberalen, der nun auch eine protektionistische Politik unterstützte. Der Preis dafür war die "Franckensteinsche Klausel", nach der alle über 130 Millionen Mark hinausgehenden Zolleinnahmen den Ländern zuflossen. Damit blieb die Finanzautonomie der Länder gesichert.

Im Juli 1879 stimmte die Mehrheit aus Konservativen und Zentrum im Reichstag für die Annahme des Zolltarifgesetzes. Dieses sah Zölle auf die Importe aller wichtigen Güter vor, vor allem Roheisen und Getreide. Die Wende zum Schutzzoll war allerdings nicht das manipulative Werk eines Bündnisses aus "Junkern" – so die abwertende Bezeichnung für die Gutsbesitzer in den ostelbischen Provinzen Preußens – und den "Schlotbaronen" der Schwerindustrie an der Ruhr. Denn auch in der Rinder- und Schweinemast tätige Bauern profitierten von den Schutzzöllen. Deren wichtigste mittelfristige Folge lag im Anstieg der Verbraucherpreise für Lebensmittel.

Der Übergang zum Schutzzoll ist oft als ein "Sündenfall" des Liberalismus bezeichnet worden, da mit der Abkehr vom Freihandel ein zentraler liberaler Wert aufgegeben worden sei. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch die "free trade nation" Großbritannien am Freihandel festhielt und die deutschen Zolltarife eher im europäischen Mittelfeld lagen. Eine verheerende Niederlage bedeutete die konservative Wende von 1878/79 für die Nationalliberale Partei. Diese verlor nicht nur ihre Rolle als informelle Bündnispartnerin Bismarcks, die sie seit 1867 innegehabt hatte. Sie wurde zudem dauerhaft geschwächt, als sich der linke Flügel der Partei 1880 als "Sezession" abspaltete. Das brachte den Nationalliberalen bei den Wahlen des Jahres 1881 massive Verluste ein. Bedeutsamer war jedoch, dass die Nationalliberalen von einer weiteren Liberalisierung des Verfassungssystems Abstand nahmen. 1884 fusionierten die Sezession und die linksliberale Fortschrittspartei zum "Freisinn".

Das Ende der Ära Bismarck

Mit der konservativen Wende der Jahre 1878/79 schwächte Bismarck zwar die liberal-progressiven Kräfte in der Politik des Reiches. Eine stabile konservative Mehrheit im Reichstag stand ihm jedoch nicht zur Verfügung, da das Zentrum nur punktuell wie bei den Zöllen zur Zusammenarbeit bereit war, solange der Kulturkampf noch nicht vollständig beendet war. Auch deshalb suchte Bismarck nach Möglichkeiten, den Reichstag zu schwächen. Dem diente unter anderem die Konzeption eines Deutschen Volkswirtschaftsrates, einer Art Nebenparlament, dessen vornehmlich aus Verbandsvertretern bestehende Mitglieder bei der Vorbereitung von Gesetzen in der Wirtschaftspolitik mitwirken sollten. Der Plan scheiterte zwar an der mangelnden Zustimmung des Reichstages, wurde aber zumindest in Preußen von 1880 bis 1887 in Gestalt eines Preußischen Volkswirtschaftsrats durchgesetzt.

Seit 1884 zeichnete sich für Bismarck die Möglichkeit ab, auf eine Mehrheit aus Nationalliberalen und Konservativen zurückzugreifen. Voraussetzung dafür war die "Heidelberger Erklärung" der Nationalliberalen von 1884. Darin erteilten sie den Hoffnungen der Sezession auf Bildung einer neuen liberalen Gesamtpartei eine Absage und stellten sich in allen wichtigen Politikfeldern hinter die Regierung. Doch bei den Wahlen des Jahres 1884 verfehlte das "Kartell" aus Nationalliberalen und Konservativen noch eine Mehrheit. Ende 1886 forderte Bismarck eine Aufstockung des Heeres um zehn Prozent und löste den Reichstag auf, als er dafür keine Mehrheit erhielt. Die "Kartellwahlen" des Jahres 1887 fanden dann im Zeichen einer künstlich geschürten nationalen Kriegshysterie statt, die auf die Forderung des französischen Kriegsministers Georges Boulanger nach einer Grenzrevision aufbaute. Vor allem durch Stichwahl­absprachen konnten Nationalliberale und Konservative nun eine absolute Mehrheit der Mandate im Reichstag erzielen.

Doch über die Verabschiedung des Septennats 1887 und einer weiteren Heeresvergrößerung 1888 hinaus erwies sich das Kartell als eine heterogene und brüchige Koalition. Bereits eine weitere Erhöhung der Getreidezölle 1887 passierte nur mit der Zustimmung des Zentrums den Reichstag, da Teile der Nationalliberalen sich dem Vorhaben verweigerten. Der doppelte Thronwechsel im Dreikaiserjahr 1888 besiegelte dann das Ende der Ära Bismarck. Im März 1888 starb Wilhelm I. kurz vor Vollendung seines 91. Lebensjahres. Der greise Monarch hatte Bismarck bei der Ausübung der Regierungsgeschäfte weitgehend freie Hand gelassen. Sein Nachfolger, Friedrich III. (1831–1888), der mit einer britischen Prinzessin verheiratete Kronprinz, war für seine liberalen Auffassungen bekannt. Bereits zum Zeitpunkt der Thronbesteigung unheilbar krank, konnte er in seiner nur 99 Tage währenden Amtszeit jedoch keine politischen Impulse setzen. Der erst 29-jährige Wilhelm II. von Hohenzollern (1859–1941) erbte nun den Kaiserthron. Zwischen Bismarck und Wilhelm II. gab es nicht nur aufgrund des großen Altersunterschiedes politische Meinungsdifferenzen. Hinzu kam, dass der junge Kaiser eine politische Neuausrichtung des Reiches favorisierte und dabei, unterstützt von einem Bismarck gegenüber kritisch eingestellten Beraterkreis, auch den Konflikt mit dem Reichskanzler nicht scheute.

Zum Konflikt kam es auf dem Gebiet der Arbeiterpolitik. Im April 1889 begannen die Bergarbeiter erst im Ruhrgebiet, bald auch in anderen Bergbaurevieren zu streiken. Bismarck beschwor die Gefahr eines sozialistischen Umsturzes und plante eine Verschärfung des Sozialistengesetzes. Wilhelm II. dagegen empfing im Mai 1889 eine dreiköpfige Delegation von Vertretern der Streikenden. Er präsentierte sich damit als ein Monarch des sozialen Ausgleichs, der Verständnis für die berechtigten Klagen der Arbeiter über Missstände auf den Zechen zeigte. Als Bismarck dennoch im Oktober eine verschärfte und nunmehr unbefristete Fassung des Sozialistengesetzes einbrachte, lehnte der Reichstag dies mit einer breiten Mehrheit ab, die von den Sozialdemokraten bis zu den Deutschkonservativen reichte. In den Wahlen vom Februar 1890, die der Reichstagsauflösung folgten, kollabierte das Kartell. Der große Wahlgewinner waren die Sozialdemokraten. Trotz bestehender Geltung des nun auslaufenden Sozialistengesetzes verdoppelten sie ihren Stimmenanteil gegenüber 1887 fast auf 19,7 Prozent. Nach der Stimmenzahl waren sie damit erstmals im Kaiserreich die stärkste Partei. Vor allem die Festschreibung der Wahlkreisgrenzen seit 1871 – welche der zunehmenden Urbanisierung nicht folgte und damit die Sozialdemokratie als eine Partei vorwiegend städtischer Wähler stark benachteiligte – verhinderte, das sich dieser Erfolg unmittelbar in massive Mandatsgewinne umsetzte. Nach dem Ergebnis der Wahlen und weiteren Konflikten entzog Wilhelm II. dem Reichskanzler endgültig das Vertrauen. Am 18. März 1890 reichte Bismarck sein Rücktrittsgesuch ein.

Ab 1862 als preußischer Ministerpräsident, dann als Kanzler des Norddeutschen Bundes und des Reiches hatte Bismarck fast drei Jahrzehnte lang die deutsche Politik maßgeblich gestaltet. Bei seinem Abgang waren die Belastungen unübersehbar, die seine Strategie der innenpolitischen Polarisierung und der gezielten Ausgrenzung von "Reichsfeinden" erzeugt hatte. Der Althistoriker Theodor Mommsen, der 1881 bis 1884 für Nationalliberale und Sezession ein Reichstagsmandat inne gehabt hatte, beklagte im Rückblick die "Knechtung der deutschen Persönlichkeit", die der autoritäre Führungsstil Bismarcks nach sich zog, als ein "Verhängnis". Im Jahr seines Todes 1898 war dann die Mythologisierung Bismarcks bereits im Gange. Die nationale Rechte stilisierte den "Eisernen Kanzler" zu einem Vorbild für die deutsche Nation und zu einem Vertreter entschiedener Machtpolitik. Zahlreiche Bis­marckdenkmäler unterstützten diese Botschaft.

Prof. Dr. Benjamin Ziemann lehrt als Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien. Er war Gastwissenschaftler an der University of York, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik –, die Militär- und Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege sowie die Historische Friedensforschung. Er ist Mitglied der Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Biografie von Martin Niemöller.

Jüngste Buchveröffentlichungen

Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014;

Encounters with Modernity. The Catholic Church in West Germany, 1945–1975, New York/Oxford 2014;

Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013;

Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M./New York 2009;

mit Bernd Ulrich (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008;

mit Thomas Mergel (Hg.), European Political History 1870–1913, Alders­hot 2007.