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Deutschland in der Welt | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de

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Deutschland in der Welt

Prof. Dr. Benjamin Ziemann Benjamin Ziemann

/ 11 Minuten zu lesen

Mit der Gründung des Kaiserreichs war die Bildung von Natio­nalstaaten in Mitteleuropa zu einem vorläufigen Abschluss gekommen, bis nach 1918 dann Polen und die Tschechoslowakei ihre nationale Unabhängigkeit wiederherstellten bzw. erreichten. Die deutsche Nationalstaatsgründung war quasi revolutionär und untergrub nicht nur die traditionelle Legitimität der bislang herrschenden Souveräne in den deutschen Territorien. Zugleich setzte eine innere Nationsbildung ein, die einzelstaatliche Bindungen, etwa an die Königreiche in Sachsen und Bayern, nicht einfach ersetzte, sondern vielmehr nachhaltig überformte und auf den nationalen Rahmen ausrichtete. Im Alltag der Deutschen war die Nation beispielsweise durch die 1871 gebildete Reichspost präsent, deren Briefträger ein eingängiges Symbol für die Überwindung einzelstaatlicher Partikularismen waren.

Doch das Kaiserreich steckte nicht nur den rechtlichen, politischen und kulturellen Rahmen für die innere Formierung der Nation ab. Gleichzeitig stand es in vielfältigen Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen mit einer sich globalisierenden Welt. Während die europäischen Mächte bis auf Österreich-Ungarn und Russland im Zeitalter des Hochimperialismus ihre Kolonialreiche ausbauten, beteiligte sich auch das Kaiserreich an der kolonialen Expansion in Afrika und Asien. Damit wirkte die deutsche Nation nicht nur in die Welt hinein. Durch Wanderung, Handel und kulturelle Projektionen wirkte die globalisierte Moderne ebenso auf Deutschland zurück.

Deutscher Kolonialismus

Zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 verfügte das Kaiserreich über keine kolonialen Besitzungen. Als das Reich dann 1884/85 eigene Kolonien in Afrika erwarb, stand dieser Schritt jedoch in einer längeren Tradition deutschen Engagements und Expansionsstrebens in Übersee. So waren protestantische Missionare schon lange vor 1884 in Afrika und Asien aktiv und verhalfen in bürgerlichen Kreisen des Reiches der Vorstellung einer "Zivilisierungsmission" zu Popularität. Ihr zufolge hatten die Deutschen eine wichtige Aufgabe bei der kulturellen Verbesserung und Erziehung der indigenen Völker zu erfüllen. Sie ging über die Verbreitung des Christentums weit hinaus und umfasste etwa auch die Erziehung zu Fleiß und Arbeitsamkeit.

Kaufleute und Reeder in den früheren Hansestädten Bremen und Hamburg hatten über Jahrzehnte hinweg ein globales Netz von Handelsbeziehungen aufgebaut. Im Jahr 1880 etwa wickelten Hamburger Kaufleute ein Drittel des gesamten Überseehandels aller westlichen Länder in Westafrika ab. Nach der Reichsgründung kam als dritter Faktor eine direkte Agitation für koloniale Erwerbungen hinzu. Interessengruppen wie der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein trieben sie voran. Seine geringe Mitgliederzahl kompensierte der Verein durch eine gute Vernetzung in prominenten Zirkeln von nationalliberalen Politikern und Verbandsvertretern der Großindustrie.

QuellentextBedarf Deutschland der Kolonien?

Friedrich Fabri (1824–1891), deutscher evangelischer Theologe und Publizist sowie Leitender Direktor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen, "Vater der deutschen Kolonialbewegung", verfasste 1879 die Schrift "Bedarf Deutschland der Kolonien?"

[…] "Wir sind nachgerade im neuen Reiche in eine wirthschaftliche Lage gerathen, die drückend, die wirklich bedenklich ist. […] Man wird annehmen dürfen, daß wohl fast ein Vierttheil unseres National-Vermögens in den letzten Jahren verschwunden, d.h. unproduktiv geworden ist. […] Vom größten Einfluß auf unsere so ungünstig sich gestaltende wirthschaftliche Lage ist aber die rapid sich steigernde Vermehrung der Bevölkerung in Deutschland, eine Thatsache […], die aber als solche noch sehr ungenügend erkannt, zu deren Bewältigung daher so gut, wie nichts, bis jetzt geschehen ist. […]

Daß […] organisirte Auswanderung, wie wir sie bedürfen, neben ihrer wirthschaftlichen Bedeutung zugleich gewichtige nationale Gesichtspunkte in sich schließt, wollen wir nur im Vorbeigehen andeuten und fragen: […] Was heißt aber Leitung, Organisation unserer Auswanderung? Da man derselben unmöglich ihre Ziele vorschreiben kann, so besagt diese Forderung nichts anderes, als: wo möglich unter deutscher Flagge in überseeischen Ländern unserer Auswanderung die Bedingungen schaffen, unter welchen sie nicht nur wirthschaftlich gedeihen, sondern unter Wahrung ihrer Sprache und Nationalität auch in reger nationaler und ökonomischer Wechselwirkung mit dem Mutterlande verbleiben kann. Mit anderen Worten: die verständnißvolle und energische Inangriffnahme einer wirklichen Colonial-Politik ist das einzig wirksame Mittel, die deutsche Auswanderung aus einem Kräfte-Abfluß in einen wirthschaftlichen, wie politischen Kräfte-Zufluß zu verwandeln. […]

Ist das Christenthum mit seiner versöhnenden Kraft in weiten Kreisen bei uns leider in Unkenntniß, ja in Haß und Verachtung gerathen, sind die moralischen, sind die allgemeinsten religiösen Ueberzeugungen erschüttert, ist die materialistische Doktrin an ihre Stelle getreten, so kann Niemand den Menschen aufhalten, an dieses Erdenleben Forderungen zu stellen, welche es niemals zu befriedigen vermag. In der schreienden Dissonanz dieses selbstgemachten Hoffnungsbildes zu der gegebenen nackten Wirklichkeit entzündet sich dann jener grimmige Haß gegen alles Bestehende, welcher sich unter Anderem vorspiegelt, nur durch einen gewaltsamen, blutigen Umsturz lasse sich Besserung der Lage erreichen. In diesen psychologischen Stimmungen liegt der Angelpunkt unserer socialdemokratischen Agitation und ihres Erfolges. […] Sollte nun die Colonial-Frage, resp. eine Organisation und Leitung der deutschen Auswanderung, nicht auch nach dieser Richtung bedeutungsvoll wirken können? […] Ich meine aber nicht bloß die Auswanderung, als eine Art Sicherheits-Ventil. […] Wenn auch wohl nicht bei den Grimmigen, so doch bei der Mehrzahl der mehr Irregeleiteten und wirklich sich gedrückt Fühlenden würde solche Auswanderung ein neues, nicht unerreichbares Hoffnungsbild erwecken, und schon damit wäre der um sich fressenden Unzufriedenheit eine Schranke gesetzt. […]

Gewichtiger freilich noch ist die Erwägung, daß ein Volk, das auf die Höhe politischer Macht-Entwicklung geführt ist, nur so lange seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten kann, als es sich als Träger einer Cultur-Mission erkennt und beweist. Dies ist zugleich der einzige Weg, der auch Bestand und Wachstum des nationalen Wohlstandes, die nothwendige Grundlage dauernder Macht-Entfaltung, verbürgt. […] Will das neue Deutsche Reich seine wiedergewonnene Machtstellung auf längere Zeiten begründen und bewahren, so wird es dieselbe als eine Cultur-Mission zu erfassen und dann nicht länger zu zögern haben, auch seinen colonisatorischen Beruf aufs Neue zu bethätigen."

Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Kolonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung (orig. 1879), 3. Ausg. Gotha 1883, S. 1 ff., 28, 88 f., 112 f.

Bismarck machte vor und nach 1871 keinen Hehl daraus, dass er einem formellen, vom Staat durch Gebietserwerb abgesicherten Kolonialismus mit Skepsis gegenüberstand. Er favorisierte einen informellen Imperialismus nach britischem Vorbild, bei dem die ökonomische Durchdringung einer Region Vorrang vor ihrer militärischen Inbesitznahme hatte. Für seinen Schwenk zum "formal empire" 1884/85, also zur formalen deutschen Herrschaft über bestimmte Territorien, gibt es eine Reihe von Gründen. Der Erwerb eines Kolonialreiches war zunächst Ausdruck einer Strategie, die sich als "Sozial­imperialismus" (Hans-Ulrich Wehler) beschreiben lässt. Die Kolonien sollten gemäß dieser Sichtweise nicht nur in einer krisenhaften ökonomischen Situation als Absatzmarkt für die Überproduktion der deutschen Industrie dienen. Durch ihre ökonomischen Vorteile sollte die koloniale Expansion darüber hinaus als Ventil für soziale Spannungen fungieren. Der Sozial­imperialismus hatte zudem eine demografische Komponente. Denn auf dem Höhepunkt der Depression hatte 1880 die dritte große Welle deutscher Überseeauswanderung (nach 1846–1857 und 1864–1873) eingesetzt, die bis 1893 nicht weniger als 1,8 Millionen Deutsche vor allem in die USA führte. Kolonien könnten – so das nationalistische Kalkül – dabei helfen, das "Deutschtum" dieser Auswanderer zu erhalten, anstatt es im Schmelztiegel der amerikanischen Gesellschaft verschwinden zu lassen.

Zu diesen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Erwägungen kam die internationale Situation hinzu. Frankreich und Großbritannien hatten mit der militärischen Besetzung Tunesiens 1881 bzw. Ägyptens 1882 den Startschuss für den "scramble for Africa" gegeben, die Aufteilung des Kontinents unter den imperialistischen Mächten. Auf der Berliner Kongo-Konferenz des Jahres 1884 konnte sich Bismarck als Vermittler präsentieren, der das belgische Kongogebiet als Freihandelszone vom direkten Einfluss anderer Mächte offen hielt und damit die von ihm bevorzugte Idee eines Freihandelsimperialismus umsetzte. Doch der Trend zur Abgrenzung von kolonialen Territorien wurde damit nicht aufgehalten, sondern ging unvermindert weiter.

Kurzfristige Auslöser beschleunigten dann den Übergang zum Kolonialreich. Denn deutsche Kaufleute, die in verschiedenen Teilen Afrikas aktiv waren, mussten zur Durchsetzung ihrer Interessen staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Das traf für den Kaufmann Adolf Lüderitz zu, dessen Geschäfte im heutigen Namibia 1884 in Schwierigkeiten gerieten. Daraufhin rief er den Staat zur Hilfe, der das Deutsch-Südwest genannte Gebiet unter formale deutsche Kontrolle stellte. Im Gebiet des späteren Deutsch-Ostafrika war es der promovierte Historiker und koloniale Abenteurer Carl Peters, dessen private Abmachungen mit lokalen Potentaten das Reich zu "Schutzver­trägen" aufwertete und damit den Übergang zur Kolonie vollzog. Zusammen mit der Übernahme formaler Kontrolle über Togo und Kamerun war damit 1884/85 das deutsche Kolonialreich in Afrika etabliert.

QuellentextDer Völkermord an den Herero und Nama 1904 bis 1908

Die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika war ebenso wie die anderer europäischer Kolonialmächte gekennzeichnet durch eine rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte und des ökonomischen Potenzials der einheimischen Bevölkerung. Rassismus, also die Trennung von "weißen" und "nicht-weißen" Bevölkerungsgruppen und die Diskriminierung letzterer als "minderwertig", war ein wesentlicher Bestandteil kolonialer Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Rahmen zeichnete sich die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika durch besondere Brutalität aus.

Dies zeigte sich vor allem in den Kriegen der deutschen Kolonialherren und ihrer "Schutztruppen" – so der offizielle Name für die Militäreinheiten in den Kolonien – gegen die einheimischen Bevölkerungen. Von 1905 bis 1907 führten Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika den sogenannten Maji-Maji-Krieg. Seit 1902 hatten die deutschen Kolonialherren dort begonnen, den Zwangsanbau von Baumwolle durchzusetzen. Den daraufhin 1905 losbrechenden Aufstand bekämpfte die deutsche Schutztruppe mit einer Politik der verbrannten Erde. Sie tötete nicht nur die Aufständischen, sondern zerstörte durch das Abbrennen von Vorräten und Dörfern die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Schätzungen zufolge fielen dieser Politik durch Hungersnot und Vertreibung bis zu 200.000 Menschen zum Opfer, zusätzlich zu den circa 70.000 direkt getöteten Afrikanern.
Deutsch-Südwestafrika – das heutige Namibia – war die einzige deutsche Kolonie mit einer nennenswerten Zahl von Siedlern. Bis 1902 hatten sich hier etwa 2600 Deutsche niedergelassen, die vielfach als Farmer in der Viehwirtschaft tätig waren. Es entbrannte eine Konkurrenz um die Weideflächen der afrikanischen Hirtenvölker, in der das Interesse der Siedler mit den Interessen der Herero, des größten auf dem Gebiet der Kolonie lebenden Stammes, kollidierte. Die halbnomadischen Herero lebten von der Rinderzucht und hatten durch eine Rinderpest 1897 fast zwei Drittel ihrer Herden verloren. Die Herero mussten deshalb Ländereien an die Deutschen abgeben oder sich auf deren Farmen als Arbeiter verdingen. Dies führte nicht nur zu ökonomischen Konflikten, sondern stürzte die Herero in eine tiefe Identitätskrise.

Es war vermutlich ein deutscher Leutnant, der im Januar 1904 die ersten Schüsse feuerte und damit die Herero zum Widerstand provozierte. Binnen weniger Tage besetzten diese weite Gebiete und töteten 123 deutsche Männer. Nachdem zunächst der deutsche Gouverneur und Kommandant der etwa 2000 Mann starken Schutztruppe, Theodor Leutwein, den Kampf gegen die Herero mit aller Härte geführt hatte, wurde er im Mai 1904 als Kommandeur durch Generalleutnant Lothar von Trotha abgelöst, der Verstärkungstruppen aus Deutschland mitbrachte.

Trotha, ein Veteran militärischer Kolonialpolitik, hatte zuvor in Deutsch-Ostafrika gedient und im Jahr 1900 deutsche Truppenkontingente kommandiert, welche die sogenannte Boxerrevolte gegen die Unterdrückung Chinas durch die westlichen imperialistischen Mächte niederschlugen. Trothas Planung zielte von Beginn an auf die völlige Vernichtung der Herero. In der Schlacht am Waterberg versuchte er am 11. und 12. August 1904 zunächst, die Herero nach dem Muster einer Entscheidungsschlacht einzukesseln. Das misslang jedoch, da viele Herero in die Kalahariwüste flohen. Daraufhin ließ von Trotha die Wüste abriegeln, und weitere Herero starben durch Hunger und Durst. Im Oktober 1904 erließ von Trotha einen Befehl, in dem er den Herero die vollständige Vernichtung androhte: "Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen."

Die Vernichtungspolitik von Trothas führte zu politischen Kontroversen in Berlin, wo August Bebel im Reichstag dessen brutales Vorgehen anprangerte. Es war nicht das erste Mal, dass Bebel die deutsche Kolonialpolitik skandalisierte. Bereits 1894 hatte er eine Nilpferdpeitsche in das Plenum des Reichstages gebracht, um plastisch zu demonstrieren, womit deutsche Kolonialbeamte in Kamerun afrikanische Frauen auspeitschten. Unter dem Druck der öffentlichen Diskussion zwang die Reichsleitung von Trotha schließlich im Dezember 1904, seinen Vernichtungsbefehl zurückzunehmen. Viele der überlebenden Herero wurden nun in "Konzentrationslagern" – so der zeitgenössische Ausdruck – interniert und dort zur Zwangsarbeit herangezogen, wobei weitere von ihnen starben. Im Gefolge des Aufstandes der Herero erklärte im Herbst 1904 auch der bis dahin mit den Deutschen verbündete Stamm der Nama den Kolonialherren den Krieg. Erst 1908 konnten deutsche Truppen die Nama vollständig niederwerfen.

Insgesamt starben im Verlauf des Krieges in Deutsch-Südwestafrika etwa 65.000 Herero – von einer Vorkriegsbevölkerung von rund 80.000 bis 100.000 – und die Hälfte der etwa 20.000 Nama. Da die Aktionen von Trothas und des deutschen Militärs auf die komplette Vernichtung von zwei ethnischen Gruppen zielten – auch wenn sie dieses Ziel nicht erreichten – wird der Krieg gegen die Herero und Nama heute als Völkermord oder Genozid bezeichnet. Es handelt sich dabei um den ersten deutschen Völkermord des 20. Jahrhunderts, dem die Shoah, der Völkermord an den europäischen Juden 1941 bis 1945, folgte.

Das eklatante Versagen der auf ökonomischer Ausbeutung und brutaler Gewalt basierenden deutschen Strategie, das im Maji-Maji-Krieg und im Krieg in Deutsch-Südwest deutlich wurde, führte 1906 zu einem deutlichen Kurswechsel in der Kolonialpolitik. Sie setzte fortan auf die Förderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Kolonien durch rationelle Anbaumethoden vor allem in der Kultivierung der Baumwolle, und auf eine verbesserte Infrastruktur wie etwa Eisenbahnen. Das Eigeninteresse der Kolonialherren blieb die vorrangige Motivation, die Einheimischen blieben Mittel zum Zweck – nun galt es, die "Eingeborenen" zu schützen und zu zielgerichteter Arbeit zu "erziehen".

Bis 1886 kamen noch Nord-Neuguinea sowie die Marshall- und Salomon-Inseln sowie der sogenannte Bismarck-Archipel hinzu. 1897 und 1899 erklärte das Reich neben dem Flottenstützpunkt Kiautschou in China noch weitere asiatische Territorien in kleinerem Umfang zu Schutzgebieten, und zwar die pazifischen Inseln Karolinen, Marianen und Palau sowie den Westteil Samoas.

Der Fläche nach war das deutsche Kolonialreich das viertgrößte in der Welt, hinter den kolonialen Besitzungen von Großbritannien, Frankreich und Russland. Doch die räumliche Ausdehnung ist nicht das wichtigste Kriterium für seine historische Bedeutung. Zum einen war es äußerst kurzlebig. Bis auf Deutsch-Ostafrika fielen alle deutschen Kolonien bereits kurz nach Beginn des Weltkrieges 1914 in die Hände der Alliierten. Auffällig ist ferner der immense Gegensatz zwischen den Hoffnungen auf die Aufnahme von deutschen Auswanderern und der tatsächlichen Praxis. Von allen deutschen Kolonien wies allein Deutsch-Südwest 1914 eine nennenswerte Zahl von deutschen Siedlern – vor allem Farmern – auf. Es waren 12.000 – von 2,85 Millionen Auswanderern während des Kaiserreichs insgesamt. Auch ökonomisch waren die Kolonien unerheblich. Ihr Anteil am deutschen Außenhandel lag bei gerade einmal 2,5 Prozent. Bereits 1899 wies Rosa Luxemburg, die am linken Rand der SPD stand, darauf hin, dass das Deutsche Reich mit den britischen Kolonien in Afrika mehr Handel trieb als mit den eigenen. In der kollektiven Wahrnehmung breiter Bevölkerungsschichten hatten die Kolonien allerdings einen festen Platz. Kolonialausstellungen, ethnographische Forschungen, Ansichtskarten und viele andere Medien vermittelten Bilder kolonialer Differenz und rassischer Überlegenheit der Deutschen.

Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung

Ungeachtet der ökonomisch und sozial eher marginalen Rolle der deutschen Kolonien darf allerdings nicht vergessen werden, dass das Kaiserreich in die erste Welle der Globalisierung, die seit den 1880er-Jahren anrollte, intensiv eingebunden war. Globalisierung – verstanden als weltweite kommunikative Vernetzung in allen Bereichen der Gesellschaft – war ein wichtiges Element des kollektiven Erfahrungsraumes der Deutschen um 1900. Für die Verdichtung von Raum und Zeit, welche zugleich Voraussetzung und Folge der Globalisierung war, fand der Staatssekretär im Reichsamt des Innern, Arthur von Posadowsky-Wehner, 1901 im Reichstag eine anschauliche Metapher: Die Beschleunigung von Kommunikation und Transport – Telegrafen, Unterseekabel, Dampfschiffe – habe, so Posadowsky, "Tausende von Meilen" entfernte Länder bis an die "Türen unserer Zollstellen" gerückt. Der "Erdball" sei damit "zusammengepresst wie ein Gummiball".

Die Ökonomie war das Feld, in dem die globale Vernetzung Deutschlands am stärksten und sichtbarsten hervortrat. Seit den 1880er-Jahren stieg der Anteil der Exporte am Bruttosozialprodukt stetig an. Im letzten Vorkriegsjahr 1913 gingen 17,8 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung in den Export. Diese Ausfuhrquote wurde erst sechzig Jahre später, im Jahr 1973, wieder leicht übertroffen. Die Importquote lag in den letzten fünf Jahren vor 1913 sogar noch etwas höher. Mit der enormen Steigerung seines Außenhandels stieß das Deutsche Reich, schon vorher eines der führenden Exportländer, fast an die absolute Spitze vor. In den 1870er-Jahren hatte der deutsche Anteil am Welthandel nur etwas mehr als die Hälfte des britischen ausgemacht. Im Jahr 1913 lag Deutschland dann mit 13,1 Prozent fast gleichauf mit dem Vereinigten Königreich und vor den USA. Die Mobilität des Finanzkapitals in ausländischen Anlagen und die Vernetzung von Finanzmärkten erlangten vor dem Weltkrieg ebenfalls ein nach 1918 lange Zeit nicht wieder erreichtes Ausmaß.

Ein drittes wichtiges Feld der Globalisierung war die Entstehung eines weltweiten Arbeitsmarktes. In den deutschen Kolonien im Pazifik griff man auf "Kulis" (vom englischen Wort coolie) aus China zurück. Dies waren Vertragsarbeiter, die für die unter unmenschlichen Bedingungen ausgeführte Arbeit in den Phosphatminen von Samoa angeheuert wurden. Das Deutsche Reich selbst war vor allem das Ziel von Arbeitsmigranten aus Norditalien, Österreich-Ungarn und Russisch-Polen. Eine große Zahl der Migranten arbeitete in der Landwirtschaft, die unter dem Abzug deutscher Arbeiter in die Städte litt. In den Gutsbetrieben der preußischen Ostprovinzen arbeiteten vor 1914 bis zu einer halben Million polnischer Saisonarbeiter aus Russisch-Polen und dem österreichischen Galizien. Sie waren nur für die Sommermonate zugelassen. Doch viele Gutsbesitzer umgingen die Bestimmungen, weshalb die genannte Zahl nicht mehr als eine Schätzung ist. Die wachsende Präsenz polnischer Arbeitsmigranten löste eine intensive Diskussion um die drohende "Polonisierung" des preußischen Ostens aus. Die Einführung der "Karenzzeit" im Winter, in der die Polen nach Russland zurückkehren mussten, war eine praktische Folge dieser Debatte. An ältere anti-polnische Stereotype anknüpfend, trug die Forderung nach einer "Germanisierung" im preußischen Osten zu einer Radikalisierung des nationalistischen Diskurses bei. Der Deutsche Ostmarkenverein, 1894 gegründet, setzte sich als radikalnationaler Agitationsverband für die Zurückdrängung der Polen ein. Eine zunehmend intensive transnationale Vernetzung und die Forderung nach strikten nationalen Grenzziehungen hingen so um 1900 eng zusammen.

Wilhelminische "Weltpolitik"

Die Bündnispolitik Bismarcks (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 701 754)

Bismarck hatte seine Außenpolitik auf den europäischen Kontinent ausgerichtet. Mit der Gründung des Deutschen Reiches war eine neue Großmacht entstanden, die ihren Platz im Konzert der fünf Großmächte (neben Großbritannien, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn) noch finden musste. Nach einigem Zögern begann Bismarck 1879 mit dem Aufbau eines Bündnissystems, das Deutschland mit Russland auf der einen Seite sowie mit Österreich-Ungarn und später Italien auf der anderen verband. Neben der Isolation des Kriegsgegners von 1870/71, Frankreich, zielte dieses System von Militärbündnissen auf die Erhaltung eines Gleichgewichts zwischen den fünf Mächten ab, das aber nicht frei von Spannungen blieb. Bis­marcks Nachfolger Caprivi verlängerte 1890 den erst 1887 geschlossenen Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht. Damit forcierte er unmittelbar eine russisch-französische Annäherung und mittelbar die Herausbildung von zwei konkurrierenden Militärblöcken (Russland und Frankreich versus Deutschland und Österreich-Ungarn).

QuellentextEin neues Europa

Über Jahrhunderte hinweg war die deutsche Mitte Europas politisch zersplittert und schwach gewesen. Der Kontinent war von den Staaten an seiner Peripherie dominiert worden, in deren Interesse die Aufrechterhaltung des Machtvakuums in seiner Mitte lag. Nun jedoch war, zum ersten Mal in der Geschichte, diese Mitte vereint und stark. Die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten sollten von nun an einer neuen und ungewohnten Dynamik unterliegen. Benjamin Disraeli, der Führer der konservativen Opposition im britischen Unterhaus, erkannte dies deutlicher als die meisten seiner Zeitgenossen: "Dieser Krieg stellt die deutsche Revolution dar, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution", verkündete er vor dem Unterhaus. "Da ist keine diplomatische Tradition mehr, die nicht hinweggefegt worden wäre." Wie zutreffend diese Diagnose war, sollte sich erst nach und nach zeigen.

Das Zeitalter des preußisch-österreichischen Dualismus – einst das strukturierende Prinzip des politischen Lebens der deutschen Staaten – war vorüber. Friedrich Ferdinand Graf von Beust erkannte die Fruchtlosigkeit einer auf Eindämmung abzielenden Politik und riet Kaiser Franz Joseph, Wien solle hinfort eine Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und Preußen-Deutschland in allen gegenwärtigen Angelegenheiten suchen. […] Erste Früchte trug sie mit dem Dreikaiserabkommen vom Oktober 1873 zwischen Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland; sechs Jahre später handelte Bismarck den Zweibund von 1879 aus, der Österreich-Ungarn zum Juniorpartner des Deutschen Reiches machte. Von nun an zielte die Politik Wiens darauf ab, Berlin nach Kräften auf die Sicherheitsinteressen Österreich-Ungarns einzuschwören, selbst wenn dies eine untergeordnete Stellung innerhalb der Beziehung bedeutete. Der zwischen den beiden Staaten geschmiedete Bund hatte bis 1918 Bestand.

Der Krieg von 1870 stellte auch die Beziehungen zu Frankreich auf eine völlig neue Grundlage. Die von Bismarck stark favorisierte Annexion von Elsass-Lothringen traumatisierte die französische politische Elite und vergiftete dauerhaft das Verhältnis zu Paris. Elsass-Lothringen wurde zum Heiligen Gral des französischen Revanchismus und war Brennpunkt mehrerer aufeinanderfolgender Wellen chauvinistischer Agitation. […]

Aber selbst ohne die Annektierung Elsass-Lothringens hätte die bloße Existenz des neuen Deutschen Reiches die Bezie­hungen zu Frankreich fundamental verändert. Die Schwäche Deutsch­lands war traditionell einer der Eckpfeiler der französischen Sicherheitspolitik gewesen. […]

Nach 1871 richtete sich das Streben Frankreichs danach, jede Möglichkeit zur Eindämmung der neuen Großmacht an seiner Ostgrenze zu nutzen. So gesehen war eine dauerhafte Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland – ungeachtet wiederholter beidseitiger Bemühungen um ein Rapprochement [eine Annäherung] – dem europäischen System nach den Einigungskriegen in gewissem Maße einprogrammiert.
Nehmen wir diese beiden Faktoren – die engen Bande Berlins zu Österreich-Ungarn und den Dauerkonflikt mit Frankreich – als Fixpunkte der europäischen politischen Landschaft in den Jahrzehnten nach der deutschen Einigungsphase, fällt es leichter zu erkennen, warum sich Preußen-Deutschland so schwertat, das Abdriften in jene Isolation zu verhindern, die für die Jahrzehnte vor 1914 so prägend war.

Von der Warte Frankreichs aus lautete das Hauptziel, Deutschland durch die Bildung einer antideutschen Allianz in Schach zu halten. Der aussichtsreichste Kandidat für eine solche Partnerschaft war Russland. Berlin konnte dies nur verhindern, indem es Russland in sein eigenes Bündnissystem einband. Das Problem war, dass eine Allianz, der Russland und Österreich-Ungarn angehörten, notgedrungen instabil sein musste; nachdem Wien aus Deutschland und Italien hinausgedrängt worden war, konzentrierte sich die Außenpolitik Österreich-Ungarns zusehends auf den Balkan, eine Region, in der die eigenen Interessen unmittelbar mit denen Russlands im Widerstreit lagen. […]

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947, übersetzt von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer, Deutsche Verlagsanstalt in der Verlagsgruppe Random House GmbH München 2007, S. 631 ff.

Ab Mitte der 1890er-Jahre veränderte die deutsche Außenpolitik ihre Stoßrichtung. Sie zielte nun auf die aggressive Behauptung und Erweiterung deutscher Machtpositionen in einem vom Wettbewerb der Großmächte im Hochimperialismus bestimmten, globalen Aktionsfeld. Die Zeitgenossen bezeichneten dies als "Weltpolitik" oder auch "Weltmachtpolitik". Diesen Begriff benutzte der Soziologe Max Weber 1895 in seiner Antrittsvorlesung mit der These, dass die deutsche Einigung 1871 nur als der "Ausgangspunkt" einer solchen imperialistischen Politik zu rechtfertigen sei.

Für den Übergang zur Weltpolitik waren vor allem zwei Faktoren maßgeblich. Erstens herrschte an der Spitze der deutschen Politik, bei Kaiser Wilhelm II., der Reichsleitung aus Kanzler und den Staatssekretären der Reichsämter, sowie nicht zuletzt bei der Marineführung die Auffassung vor, dass Deutschland sich der imperialistischen Machtkonkurrenz nicht entziehen könne. Bernhard von Bülow, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär im Auswärtigen Amt, fand dafür 1897 die berühmte Formulierung, dass auch Deutschland seinen "Platz an der Sonne" beanspruchen könne und müsse. Vor allem Wilhelm II. drückte dieses Anliegen in zahlreichen Reden aus, die mit ihrer wichtigtuerischen und prahlenden Rhetorik in den Hauptstädten der anderen Großmächte für nachhaltige Irritationen sorgten. Aus Sicht von Marine und Reichsleitung kam der Weltpolitik auch die Funktion zu, zur "Sammlung" im Innern und damit vor allem dem Kampf gegen die Sozialdemokratie zu dienen. Diese innenpolitische Stoßrichtung gegen die SPD war eine willkommene Nebenfolge, nicht aber das eigentliche Ziel der Weltpolitik.

QuellentextWilhelm II. und der Wilhelminismus

Wilhelm II. (1859–1941) hat einer Epoche den Namen gegeben: die Zeit seiner Herrschaft als deutscher Kaiser von 1888 bis 1918 wird auch als Wilhelminismus bezeichnet. Das lag daran, dass er, anders als sein Großvater Kaiser Wilhelm I., rastlos im Reich herumreiste und in öffentlichen Auftritten seine Meinung zu den verschiedensten Themen äußerte. Allein von 1897 bis 1902 machte Wilhelm II. mindestens 233 Besuche in mehr als 120 deutschen Städten, und die meisten davon gipfelten in einer öffentlichen Rede.

Doch Wilhelm II. verschaffte dem Kaisertum der Hohenzollern nicht nur eine öffentliche Präsenz, die diesem bis dahin gefehlt hatte und die er ganz selbstverständlich in Anspruch nahm. Er erschien darüber hinaus als eine Verkörperung der Kultur jener Epoche, die später seinen Namen trug. Mit seinem impulsiven und reizbaren Verhalten, das sich in Wutausbrüchen ebenso zeigte wie im Wechsel zwischen höchster Anspannung und längeren Erholungspausen, schien Wilhelm II. ein Beleg für die Überreizung der Nerven zu sein, welche die Mediziner damals als "Neurasthenie" diskutierten. Sein prahlerisches Auftreten und seine aggressive Rhetorik gegen Länder und Völker in Europa wie in Übersee (siehe auch "Die Daily Telegraph Affäre" im folgenden Kapitel) machten den Kaiser zum Symbol der imperialistischen "Weltpolitik", mit der das Reich seinen Platz unter den Großmächten ausbauen wollte.

Als der gerade einmal 29 Jahre alte Wilhelm II. 1888 den Thron bestieg, wurde bald deutlich, dass er die in der Verfassung festgelegte Macht des Kaisertums zur Verfolgung innenpolitischer Ziele nutzen wollte. Gegen den Willen Bismarcks veröffentlichte er 1890 die sogenannten Februarerlasse, die eine Reihe sozialpolitischer Initiativen ankündigten. Handelsminister Hans von Berlepsch setzte Teile davon 1891 in einer Novelle der Gewerbeordnung um. Mit einem Verbot der Sonntagsarbeit und einer Reglementierung der Frauen- und Kinderarbeit machte der Arbeiterschutz wichtige Fortschritte und avancierte zum Sinnbild des "Neuen Kurses", den Wilhelm II. und sein neuer Kanzler Caprivi einschlugen.

Ebenso breite wie positive Resonanz hatte auch Wilhelms Intervention in der Schulpolitik. Auf der zweiten Reichsschulkonferenz im Jahr 1890 griff er mit einer langen Rede in den Streit ein, der schon seit längerem zwischen den Befürwortern des Gymnasiums (mit Schwerpunkt auf den alten Sprachen) und jenen des Realgymnasiums (mit stärker naturwissenschaftlicher Bildung)geführt wurde. Wilhelm II. unterstützte die "Realisten" und forderte, die Schule solle "nicht junge Griechen und Römer, sondern junge Deutsche" ausbilden. Wilhelms Unterstützung des "Neuen Kurses" kam aber rasch an ein Ende, als einer der von ihm erhofften Effekte, eine Eindämmung der Sozialdemokratie, ausblieb. Gegen Caprivis Widerstand befürwortete er 1894 neue Ausnahmegesetze gegen die SPD und entließ den Kanzler Ende Oktober desselben Jahres.

Dessen Nachfolger Chlodwig Hohenlohe-Schillingsfürst war eine schwache Figur. 1896 setzte Wilhelm II. sowohl im preußischen Staatsministerium als auch in den Reichsämtern eine Reihe ihm genehmer Minister durch. Manche Historiker haben daraus den Schluss gezogen, dass die Politik im Reich ab 1897 durch ein "persönliches Regiment" gekennzeichnet gewesen sei, mit dem Wilhelm II. die Grundlagen des konstitutionellen Systems durchbrochen habe. Doch 1899 scheiterten gleich zwei vom Kaiser befürwortete Gesetzesvorhaben: die "Zuchthausvorlage", die das Strafrecht für Streikende verschärfte, die Druck auf arbeitswillige Beschäftigte/Streikbrecher ausübten, und sich gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften richtete, und die "Kanalvorlage". Gegen letztere protestierten die ostelbischen Agrarier, da sie durch den Bau des Mittellandkanals den Absatz ausländischen Getreides begünstigt sahen.

Bereits diese Beispiele zeigen, dass Wilhelm II. zwar mit Personalentscheidungen wiederholt Einfluss auf die Politik nahm, aber kein "persönliches Regiment" ausübte. Zudem verschlechterte sich seine Position, als ab 1900 sowohl seine Reden als auch das Verhalten seines Freundeskreises um Philipp zu Eulenburg auf öffentliche Kritik stießen. Nach der Daily Telegraph-Affäre 1908 verzichtete Wilhelm II. vollends auf substanzielle Interventionen in die Innenpolitik. Als Inhaber der "Kommandogewalt" über das Militär hatte er zwar weiterhin das Recht, durch Personalentscheidungen wie die Ernennung Erich von Falkenhayns zum Chef der Obersten Heeresleitung Ende 1914 Einfluss auszuüben. Doch aus der operativen Planung der Militärs war Wilhelm bereits seit 1906 ausgeschlossen, und im Ersten Weltkrieg überstrahlte ihn bald der Ruf des "Helden von Tannenberg", Paul von Hindenburg. Als Wilhelm II. schließlich am Morgen des 10. November 1918 Deutschland verließ, um den Weg in das niederländische Exil anzutreten, stand die Stille, in der sich dies vollzog, im starken Kontrast zum öffentlichen Pomp der ersten Dekade nach seiner Thronbesteigung 1888.

Die zweite Triebkraft hinter dem Übergang zur Weltpolitik war die Formierung radikalnationalistischer Verbände und ihr wachsender Einfluss auf die öffentliche Meinung. So entstand 1891 der Allgemeine Deutsche Verband, ab 1894 Alldeutscher Verband (ADV), als Reaktion auf den Helgoland-Sansibar-Vertrag. In diesem gab das Reich 1890 weitere Gebietsansprüche in Ostafrika auf, und England übertrug dafür die Insel Helgoland an Deutschland. Der ADV zählte bis 1914 nie mehr als 20.000 Mitglieder. Doch zu ihnen gehörten neben Vertretern der Schwerindustrie zahlreiche bildungsbürgerliche Multiplikatoren wie Professoren und Lehrer, die seine Ideen in der Öffentlichkeit propagierten.

Neben das Ziel der "Germanisierung" im Osten traten die Forderung nach weiterer kolonialer Expansion und das Fernziel eines deutschen Weltreichs. Eine Gruppe von liberalen Imperialisten um Max Weber und den protestantischen Pfarrer Friedrich Naumann sah die Weltpolitik zudem als einen Hebel zur Zurückdrängung des agrarisch-aristokratischen Einflusses in der Gesellschaft, da diese Gruppen an kolonialer Expansion kein Interesse hatten. Außerdem hofften die liberalen Imperialisten, mit der Weltpolitik die Lebenshaltung der Arbeiter und deren politische Integration zu verbessern, da Exporte das Wachstum und damit den Wohlstand ankurbelten.

Ihren wichtigsten Ausdruck fand die Weltpolitik im Aufbau einer deutschen Schlachtflotte seit 1898. Weltpolitik und Flottenpolitik waren in vielerlei Hinsicht identisch. Treibende Kraft hinter der Schlachtflotte war Admiral Alfred von Tirpitz, seit 1897 Staatssekretär im Reichsmarineamt. Tirpitz konnte nicht nur auf die Unterstützung des Kaisers und seinen steigenden Einfluss in Berliner Regierungskreisen bauen. Er orchestrierte zudem sehr geschickt die öffentliche Meinung im Sinne der Flotte. Dazu nutzte er ein eigenes "Nachrichtenbüro" im Reichsmarineamt, das zugleich Schützenhilfe bei der Gründung des Deutschen Flottenvereins 1898 leistete und diesen mit Agitationsmaterial versorgte. Mit 1,1 Millionen Mitgliedern (einzeln und als Teil anderer Korporationen) im Jahr 1913 war der Deutsche Flottenverein der größte der radikalnationalistischen Agitationsverbände, welche die Weltpolitik unterstützten.

Das erste Flottengesetz von 1898 sah den Aufbau von zwei Geschwadern mit je acht Schlachtschiffen sowie weiteren Kreuzern und anderen Begleitschiffen über sechs Jahre hinweg vor. Das mit der ersten Flottennovelle 1900 verabschiedete Bauprogramm verdoppelte dieses Ziel auf vier Geschwader. Hinter dem Aufbau der Flotte stand die Vorstellung, dass sich Seemacht automatisch in Weltmacht übersetzen ließe. Die Flotte war eine direkte Herausforderung für Großbritannien, das als weltweit führende Seemacht die Weltmeere kontrollierte. England würde, so das deutsche Kalkül, das durch die Flotte an Einfluss gewachsene Deutschland als Partner in einer Abgrenzung von Interessensphären akzeptieren müssen. Die Londoner Regierung entschied sich jedoch stattdessen zu einem eigenen Rüstungsschritt und baute "Dreadnoughts" (frei übersetzt "Fürchtenichts") genannte Großkampfschiffe. Berlin reagierte darauf 1906 in aggressiver Form mit einer neuerlichen Flottennovelle.

Die gezielte antienglische Stoßrichtung des deutschen Flottenbaus sowie die wiederholte Aufrüstung und Erhöhung des Bautempos trugen zu einer nachhaltigen Verschlechterung und Militarisierung der internationalen Beziehungen bei. Zudem erwies sich, dass offene Räume, in welche die wilhelminische Weltpolitik hätte machtvoll ausgreifen können, nicht mehr vorhanden waren. Ein Beispiel dafür bot der Nahe Osten, wo die deutsche Politik das Osmanische Reich als informellen Partner an sich zu binden suchte. Um die Armee des Sultans zu reformieren, wurden ab den 1880er-Jahren Militärberater entsandt und ab 1913 eine offizielle deutsche Militärmission eingerichtet. Bereits seit 1903 leitete ein deutsches Firmenkonsortium den Bau der Bagdadbahn, welche die Türkei mit Bagdad verbinden sollte. Doch das Projekt stieß von Beginn an auf die Eigeninteressen der westlichen Großmächte und weckte deren Argwohn vor neuer Konkurrenz.

Gescheitert sind auch die Bemühungen Berlins, den wachsenden französischen Einfluss in Marokko zurückzudrängen und damit zugleich einen Keil in die Entente cordiale zwischen Großbritannien und Frankreich zu treiben, mit der beide Mächte 1904 ihre Interessen in Afrika abgegrenzt hatten. In den beiden Marokkokrisen der Jahre 1905 und 1911 – deren zweite Berlin durch die Entsendung des Kanonenboots "Panther" an die marokkanische Küste forcierte – musste die deutsche Regierung jedoch zurückstecken. Dies bedeutete eine diplomatische Niederlage gegenüber Frankreich. Darüber hinaus aber verdeutlichten beide Krisen die internationale Isolation, in die sich Berlin selbst hineinmanövriert hatte, und damit das Scheitern der deutschen Weltpolitik.

Prof. Dr. Benjamin Ziemann lehrt als Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien. Er war Gastwissenschaftler an der University of York, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik –, die Militär- und Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege sowie die Historische Friedensforschung. Er ist Mitglied der Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Biografie von Martin Niemöller.

Jüngste Buchveröffentlichungen

Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014;

Encounters with Modernity. The Catholic Church in West Germany, 1945–1975, New York/Oxford 2014;

Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013;

Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M./New York 2009;

mit Bernd Ulrich (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008;

mit Thomas Mergel (Hg.), European Political History 1870–1913, Alders­hot 2007.