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Autoritärer Staat und Demokratisierung 1890–1914 | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de

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Autoritärer Staat und Demokratisierung 1890–1914

Prof. Dr. Benjamin Ziemann Benjamin Ziemann

/ 17 Minuten zu lesen

Das politische Klima im wilhelminischen Staat heizt sich nach 1890 zusehends auf. Dies schlägt sich zum einen in einer Politisierung nahezu aller Gesellschaftskreise nieder, zum anderen in der vermehrten Radikalisierung ihrer Agitation. In der Folge sieht sich die Reichsleitung in ihrem Handlungsspielraum spürbar eingeschränkt.

Das Militär hat im Kaiserreich eine Sonderstellung inne. Es genießt hohes Ansehen, und über die Wehrpflicht wird die männliche Bevölkerung mit autoritären Wertmustern konfrontiert. Truppenparade durch die Belle-Alliance-Straße (heute Mehringdamm) in Berlin um 1910 (© bpk)

Auch nach der Entlassung Bismarcks als Reichskanzler 1890 blieb das Kanzleramt im "Zentrum der Macht" (Hans Peter Ullmann). Dies galt zumindest bis 1916, als Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg durch die Machtsteigerung der dritten Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg entscheidend geschwächt wurde. Allerdings gelang es keinem der auf Bismarck folgenden Reichskanzler, die Politik des Reiches und Preußens so machtvoll zu lenken wie Bismarck. Selbst Bernhard von Bülow, der von 1900 bis 1909 amtierte, konnte seinen Führungsanspruch nur durchsetzen, solange er das Vertrauen des Kaisers hinter sich wusste.

Bismarcks Nachfolger, Leo von Caprivi, versuchte mit einem "neuen Kurs" des Ausgleichs von sozialen Gegensätzen die konfrontative Grundanlage von Bismarcks Innenpolitik zu überwinden. Neuansätze gab es vor allem in der Arbeiter- und Sozialpolitik sowie bei Handelsverträgen mit verschiedenen europäischen Ländern, deren Zolltarife den Export deutscher Industrieprodukte erleichterten. Dafür waren Zugeständnisse bei den Agrarzöllen nötig. Diese riefen eine agrarisch-konservative Protestbewegung auf den Plan, die sich in der Gründung des Bundes der Landwirte (BdL) 1893 niederschlug. Mit seinen 330.000 Mitgliedern (1913), vorwiegend kleinen und mittleren Bauern aus dem ostelbischen Preußen, orchestrierte der BdL die Vertretung agrarischer Interessen. Er unterstützte Kandidaten der Deutschkonservativen Partei bei Wahlen und nahm damit starken Einfluss auf die Politik dieser Partei. Diese konservative Rebellion der Bauern und Junker war einer von mehreren Gründen für den Sturz Caprivis 1894, mit dem der "neue Kurs" ein plötzliches Ende fand.

Caprivis Karriereende wie auch das vorsichtige Taktieren seines Nachfolgers, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, waren allerdings nicht nur der Tatsache geschuldet, dass keiner von ihnen über das Charisma und den Macht­instinkt Bismarcks verfügte. Hinzu kam, dass die Innenpolitik im "wilhelminischen" Kaiserreich – also unter Wilhelm II. – in einem stark veränderten Umfeld stattfand. Seit den 1880er-Jahren bildete sich ein "politischer Massenmarkt" (Hans Rosenberg) heraus. In ihm bestimmten nicht nur bürgerliche Honoratioren die Politik in Parteien und Parlamenten. Politik entwickelte sich zur Angelegenheit aller Bevölkerungsgruppen, die sich in Gewerkschaften, Vereinen und Verbänden Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen schufen. Vermittelt über die an Auflagenhöhe und Zahl der Blätter stark anwachsende Massenpresse wurde auch die öffentliche Meinung nun zu einem wichtigen Faktor der Politik. Die politische Mobilisierung der Bevölkerung brachte Impulse für eine Demokratisierung des politischen Systems, welche vor allem die Sozialdemokratie forderte. Am rechten Rand des politischen Spektrums führte die Politisierung dagegen ab 1900 zur Formierung eines völkisch-nationalen Lagers, das sich gegen die Reichsleitung und den Reichstag positionierte. Angesichts dieser Mobilisierung der Gesellschaft wurde es für die Reichsleitung zunehmend schwieriger, eine autoritäre Politik durchzusetzen. Selbst das Militär – ein Kernelement des Obrigkeitsstaates – war zumindest mittelbar von der Politisierung betroffen.

Militär und Militarismus

Das Militär hatte im Verfassungsgefüge des Reiches eine Sonderstellung, insofern es weitgehend dem Einfluss des Reichstages entzogen war. Den Ansatzpunkt dafür bot die Kommandogewalt des Kaisers über das Heer, die, weit definiert, nur reine Verwaltungsvorgänge parlamentarischer Kontrolle zugänglich machte. Das Militärkabinett erlaubte es dem Kaiser zudem, vor allem bei der Besetzung von Offiziersstellen Einfluss auf das Heer auszuüben. Das Militär hatte darüber hinaus eine politische Ordnungs- und Drohfunktion vor allem der sozialistischen Arbeiterbewegung gegenüber, etwa bei der Niederschlagung von Streiks.

Durch die Wehrpflicht trug die Armee zur autoritären Prägung der männlichen Bevölkerung bei. Junge Männer mussten zunächst drei, ab 1893 dann zwei Jahre in den Kasernen Dienst tun. Der Militärdienst löste vor allem ländliche Rekruten aus der Enge ihrer dörflichen Lebenswelt heraus und öffnete sie für nationalistische Ideologien. Das war allerdings keine notwendige Folge des Militärdienstes, und viele katholische und sozialdemokratische Wehrpflichtige erlebten die rauhe und zuweilen brutale Behandlung durch die Offiziere eher als eine Bestärkung ihrer Vorbehalte gegenüber dem Reich.

Eine ähnliche Ambivalenz zeigten auch die Kriegervereine, in denen sich neben Veteranen der Einigungskriege vor allem ehemalige Wehrpflichtige versammelten und damit das Prestige des Militärdienstes in die zivile Gesellschaft übertrugen. Die seit 1899 im Dachverband des "Kyffhäuser-Bundes" zusammengefassten Vereine zählten 1913 knapp 2,9 Millionen Mitglieder. Damit waren sie noch weit vor den sozialdemokratischen "Freien" Gewerkschaften die mit Abstand größte Massenorganisation im deutschen Kaiserreich. Die Ideologie der Verbandspresse war antisozialdemokratisch, nationalistisch und militaristisch ausgerichtet. Insbesondere im Vorfeld von Reichstagswahlen agierte der Kyffhäuserbund propagandistisch im Sinne der Reichsleitung.

QuellentextDer Reserveoffizier als bürgerliche Sozialfigur

Johann Georg Mönckeberg (1836–1908) war seit 1892 Bürgermeister von Hamburg und damit einer der führenden Vertreter des hanseatischen Bürgertums. In einem Brief an seinen Sohn Carl reagiert er 1896 auf dessen Bedenken, die nötigen Schritte zum Erwerb des Reserveoffizierspatents einzuschlagen:

"Die eigentliche Veranlassung meines heutigen Briefs sind deine Bemerkungen über das Offizierwerden. Ich lasse die Fragen, welche tiefer gehen und deshalb schwieriger zu beantworten sind (– ob man nicht als Reserveoffizier idealen Zwecken dienen kann; ob man berechtigt ist, eine solche Gelegenheit von der Hand zu weisen; ob man nicht auf jedem Gebiete jede möglichst hohe Stufe zu erreichen suchen soll; ob es nicht eine Konsequenz der allgemeinen Wehrpflicht ist, daß jeder, der Offizier werden kann, auch als solcher dient usw.), auf sich beruhen und halte mich an die einfache, nüchterne Frage: ist es verständig, wenn man Offizier werden kann und in Deiner Lage ist, darauf zu verzichten? Der Kampf ums Dasein, die Konkurrenz ist heutzutage so schwer – einerlei, welchem Berufe Du Dich widmest –, daß man verständigerweise keinen Vorteil zurückweisen darf, der ehrlicher- und anständigerweise sich bietet. Es unterliegt aber m. E. gar keinem Zweifel, daß der Reserveoffizier heute auf den verschiedensten Gebieten Vorteile hat, die andere nicht haben. Ob es gerechtfertigt ist, daß der Reserveoffizier diese Vorteile genießt, kommt nicht in Betracht; wir müssen mit der Welt und dem Leben rechnen, wie es zur Zeit ist, und da steht es fest, daß Dir das Fehlen der Offiziersqualität oft schaden, der Besitz dieser Qualität oft nützen kann. Da Du nun, wie ich annehme, Offizier werden kannst, und zwar ohne besondere Opfer dafür zu bringen (die Zeit der Übungen betrachte ich nicht als verloren – die Übungen selbst sind keine große Beschwerde für Dich – der Kostenpunkt entscheidet nicht), so scheint es mir in der Tat nicht verständig, die Chance, deren Wert für Deine Zukunft Du augenblicklich nicht übersehen kannst, wegzuwerfen. […] Du darfst Dich darüber nicht täuschen, daß das ‚Nicht-Offizierwerden‘ von der Welt ganz anders aufgefaßt wird als von Dir und einem kleinen Kreise. Ein sehr verständiger Mann (kein Offizier) sagte mir neulich: Wenn junge Leute, deren äußere Verhältnisse sie nicht nötigen, erklären, nicht Offizier werden zu wollen, so ist das in der Regel ein leerer Vorwand – die Trauben sind sauer! Das ist die herrschende Auffassung, und diese Auffassung darfst Du am wenigsten mißachten. Wer auf den falschen Militarismus schelten will, muß sich nicht der Antwort aussetzen: er schilt, weil er nicht Offizier geworden ist […] Ich kann Dir daher nur raten (unbedingter als anderen), Offizier zu werden, und bitte Dich jedenfalls, keine übereilte Erklärung abzugeben, sondern die Sache gründlich zu überlegen."

Bernd Ulrich / Jakob Vogel / Benjamin Ziemann (Hg.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871–1914, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt /M. 2001, S. 136 f.

Vor allem in den ländlichen Kriegervereinen, welche die große Mehrheit aller Mitglieder stellten, standen allerdings die geselligen Aktivitäten im Zentrum des Vereinslebens. Statt nationalistischer Ideologien prägten bierseliges Beisammensein und periodische Feste die Kriegervereine. Linksliberale und sozialdemokratische Zeitgenossen wie der liberale Historiker und Pazifist Ludwig Quidde (1858–1941) kritisierten diesen Gesinnungsmilitarismus, der mit militärischen Werten wie Disziplin, Untertänigkeit und einer martialischen Kriegsverherrlichung breite Bevölkerungsschichten im wilhelminischen Deutschland geprägt habe. Dieses Bild ist nicht völlig falsch, aber doch stark überzeichnet und ähnelt eher einer Karikatur. Denn eine militaristische Ideologie machten sich in den Kriegervereinen und darüber hinaus vor allem (klein-) bürgerliche Mitglieder zu eigen, nicht jedoch solche aus unterbürgerlichen Schichten.

In den Jahren vor 1914 trat dann ein radikaler bürgerlicher Militarismus hervor, der sich einer aggressiven Außenpolitik und einer massiven Aufrüstung verschrieb. Der Deutsche Wehrverein, 1912 gegründet, trug mit der lautstarken Agitation seiner 360.000 überwiegend bürgerlichen Mitglieder zur Durchsetzung der beiden Heeresvorlagen 1912 und 1913 bei. Mit einer Vergrößerung der Personalstärke des Heeres um 137.000 Mann löste die Heeresvorlage 1913 den größten Rüstungsschub des Kaiserreichs aus.

Das Reichstagswahlrecht und die Fundamentalpolitisierung

Während das Heer bis zum Ende des Kaiserreichs eine In­stanz des autoritären Staates blieb, war das Reichstagswahl­recht ein wichtiges Instrument der Politisierung und Demokratisierung. Als allgemeines, gleiches und direktes Männerwahlrecht eröffnete es jedem Mann über 25 Jahren die aktive Teilhabe an der Reichspolitik. Die freie Stimmabgabe trug zur offenen Austragung von Konflikten in der politischen Arena bei. Durch ihre Stimmabgabe bei den Reichstagswahlen praktizierten die Männer im Kaiserreich ein wichtiges Element der Demokratie, die Mobilisierung von Bürgern für konkurrierende politische Ziele. Der starke, wenn auch diskontinuierliche Anstieg der Wahlbeteiligung zu den Reichstagswahlen von 1871 bis 1912 zeigt, dass dieses Recht auch so verstanden wurde. Die Beteiligung stieg von knapp 51 Prozent im Jahr 1871 auf fast 85 Prozent bei den letzten Reichstagswahlen 1912, wobei es Sprünge nach oben vor allem von 1871 bis 1878 und von 1898 bis 1903 gab. Die Parteien reagierten auf diese Politisierung der Gesellschaft mit einer Professionalisierung der Wahlkämpfe.

Ein Indiz für die zunehmende Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten war auch die Zunahme der Stichwahlen in einzelnen Wahlkreisen. Unter dem absoluten Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs wurde ein zweiter Wahlgang der beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen dann nötig, wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht hatte. Der Anteil der Stichwahlen, bei denen es stets zu Absprachen zwischen verschiedenen Parteien kam, stieg von 11,4 Prozent bei den Wahlen 1874 auf nicht weniger als 47,9 Prozent der Wahlkreise 1912. Von den Stichwahlabsprachen profitierten vor allem die Parteien in der Mitte, National- und Linksliberale, während die SPD nur rund ein Viertel aller Stichwahlen für ihre Kandidaten gewinnen konnte.

Die Reichstagswahlen im Kaiserreich waren ein Instrument der Demokratisierung. Es überrascht daher nicht, dass sie beständig dem Versuch autoritärer Beeinflussung und Kontrolle ausgesetzt waren. Die preußische Regierung verzichtete zwar auf die Aufstellung von Regierungskandidaten. Aber durch den Einsatz des lokalen Verwaltungsapparates ließ sich der Wahlkampf zugunsten jener Kandidaten beeinflussen, welche die Reichsleitung unterstützten. Gegen Kritik an der Reichsleitung ließ sich auch die vorzeitige Auflösung des Reichstages und die Anberaumung von Neuwahlen einsetzen, wie sie 1878, 1887, 1893 und 1907 erfolgten. Solche Wahlen standen zumeist im Zeichen nationaler Mobilisierung, wie etwa die sogenannten Hottentotten-Wahlen des Jahres 1907, als sich SPD und Zentrum einem Nachtragshaushalt zur Finanzierung des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwest­afrika verweigerten. Der Wahlkampf richtete sich vor allem gegen die als national "unzuverlässig" gebrandmarkte SPD. Zum ersten Mal seit 1884 erlitt die SPD Stimmenverluste und sank von 31,7 auf 28,9 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Reichtagswahlergebnisse (© Nach: Der Spiegel Geschichte 3/2013, Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1914: Der Weg in die Moderne, S. 43)

Nicht nur die Reichsleitung versuchte, der Demokratisierung entgegenzuwirken. Auch die soziale Abhängigkeit von den "Brotherren" schränkte die freie Stimmabgabe ein. Vor allem in den ländlichen Provinzen Preußens östlich der Elbe und in den schwerindustriellen Zentren an der Ruhr und im Saargebiet vermochten es Junker und Unternehmer, die Stimm­abgabe zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Allerdings setzte der Reichstag 1903 den effektiven Schutz des Wahlgeheimnisses durch, indem er die Aufstellung von Wahlkabinen und die Ausgabe von Briefkuverts für die Stimmzettel obligatorisch machte. Die Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, die vor allem das Zentrum und die SPD vorantrieben, erhielten damit weiteren Auftrieb.

Um die Jahrhundertwende vollzog sich zudem ein tiefgreifender Wandel in der Ausrichtung und Kooperation der Parteien untereinander, der mit einer Veränderung der in den Wahlkämpfen verhandelten Kernthemen zusammenhing. In der Bismarckzeit standen zumeist Befürworter der Reichsgründung (Konservative und Nationalliberale) gegen jene Parteien, die sich vom neuen Nationalstaat distanzierten (Linksliberale, SPD, bis 1879 das Zentrum, daneben auch die Vertreter der polnischen Minderheit). Doch dieser Gegensatz zwischen "Reichsfreunden" – die sich im "Kartell" zusammenfanden – und "Reichsfeinden" verlor seit Ende der 1890er-Jahre an Relevanz. Denn nun traten Fragen der sozialen und politischen Gerechtigkeit (sogenannte fairness issues) in den Vordergrund der Wahlkämpfe, neben Zöllen, Lebensmittelpreisen und der Besteuerung auch die Frage des Wahlrechts in den Einzelstaaten. Damit rückten Konservative und Zentrum als Parteien der ländlichen Produzenten zumindest auf der Ebene der Interessen ihrer Wähler dichter zusammen, auch wenn das Zentrum bei manchen Gesetzesvorhaben im Reichstag mit den bürgerlichen Parteien stimmte. Ihnen gegenüber standen jene Parteien, welche die Interessen der städtischen Konsumenten vertraten, neben den Liberalen beider Couleur die Sozialdemokraten. Mit ihrer Kritik an steigenden Fleischpreisen präsentierte sich die SPD ab 1900 zunehmend als Vertreterin von Konsumenteninteressen und konnte damit auch kleinbürgerliche Wähler gewinnen.

Es wäre jedoch verfehlt, das Erlernen demokratischer Verhaltensmuster durch die Ausübung des Reichstagswahlrechtes überzubetonen. Denn diesem standen weiterhin ungleiche Zensus- und Klassenwahlrechte in den Einzelstaaten gegenüber, allen voran das Dreiklassenwahlrecht für die Wahlen zum preußischen Landtag. Es war weder geheim, noch gleich, noch direkt. Vielmehr wurden die Wähler gemäß den von ihnen bezahlten direkten Staatssteuern in drei Abteilungen oder Klassen eingeteilt, auf die jeweils ein Drittel des gesamten Steuervolumens entfiel. Urwähler der drei Klassen bestimmten Wahlmänner, die dann den Abgeordneten eines Wahlbezirks wählten.

Dieses Wahlverfahren begünstigte die Konservativen und Nationalliberalen und benachteiligte vor allem die Sozialdemokraten. Trotz wiederholter Proteste der SPD kam es jedoch bis 1918 zu keiner Reform des preußischen Wahlrechts. Obwohl die SPD bei der Landtagswahl des Jahres 1908 in der dritten Abteilung fast 28 Prozent der Stimmen erhielt, gelang es ihr bei dieser Wahl überhaupt erstmals, sechs von insgesamt 443 Abgeordneten in den preußischen Landtag zu entsenden. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1912 war die SPD dagegen nicht nur mit 34,8 Prozent der Stimmen stärkste Partei – wie stets seit 1890 –, sondern stellte mit 110 Abgeordneten erstmals auch die stärkste Fraktion im Reichstag.

Diese Entwicklung führte zu einer paradoxen Folgewirkung des demokratischen Reichstagswahlrechtes: Die SPD war unter den ab 1890 herrschenden Bedingungen die einzige Partei, die einen Vorteil von diesem Prinzip hatte. So gab es neben ideologischen Vorbehalten für alle anderen Parteien "handfeste machtpolitische Gründe", an dem konstitutionellen System festzuhalten, bei dem die politischen Parteien im Vorhof der Macht verblieben (Thomas Kühne). Dies verhinderte gleichzeitig eine Parlamentarisierung des Reiches, also eine stärkere Kontrolle der Reichsleitung durch das Parlament oder gar einen Übergang zur parlamentarischen Monarchie nach britischem Vorbild.

Radikaler Nationalismus und Antisemitismus

Das Reichstagswahlrecht machte aus Untertanen Staatsbürger und stärkte den Einfluss der Gesellschaft gegenüber dem Obrigkeitsstaat. Aber die im Jahrzehnt um 1900 anhebende Welle der Politisierung intensivierte nicht nur partizipative und demokratische Politikmuster. Auch nationalistische und antisemitische Gruppen, die sich um 1900 in wachsender Zahl vor allem in den nationalen Agitationsverbänden formierten, beteiligten sich daran. Die Mitglieder des Flottenvereins, des Ostmarkenvereins und der Deutschen Kolonialgesellschaft praktizierten auf ihren Versammlungen einen charismatischen Politikstil, in dessen Zentrum die Idee eines zugleich populären und starken Führers für die Nation stand.

Mitgliederstarke Vereine und Verbände im wilhelminischen Deutschland (© Zusammengestellt nach Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of modern German History, Oxford 2011, S. 318, Tabelle aus dem Englischen übersetzt von Martin Fendt)

Dem lag eine Verschiebung des deutschen Nationalismus in Form und Inhalt zugrunde, die sich seit der Reichsgründung abgezeichnet und seit den 1880er-Jahren vollzogen hatte: die "konservative Inbesitznahme der Nation" (Dieter Langewiesche). Mit ihr verwandelte sich der Nationalismus von einer liberalen Emanzipationsideologie zu einer auf das Reich bezogenen Strömung, die sich die innere und äußere Vollendung der 1871 vollzogenen Nationsbildung auf die Fahnen schrieb. Nach innen bedeutete dies vor allem den Kampf gegen die als "vaterlandslos" gebrandmarkte Sozialdemokratie. In den preußischen Ostprovinzen und an der Grenze zu Russland sollte eine aggressive Germanisierungspolitik den Zustrom weiterer polnischer Arbeitskräfte stoppen und die ethnische Homogenität der deutschen Bevölkerung gewährleisten. Schließlich sollten jene circa 25 Millionen deutsch sprechenden Menschen in Österreich-Ungarn, dem Baltikum und Südosteuropa, die nicht im deutschen Nationalstaat wohnten, gegen den Druck zur Assimilierung in ihre lokale Gesellschaft geschützt werden.

Diesem radikalen Nationalismus, der seit den 1890er-Jahren in zahlreichen Agitationsverbänden eine Plattform und massenwirksame Unterstützung fand, lag ein Modell der Nation zugrunde, das sich von der Vorstellung einer auf Literatur und Sprache begründeten Kulturnation ebenso unterschied wie von einer als politische Ordnung verstandenen Staatsnation.

Die Radikalnationalisten begriffen die Nation als essenziell und wesenhaft, in der ethnischen Gemeinschaft des deutschen Volkstums begründet. Die ethnischen Gemeinsamkeiten der Deutschen, die sie gegen innere und äußere Feinde verteidigen wollten, sahen sie als biologisch determinierte, rassische Eigenschaften. Durch die Übertragung des Darwinismus auf die Gesellschaft (Sozialdarwinismus) entstand die Vorstellung eines unablässigen Daseinskampfes der Völker, den nur in sich geschlossene, zum Kampf bereite Nationen bestehen würden. Die radikalen Nationalisten der wilhelminischen Ära vertraten ein in sich geschlossenes Weltbild, das gerade durch die Konfrontation mit einer als ungenügend empfundenen Realität an Radikalität gewann. Dabei wandten sie sich schließlich auch gegen das Kaisertum der Hohenzollern. So publizierte Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, 1912 unter Pseudonym ein Pamphlet mit dem Titel "Wenn ich der Kaiser wäre", in dem er das Modell einer autoritär strukturierten Volksgemeinschaft entwarf.

Quellentext"Wenn ich Kaiser wär'"...

Unter dem Pseudonym Daniel Frymann publizierte der in Mainz lebende Jurist und eingefleischte Antisemit Heinrich Claß (1868–1953) seine Schrift "Wenn ich Kaiser wär". Der Titel war Programm: Der Text des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, der hier in Auszügen wiedergegeben wird, zeigt, wie der radikale, völkische Nationalismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges über das politische System des Kaiserreichs hinauswies.

"Schaden, Nöte und Gefahren": […] Besitz und Bildung fühlen sich politisch entrechtet, durch die Entscheidung der Massen mundtot gemacht. Die Unternehmer, die nach der Entwicklung der letzten Jahrzehnte doch zu den Pfeilern unserer nationalen Wirtschaft geworden sind, sehen sich der Willkür der sozialistisch verhetzten Arbeiterschaft ausgesetzt – jeder staatliche Schutz wird versagt. […]

Der sozialistischen Presse und den Parteiagitatoren hat man über zwanzig Jahre unbeschränkte Gelegenheit gewährt, ihre zersetzende, verhetzende Tätigkeit auszuüben, und die urteilslosen Massen dem eigenen Volke und Staate abzukehren. Die Liberalen aller Schattierungen, abgesehen vom rechten Flügel der Nationalliberalen, […] arbeiten der Sozialdemokratie gewissenlos in die Hände. […]

Großkapital, Großindustrie, Großhandel gefährden den Mittelstand aufs schwerste, und es ist begreiflich, daß Existenzen, die trotz allen Fleißes, aller Sparsamkeit in diesem Kampfe nicht voran kommen oder gar unterliegen, dem Staate gram werden, der zugesehen hat, wie die größere Kapitalmacht sie erwürgt. Das einst als Inbegriff volkswirtschaftlicher Weisheit verehrte "freie Spiel der Kräfte" hat […] seine zwei Seiten, und die schlimme Seite trägt ihr Teil der Schuld daran, daß heute die ehemals treuesten und zuverlässigsten Schichten der Bevölkerung unzufrieden sind. […]

Über die Juden: Hier nun muß der verhängnisvollen Rolle gedacht werden, die in unserem Volksleben das Judentum spielt, seitdem ihm das Geschenk der Emanzipation in den Schoß geworfen wurde, das durch keinerlei Leistungen verdient war, sondern aus der Stimmung an sich schöner Menschlichkeit, aus der Idee der Gleichheit der Menschen heraus gewährt wurde.

Nun sind Deutscher und Jude ihrem innersten Wesen nach wie Feuer und Wasser; solange unser Volksleben moralisch gesund war, gab es nichts Verschiedeneres als die deutsche und die jüdische Lebensauffassung. Der Deutsche steht über dem Besitz, bleibt ihm gegenüber innerlich frei und beweist seine Freiheit, indem er sich ausleben will ohne Rücksicht auf den wirtschaftlichen Erfolg. Ehre, Unabhängigkeit, Eigenwilligkeit sind die Triebfedern seines Handelns […]; der Jude aber stellt sein Leben unter die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit; der Erwerb, der Besitz sind ihm alles […].

Gibt es eigentlich etwas Tragischeres, als die Rolle der heutigen Regierenden? Zwischen ihnen und dem Volke steht ein Mittler – der Jude – und er läßt nur durch, was ihm gefällt. […] Das A und O der Maßregeln gegen die jüdische Zersetzung lautet aber: Die Rasse ist der Quell der Gefahren – Die Religion spielt keine andere Rolle, als daß sie ein Ausfluß der Rasse ist. […]

Zum Wahlrecht: Wenn man den Dingen auf den Grund geht, wird man sagen müssen, daß in dem Augenblicke, wo das Sozialistengesetz nicht wieder erneuert wurde, die Axt an die Wurzel des allgemeinen gleichen Wahlrechts gelegt wurde. Denn dies demokratischste Wahlrecht ist politisch nur möglich, wenn die Gesamtheit der Wähler erfüllt ist von der gleichen National- und Staatsgesinnung, wenn alle einig sind über die Grundlagen des staatlichen Lebens wie Volkstum, Monarchie, Eigentum, und wenn die Auffassungen nur auseinandergehen in Fragen der Abstufung des Maßes der Rechtsverteilung zwischen der Gesamtheit (dem Staate) und dem einzelnen, sowie in Fragen der staatlichen Zweckmäßigkeiten. Sobald eine stärkere Wähler­gruppe die Grundlagen des staatlichen und nationalen Lebens verwirft, ist das allgemeine Wahlrecht in Frage gestellt, und es wird unmöglich, wo Wählermassen dasselbe tun. […]

Das allgemeine gleiche Wahlrecht ist immer eine Unwahrheit gewesen, da es eine Gleichheit der Menschen voraussetzt, die sich niemals verwirklichen lassen wird. Es ist unmoralisch, indem es den Würdigen, Fähigen, Reifen genau so behandelt, wie den Unwürdigen, Unfähigen, Unreifen. Es ist endlich ungerecht, indem es tatsächlich durch die Gewalt der Massen, die Massenstimmenzahl, die Gebildeten und Besitzenden entrechtet. […]

Es ist ein dringendes Bedürfnis unseres öffentlichen Lebens, daß die Industriekapitäne mit ihren Erfahrungen zur Teilnahme gewonnen werden; möglich, daß die Reform des Wahlrechts und die dadurch herbeigeführte Hebung des parlamentarischen Niveaus diesen Führern unseres Wirtschaftslebens die Mitwirkung wieder erwünschter erscheinen läßt.

Ganz anders, als mit den selbst Werte schaffenden Großbetrieben liegt die Sache mit den Großbanken; hier liegt kein öffentliches Interesse vor, um diese gewaltigen Kapitalmassen in einer Hand zu lassen […].

Gegen den Sozialismus: So wie bisher, kann und darf es mit dem Gewährenlassen der Sozialdemokratie gegenüber nicht weitergehen – darüber sind alle ernsten Patrioten einig. […] Es heißt deshalb, der Masse die Gelegenheit zur Umkehr oder zum Haltmachen dadurch zu bereiten, daß man sie von der jetzigen Führerschaft befreit, indem alle Reichstags- und Landtagsabgeordneten, alle Parteibeamten, alle Herausgeber, Verleger, Redakteure sozialistischer Zeitungen und Zeitschriften, alle sozialistischen Gewerkschaftsführer – kurz alle im Dienste der sozialistischen Propaganda Stehenden aus dem Deutschen Reiche ausgewiesen werden; dasselbe gilt natürlich auch für alle Anarchisten. […] Aber, wenn man den Kampf aufnehmen will, muß man sich darüber klar sein: keine Halbheit, keine Schwäche, keine Sentimentalität – ganze Arbeit mit festem, hartem Willen. […]

Notwendigkeit territorialer Ausdehnung: Jede Ausdehnung in Europa ist von vornherein nur durch siegreiche Kriege herbeizuführen, da weder Frankreich noch Rußland so menschenfreundlich sein werden, uns Teile ihres Gebietes abzutreten; haben wir nun gesiegt und erzwingen wir Landabtretungen, so erhalten wir Gebiete, in denen Menschen wohnen, […] die uns feind sind, und man wird sich fragen, ob solch ein Landzuwachs unsere Lage verbessert. […]

Aber wenn man gerade der besonderen Lage des deutschen Volkes ganz auf den Grund geht, das in Europa eingeschnürt ist und unter Umständen bei weiterem starkem Wachstum ersticken würde, wenn es sich nicht Luft macht, so wird man anerkennen müssen, daß der Fall eintreten kann, wo es vom besiegten Gegner im Westen oder Osten menschenleeres Land verlangen muß – es sei denn, wir hätten besiedelungsfähige Kolonien über See oder wir wären entschlossen, wieder eine Auswanderung Deutscher in fremde Staaten zuzulassen. […]

Daniel Frymann [Heinrich Claß], Wenn ich der Kaiser wär’ – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 3. Aufl. Leipzig, 1912, S. 16, 28, 30, 36, 40, 43, 61 f.,65–69, 140 f. Auch abgedruckt in Willibald Gutsche, Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/98 bis 1917, Akademie Verlag, Berlin (Ost) 1977, S. 154–59 (Auszüge)

Ein wichtiger Bestandteil der Pläne von Claß war eine Ausnahmegesetzgebung gegen deutsche und ausländische Juden, welche für diese jeden weiteren Zuzug unterband und jene unter ein Sonderrecht stellte, das einer Aufhebung der Emanzipation gleichkam. Damit war der Text von Claß zugleich eine Programmschrift des radikalen Antisemitismus am Vorabend des Weltkrieges. Den Begriff "Antisemitismus" hatte der Journalist Wilhelm Marr 1879 geprägt. Damit bezeichnete er eine Gegnerschaft zu den Juden, die diese nicht wie der christliche Antijudaismus als eine Religionsgemeinschaft verstand, deren vermeintliche Defizite sich durch die Taufe überwinden ließen. Wie andere Antisemiten seit den 1870er-Jahren begriff Marr die Juden vielmehr als Ursache und Chiffre für die sozialen und ökonomischen Missstände der modernen Gesellschaft. Gerade im "Gründerkrach" der Jahre ab 1873 wandten sich Antisemiten gegen den angeblich unheilvollen Einfluss von Juden in Banken und Börsen als den Zentren der kapitalistischen Ökonomie.

Der moderne Antisemitismus ist ein postemanzipatorisches Phänomen. Er reagierte auf die 1871 abgeschlossene rechtliche Gleichstellung der Juden mit einem neuen Verständnis von Differenz und Ausschließung in der Gesellschaft. In vielen Metaphern und Stereotypen knüpften antisemitische Reden und Texte an die Vorstellungswelt des christlichen Antijudaismus an, der Juden als "Wucherer" und "Parasiten" dämonisierte. Der moderne Antisemitismus unterschied sich davon aber dadurch, dass er die jüdische Minderheit nicht in einem religiösen Gegensatz zu den Christen, sondern in einem ethnischen Gegensatz zu den Deutschen als Nation begriff. Viele antisemitische Texte der 1870er- und 1880er-Jahre hatten diesen Gegensatz vornehmlich als einen kulturellen konstruiert. Die Juden wurden deshalb zur Assimilation, zur Anpassung an die deutsche Kultur aufgefordert. Die radikalen Nationalisten ab 1890 konzipierten die Differenz zwischen Juden und Deutschen jedoch biologisch, als einen Gegensatz zwischen verschiedenen Rassen, die sie als "Blutsgemeinschaft" verstanden. Vom Antisemitismus der Radikalnationalisten ab 1900 führt so eine direkte Kontinuitätslinie zum völkischen Antisemitismus der Nationalsozialisten.

Quellentext„Unsere Aussichten“ – Auftakt des Antisemi­tismusstreits

Heinrich von Treitschke (1834–1896) war einer der einflussreichsten Historiker im Kaiserreich und zudem Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. Mit seinen antisemitischen Äußerungen in dem Artikel "Unsere Aussichten" entfachte Treitschke einen Streit über Judentum, Assimilation und Antisemitismus, der bis 1881 andauerte. Der linksliberale Historiker Theodor Mommsen (1817–1903) ergriff in diesem Streit gegen Treitschke Partei. Treitschke schrieb unter anderem:

Wenn Engländer und Franzosen mit einiger Geringschätzung von dem Vorurtheil der Deutschen gegen die Juden reden, so müssen wir antworten: Ihr kennt uns nicht; Ihr lebt in glücklicheren Verhältnissen, welche das Aufkommen solcher "Vorurtheile" unmöglich machen. Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung nicht ausüben können; über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können. Die Israeliten des Westens und des Südens gehören zumeist dem spanischen Judenstamme an, der auf eine vergleichsweise stolze Geschichte zurückblickt und sich der abendländischen Weise immer ziemlich leicht eingefügt hat; sie sind in der That in ihrer großen Mehrzahl gute Franzosen, Engländer, Italiener geworden – soweit sich dies billigerweise erwarten läßt von einem Volke mit so reinem Blute und so ausgesprochener Eigenthümlichkeit. Wir Deutschen aber haben mit jenem polnischen Judenstamme zu thun, dem die Narben vielhundertjähriger christlicher Tyrannei sehr tief eingeprägt sind; er steht erfahrungsgemäß dem europäischen und namentlich dem germanischen Wesen ungleich fremder gegenüber.

Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge. Es wäre sündlich zu vergessen, daß sehr viele Juden, getaufte und ungetaufte, Felix Mendelssohn, Veit, Riesser u. A. – um der Lebenden zu geschweigen – deutsche Männer waren im besten Sinne, Männer, in denen wir die edlen und guten Züge deutschen Geistes verehren. Es bleibt aber ebenso unleugbar, daß zahlreiche und mächtige Kreise unseres Judenthums den guten Willen schlechtweg Deutsche zu werden durchaus nicht hegen. Peinlich genug, über diese Dinge zu reden; selbst das versöhnliche Wort wird hier leicht mißverstanden. Ich glaube jedoch, mancher meiner jüdischen Freunde wird mir mit tiefem Bedauern Recht geben, wenn ich behaupte, daß in neuester Zeit ein gefährlicher Geist der Ueberhebung in jüdischen Kreisen erwacht ist, daß die Einwirkung des Judenthums auf unser nationales Leben, die in früheren Tagen manches Gute schuf, sich neuerdings vielfach schädlich zeigt. [...]

Ueberblickt man alle diese Verhältnisse – und wie Vieles ließe sich noch sagen! – so erscheint die laute Agitation des Augenblicks doch nur als eine brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat. Sie hat zum Mindesten das unfreiwillige Verdienst, den Bann einer stillen Unwahrheit von uns genommen zu haben; es ist schon ein Gewinn, daß ein Uebel, das Jeder fühlte und Niemand berühren wollte, jetzt offen besprochen wird. Täuschen wir uns nicht: die Bewegung ist sehr tief und stark; einige Scherze über die Weisheitssprüche christlich-socialer Stump-Redner [eine Anspielung auf den Berliner Hofprediger und Gründer der Christlich-Sozialen Bewegung, Adolf Stoecker] genügen nicht sie zu bezwingen. Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!

Heinrich von Treitschke, "Unsere Aussichten" (1879), in: Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1965, S. 7 ff.

Politisch formierte sich der Antisemitismus zunächst in Antisemitenparteien, die populistische Außenseiter wie der Publizist und Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg, später der aus Hessen stammende Politiker Otto Böckel und der brandenburgische Reichstagsabgeordnete Hermann Ahlwardt gründeten und anführten. Diese auf regionale Hochburgen begrenzten Parteien fanden in zwei Wellen erheblichen Zulauf, von 1878 bis 1882 und nochmals von 1887 bis 1896. Auf dem Höhepunkt ihrer Mobilisierung erreichten sie bei der Reichstagswahl 1893 immerhin 3,4 Prozent der Stimmen und 16 Mandate. Seit 1896 setzte jedoch der Niedergang dieser Parteien ein, die nun kaum mehr als 250.000 Stimmen für sich gewinnen konnten.

Das heißt jedoch nicht, dass der moderne Antisemitismus ab 1900 politisch bedeutungslos gewesen wäre. Bereits seit den 1880er-Jahren waren antisemitische Vorstellungen in vielen Interessenverbänden ein zentrales Element des politischen Weltbildes. Das galt nicht nur für die radikalnationalistischen Agitationsverbände wie den Alldeutschen Verband oder später den Wehrverein, sondern auch für den Bund der Landwirte oder den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband (beide 1893 gegründet), welche die wirtschaftlichen Interessen des "alten" Mittelstandes der Bauern und des "neuen" Mittelstandes der Angestellten vertraten.

Weite Verbreitung erlangten antisemitische Stereotypen und Ressentiments auch unter den organisierten Studenten. Die Vereine deutscher Studenten (VDSt), die sich 1881 zum Kyff­häuser-Verband zusammenschlossen, waren aus der Agitation für die Antisemitenpetition des Jahres 1880 entstanden, der sich etwa 20 Prozent, in Berlin gar die Hälfte aller Studenten anschloss. Die VDSt schlossen gläubige Juden, seit 1896 auch getaufte Juden von der Mitgliedschaft aus. Auch die studentischen Burschenschaften nahmen seit 1896 keine jüdischen Mitglieder mehr auf. Der radikale Antisemitismus des Kaiserreichs fand allerdings eine Grenze in der Anwendung von Gewalt gegen Juden. Zwar kam es vereinzelt zu Pogromen, das heißt Akten kollektiver Gewalt gegen einzelne jüdische Gemeinden, so etwa 1900 in der Stadt Konitz in Westpreußen. Aber Gewalt zur Durchsetzung antisemitischer Ziele vertraten auch Radikalnationalisten wie Heinrich Claß und der Alldeutsche Verband nicht. Die Verbindung von rassistischem Antisemitismus mit terroristischen Gewaltakten gegen Juden zeichnete sich erst während des Ersten Weltkrieges ab und dann, stark radikalisiert, nach Kriegsende und Niederlage seit Herbst 1918.

Innenpolitische Konflikte ab 1900

Ab 1900 amtierte der Karrierediplomat Bernhard von Bülow als Reichskanzler. Er erfreute sich einer engen Beziehung zu Kaiser Wilhelm II. und genoss dessen Vertrauen. Sein Vorgänger, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, hatte auf Drängen des Kaisers zweimal versucht, gegen die Sozialdemokratie gerichtete Ausnahmegesetze durch den Reichstag zu bringen. Doch sowohl die gegen die SPD als Partei des "Umsturzes" gerichtete "Umsturzvorlage" (1895) als auch die auf die Freien Gewerkschaften abzielende "Zuchthausvorlage" (1899) fanden keine Mehrheit unter den bürgerlichen Parteien des Reichstages, da das Zentrum in beiden Fällen geschlossen die Zustimmung verweigerte. Wie bereits bei der Durchsetzung der Flottenvorlage 1898 zeigte sich daran, dass dem Zentrum ab 1900 eine parlamentarische Schlüsselstellung zukam. Bereits vor Beginn der Kanzlerschaft Bülows wurden als Konsequenz aus dem Scheitern der Repressionspolitik gegen die SPD mit Unterstützung des Zentrums einige sozialpolitische Reformen in Angriff genommen.

Zum zentralen innenpolitischen Konfliktherd der Jahre ab 1900 entwickelte sich die Verbindung von Rüstungs- und Finanzpolitik. Vor allem der seit 1898 betriebene Schlachtflottenbau vergrößerte das Missverhältnis zwischen den Einnahmen des Reiches und seinen Ausgaben, von denen um 1900 rund 85 Prozent für Militär und Rüstung aufgewendet wurden. Bereits 1904 war deshalb die Staatsschuld des Reiches auf drei Milliarden Goldmark angewachsen, und eine grundlegende Neuregelung der öffentlichen Finanzen durch eine Reichsfinanzreform wurde unabwendbar.

Militärhaushalt (© Der Spiegel Geschichte 3/2013, Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1914: Der Weg in die Moderne, S. 101)

Nach den durch nationalistische und kolonialpolitische Parolen geprägten "Hottentotten"-Wahlen 1907 gelang es Bülow zunächst, sich durch die Bildung eines "Blocks" aus Konservativen, National- und Linksliberalen von der Zustimmung des Zentrums zu Gesetzesvorhaben unabhängig zu machen. Bei den Beratungen über die Reichsfinanzreform 1908/9 traten die Interessengegensätze innerhalb dieses "Bülow-Blocks" allerdings scharf hervor. Zur Debatte standen eine stärkere Besteuerung des Verbrauchs auf der einen und eine Belastung des Besitzes über eine Erbschaftsteuer auf der anderen Seite.

Links- wie Nationalliberale sahen eine Belastung des ländlichen Grundbesitzes als unabdingbar an, zumal weitere Verbrauchsteuern vor allem die städtischen Konsumenten und damit neben den Unterschichten auch bürgerliche Gruppen belastet hätten. Die Konservativen lehnten jedoch jeglichen Zugriff des Parlaments auf ihren Besitz über eine Erbschaftsteuer entschieden ab. In dieser Situation setzten sich 1909 im Zentrum jene Kräfte durch, die durch ein neuerliches Zusammengehen mit den Konservativen den Bülow-Block sprengen wollten. Beide Parteien setzten im Reichstag eine Gesetzesvorlage durch, die zur Deckung des Defizits Verbrauchsteuern nicht durch eine Besteuerung des Großgrundbesitzes, sondern durch Besteuerung von Transaktionen des mobilen Kapitals (Wechsel, Aktienpapiere) ersetzte. Reichskanzler Bülow, dessen Blockpolitik damit gescheitert war, reichte im Juni 1909 sein Entlassungsgesuch ein. Sein Rücktritt war allerdings kein Ausdruck einer Parlamentarisierung des Reiches, auch wenn der Reichstag in den Beratungen über die Finanzreform seinen gewachsenen Einfluss demonstrierte. Bülow scheiterte in erster Linie daran, dass er durch sein Verhalten im Gefolge der Daily Telegraph-Affäre 1908 das Vertrauen des Kaisers verloren hatte.

QuellentextSkandale und Politik: die Daily Telegraph-Affäre

Im späten 19. Jahrhundert bildete sich in Deutschland das System der modernen Massenmedien heraus. Leitmedium war die Tagespresse, die in bis dahin nicht gekannter Breite über Gesellschaft und Politik berichtete. 1906 gab es in Deutschland rund 4000 Zeitungen mit täglich insgesamt etwa 18 Millionen verkauften Exemplaren. Diese Dichte und die Konkurrenz zwischen den Verlegern begünstigten die Suche nach "Sensationen".

Auch deshalb wurden seit 1890 Phänomene wie die Korruption von Politikern, die brutale Behandlung der Afrikaner in den Kolonien oder die Homosexualität von Angehörigen der Eliten zum Gegenstand vieler Skandale. Diese fesselten eine breite Öffentlichkeit oft über Wochen und Monate hinweg. Der Journalist Maximilian Harden – die treibende Kraft hinter einigen der spektakulärsten Enthüllungen im Kaiserreich – sprach 1902 von den Skandalen als kleinen "Papierwespen", die auch mächtige Persönlichkeiten zu Fall bringen konnten.

Gewiss, Skandale hoben die autoritären Elemente des konstitutionellen Verfassungssystems nicht auf. Aber mit ihnen drang der ebenso kritische wie sensationslüsterne Blick einer über die Presse vermittelten Öffentlichkeit tief in bislang als geheim verstandene Bereiche der "hohen" Politik vor. Die Presse war damit noch nicht die "vierte Gewalt", wie Journalisten in Großbritannien ihren Beitrag zu einer unabhängigen Kontrolle der Macht bezeichneten. Aber seit 1900 verschob sie durch die Skandalisierung von politischen Missständen die Gewichte zwischen Staatsspitze und Öffentlichkeit merklich zugunsten der Letzteren.

Kaiser Wilhelm II. war bereits 1894 zur Zielscheibe von Presseartikeln geworden, die in noch eher verschlüsselter Form entweder ihn selbst oder seine engsten Berater angriffen. Das Umfeld des Kaisers reagierte darauf eher hilflos. So forderte etwa der im Kladderadatsch verspottete Alfred von Kiderlen-Waechter, Vortragender Rat im Auswärtigen Amt, einen Redakteur der Zeitschrift zum Duell und verletzte ihn dabei schwer.

Ab 1900 rückten allmählich die öffentlichen Auftritte des Kaisers in den Mittelpunkt der Skandalisierung. In zahlreichen Reden benutzte Wilhelm II. prahlerische Formulierungen, die bereits die Zeitgenossen als Beleg für sein übersteigertes Geltungsbedürfnis werteten. Zum Skandal kam es erstmals, als der Kaiser mit seiner "Hunnenrede" am 27. Juli 1900 das deutsche Truppenkontingent zur Niederschlagung des Boxeraufstandes in China verabschiedete. Er forderte die Soldaten darin auf, keine Gefangenen zu machen und wie "die Hunnen unter ihrem Kaiser Etzel" zu kämpfen. In einer von Reichskanzler Bülow veröffentlichten Version hieß es weiter: "Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen." Nach der kon­troversen Diskussion dieser Äußerungen in der Presse wurde im November 1900 erstmals die Rede eines Monarchen Gegenstand einer Reichstagsdebatte. Die "Grenzen des Sagbaren" hatten sich verschoben, denn nun "forderten selbst konservative monarchietreue Eliten eine Begrenzung seiner öffentlichen Auftritte" (Frank Bösch). 1892 war Maximilian Harden auf eine ähnliche Forderung hin noch wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht gekommen.

Als die englische Zeitung Daily Telegraph dann am 28. Oktober 1908 ein "Interview" – eine in Deutschland damals noch neue mediale Form – mit Wilhelm II. publizierte, das auf Gesprächen mit einem britischen Offizier basierte, weitete sich der Skandal um den Monarchen zur Verfassungskrise. Besonderen Anstoß erregten Wilhelms anmaßende Äußerung, dass der erfolgreiche Schlachtplan der Briten im Burenkrieg auf ihn selbst zurückginge, und seine treuherzige Versicherung, er gehöre zu einer englandfreundlichen Minderheit in Deutschland.

Empörend waren nicht nur Inhalt und Ton dieser Äußerungen. Als skandalös erwies sich rasch auch die Tatsache, dass Kanzler Bülow das Interview nicht vor der Veröffentlichung gelesen hatte, obwohl es ihm und seinen Beamten zur Prüfung zugeleitet worden war. Maximilian Harden betonte in einem Artikel die politische Nichtsnutzigkeit des Kaisers, der sich zu einer Belastung für die Nation ausgewachsen habe. In einer Reichstagsdebatte im November 1908 forderte zwar nur die SPD den Sturz des Kaisers. Aber alle Parteien stimmten nun darin überein, dass sich der Monarch fortan größte Zurückhaltung in seinen öffentlichen Auftritten auferlegen müsse. Und in der Tat geschah in der Folgezeit genau dies. In der Praxis hatten sich durch die Skandalisierung seiner Reden damit alle Hoffnungen Wilhelms II. auf ein "persönliches Regiment" erledigt.

Das Kaiserreich in der Sackgasse?

Bereits nach dem Scheitern des Bülow-Blocks 1909 war deutlich, dass die seit 1890 herrschende "latente Krise" (Wolfgang J. Mommsen) des politischen Systems nun in eine massive Blockade überging. Zentrum und Konservative gerieten mehr und mehr in die Defensive, zumal die neue Rechte der radi­kalnationalistischen Agitationsverbände erheblichen Druck auf die Konservativen ausübte. Doch außer im liberalen Großherzogtum Baden war es nicht möglich, links der Mitte einen Block von "Bassermann bis Bebel", also von den Nationalliberalen bis zur SPD, zu schmieden. Enttäuscht vom Zerbrechen des Bülow-Blocks fusionierten die drei linksliberalen Parteien 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei (FVP). Doch in der Spitze der FVP blieb eine mehr als punktuelle Zusammenarbeit mit der SPD umstritten. Immerhin kam es 1911 mit Unterstützung von Zentrum, Liberalen und SPD zu einer wichtigen Reform, die Elsass-Lothringen betraf. Dieses Gebiet, das bis 1871 zu Frankreich gehört hatte, stand seit der Annexion als "Reichsland" unter der Kontrolle Berlins. Nun wurde eine Verfassung mit Zweikammersystem für Elsass-Lothringen geschaffen und dessen Status damit dem der anderen deutschen Bundesstaaten angeglichen.

War das Regieren für Theobald von Bethmann Hollweg, seit 1909 der Nachfolger Bülows als Reichskanzler, schon schwierig genug, so machte es ihm die Reichstagswahl vom Januar 1912 unmöglich, eine stabile Mehrheit für Gesetzesvorlagen zu finden. Auch aufgrund von Stichwahlabsprachen mit der FVP gelang es der SPD, nicht nur mit 34,8 Prozent erneut die nach Stimmen stärkste Partei zu werden. Mit 110 Abgeordneten stellte die SPD erstmals auch die stärkste Fraktion im Reichstag, vor dem Zentrum mit 91 Mandaten. Ein Regieren gegen die SPD war damit unmöglich. Ein Regieren mit ihr war allerdings ebenso unmöglich, auch wenn nach den Wahlen die bürgerlichen Kräfte im Zentrum Auftrieb hatten, welche die Partei zur Mitte und damit zu einer Kooperation mit den Nationalliberalen drängten. Eine Erweiterung dieser Zusammenarbeit durch Einschluss der SPD wurde aber erst 1917 unter den Bedingungen des Krieges möglich.

So blieb Bethmann Hollweg nur ein hinhaltendes Taktieren, das er als eine "Politik der Diagonale" schönzureden versuchte. Allein in der Rüstungspolitik, die aufgrund der krisenhaften internationalen Situation an Dynamik gewann, gab es Handlungsspielräume. So konnte 1913 die große Heeresvorlage den Reichstag passieren, die eine Vergrößerung des Heeres um 137.000 Mann vorsah. Die Heeresvorlage fand die Unterstützung aller bürgerlichen Parteien bis hin zu den Linksliberalen. Zur Deckung der Kosten war eine einmalige Vermögensabgabe vorgesehen, der sogenannte Wehrbeitrag. Sie wurde gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen – und das war ein Novum – auch mit den Stimmen der SPD durchgesetzt. Doch das blieb eine punktuelle, auf den Einzelfall bezogene Zusammenarbeit.

Es ist immer noch strittig, wie die innenpolitische Situation der Jahre ab 1912 zu beurteilen ist. War das Kaiserreich in einer "Sackgasse", aus der es nur noch durch die "Flucht nach vorn" in den europäischen Krieg entkommen konnte? Oder handelte es sich um eine "stabile Krise", aus der ein Ausweg möglich gewesen wäre, hätte der Ausbruch des Krieges die Suche nach Koalitionsmöglichkeiten nicht unterbrochen? Die Schwäche der zweiten Position liegt darin, dass sie der Frage aus dem Weg geht, welche Verbindungen zwischen der innenpolitischen Blockade und der riskanten Außenpolitik Bethmann Hollwegs bestanden. Die deutsche Politik und damit die Reichsleitung waren nicht alleine "schuld" daran, dass die Julikrise 1914 in wenigen Wochen zu einem Krieg der europäischen Großmächte und dann zu einem Weltkrieg eskalierte.

Nach dem Schlieffenplan sollte das französische Heer in wenigen Wochen umkreist und zerrieben werden - allerdings unter Verletzung der durch fünf Großmächte - darunter auch Deutschland - garantierten Neutralität Belgiens. (© mr-kartographie, Gotha 2016)

Und doch gab es innenpolitische Faktoren, die das Verhalten der Reichsleitung in der Julikrise zwar nicht vorherbestimmten, aber ihren Handlungsspielraum einschränkten und die Suche nach einer friedlichen Lösung der Krise erschwerten. Dazu gehörte zum einen die Mentalität vieler bürgerlicher Kreise, in denen sich seit 1900 unter dem Einfluss der Radikalnationalisten die Vorstellung von der Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen den Großmächten verbreitet hatte. Ein zweiter Faktor war die Belagerungsmentalität der Konservativen und ihrer Vertreter in den Spitzen der Armee und der Berliner Hofgesellschaft, die sich seit dem Wahlerfolg der SPD 1912 mit dem Rücken zur Wand sahen und deshalb eine aggressive Außenpolitik unterstützten. Hinzu kam – drittens – die konstitutionelle Sonderstellung des Militärs, welche dazu geführt hatte, dass der Generalstab den Schlieffenplan durchgesetzt hatte. Der Generalstabschef Alfred von Schlieffen (1833–1913) legte die deutsche Strategie darin seit 1906 darauf fest, einem Zweifrontenkrieg gegen Russland und Frankreich durch eine in wenigen Wochen abzuschließende Zangenbewegung gegen das französische Heer auszuweichen. Dafür war allerdings die Verletzung der seit 1839 durch alle fünf Großmächte garantierten belgischen Neutralität nötig.

Dies machte 1914 die Eskalation des Konflikts auf dem Balkan zu einem Krieg der Großmächte nicht unausweichlich, aber doch höchst wahrscheinlich. So war die innenpolitische Situation ein wichtiger Faktor der deutschen Außenpolitik vor 1914.

QuellentextDer Weg in den Krieg 1914

Die Ursachen des Ersten Weltkrieges sind komplex und weiterhin Gegenstand intensiver Debatten. Dabei geht es heute nicht mehr um die Frage einer politisch-moralisch verstandenen "Kriegsschuld", welche die Alliierten 1919 im Versailler Friedensvertrag den Deutschen zuschrieben. Im Vordergrund stehen vielmehr zunächst Ursachenbündel.

Der pauschale Hinweis auf die Industrialisierung der Kriegführung, das allgemeine Wettrüsten, Kulturpessimismus oder nationalistische Feindbilder reicht dabei nicht aus. Denn seit 1900 hatte es eine ganze Reihe von Konflikten zwischen den Großmächten gegeben, die nicht zum Krieg führten. Aus diesem Grund haben Historiker den Weltkrieg – etwas überzogen – als "unwahrscheinlichen Krieg" (Holger Afflerbach / David Stevenson) bezeichnet.

Wie konnte es dennoch zum Krieg kommen? Neben dem Aufweis wichtiger Bedingungen gilt es zweitens, die Verantwortung der verschiedenen Großmächte zu gewichten. Denn zu den kriegstreibenden Faktoren trat das konkrete Handeln der Eliten im Juli 1914.

Die wichtigste Bedingung war die Struktur der Bündnisse in der internationalen Politik. Deutschland war seit 1879 mit Österreich-Ungarn militärisch verbündet. Diese Allianz erweiterte sich 1882 mit Italien zum separat abgeschlossenen Dreibund, dem 1883 auch Rumänien beitrat. Doch auch die Erneuerung des Dreibundes 1902 konnte nicht verdecken, dass Italien auf dem Balkan zunehmend in Konflikt mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geriet. Seit 1900 suchte sich Italien zudem mit Frankreich zu verständigen, von dem es Unterstützung für seine Kolonialziele in Nordafrika erhoffte. Versuche einer deutsch-britischen Annäherung um 1900 scheiterten dagegen. Die deutsche Diplomatie war damit auf ihren einzigen substanziellen Bündnispartner Österreich zurückgeworfen. Italien blieb 1914 zunächst neutral, bevor es 1915 gegen Österreich in den Krieg eintrat.

Die britische Außenpolitik war vor allem von der globalen Position des Empire her konzipiert. Nach dem Scheitern einer Annäherung an Deutschland gelang es dem britischen Außenministerium 1904, koloniale Streitfragen mit Frankreich in der Entente cordiale beizulegen. Frankreich stand bereits seit 1894 in einem Militärbündnis mit Russland. Im Vertrag von St. Petersburg grenzten dann auch Großbritannien und Russland 1907 ihre Interessen in Persien voneinander ab. Eine wichtige Nebenfolge dieser Vereinbarung war, dass London die russische Außenpolitik damit ermunterte, ihre Interessen auf dem Balkan stärker durchzusetzen, was zwangsläufig Konflikte mit Österreich nach sich zog.

In diesem Geflecht von Bündnissen verfolgte die deutsche Außenpolitik, wie die aller anderen Großmächte, legitime Interessen. Doch Deutschland war seit 1907 weitgehend isoliert, und zwar vornehmlich aufgrund eigener "Fehler", die Kurt Riezler, ein enger Vertrauter von Kanzler Bethmann Hollweg, im Juli 1914 klar benannte: "gleichzeitig Türkenpolitik gegen Russland, Marokko gegen Frankreich, Flotte gegen England, alle reizen und sich allen in den Weg stellen und dabei keinen wirklich schwächen."

Die zweite kriegsförderliche Bedingung war der Konfliktherd Balkan. 1908 annektierte Österreich formell die seit 1878 besetzte, nur noch dem Namen nach osmanische Provinz Bosnien-Herzegowina. Das hatte negative Folgen, da Russland nun seine Truppen an der Westgrenze aufstockte und sich verstärkt als Beschützer der Slawen auf dem Balkan verstand. Berlin hatte das Vorgehen Wiens unterstützt und sich damit mehr als je zuvor an die Interessen Österreichs auf dem Balkan gebunden. Die Lage dort blieb explosiv. In zwei Balkankriegen vertrieben 1912 erst Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland die verbliebenen osmanischen Truppen auf dem Balkan, bevor 1913 Bulgarien gegen Serbien, Griechenland und Rumänien einen Krieg über die Verteilung der osmanischen Beute anzettelte und verlor. Dennoch war die Periode von 1911 bis 1914 eine Phase relativer Entspannung. So kooperierten Berlin und London erfolgreich dabei, ihre jeweiligen Bündnispartner Wien und Moskau während der beiden Balkankriege zu mäßigen.

Doch mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in der bosnischen Stadt Sarajevo am 28. Juni 1914 trat der Konflikt auf dem Balkan wieder ins Rampenlicht. Hinter dem Attentäter Gavrilo Princip stand die "Schwarze Hand", eine geheime Organisation serbischer Offiziere, die in Bosnien-Herzegowina mit Gewalt die nationale Unabhängigkeit der serbischen Bevölkerungsgruppe vorantreiben wollte. Es ist wohl überzogen, dies als Terrorakt zu bezeichnen. Auch eine Mitwisserschaft der serbischen Regierung ist immer noch nicht schlüssig belegt. Dennoch war das Attentat mehr als nur ein "Auslöser" des Weltkrieges, da die österreichische Politik es als gezielten Angriff auf ihre Interessen im Balkan verstehen musste.

Damit rückt das Handeln der Entscheidungsträger in der Julikrise 1914 in den Blick. Die von Fritz Fischer vertretene These, Deutschland habe die Krise zur Verwirklichung eines bereits 1912 beschlossenen Angriffskrieges benutzt, ist mittlerweile widerlegt, auch wenn der deutsche Generalstabschef von Moltke seit dem Frühjahr 1914 wiederholt äußerte, dass ein Krieg gegen Russland "je eher" "desto besser" sei.

Dennoch ist es sinnvoll, dem Handeln der Berliner Politiker um Bethmann Hollweg auch weiterhin größere Verantwortung zuzuschreiben als denen in Paris, London oder Moskau. Entschei­dend dafür ist der sogenannte Blankoscheck, mit dem Berlin Anfang Juli seinem Verbündeten Österreich-Ungarn freie Hand dafür gab, den Konflikt mit Serbien zu eskalieren. Zudem drängte Berlin die Österreicher auch nach dem 6. Juli weiter zu aggressivem Vorgehen, bis man dort den Widerstand des ungarischen Ministerpräsidenten Stefan Graf Tisza gegen eine Kriegspolitik am 14. Juli gebrochen hatte. All das hieß nicht, dass Berlin von Beginn an einen europäischen Krieg autorisierte. Aber es war ein dramatisches Versagen der politischen Führung, die Berlin gegenüber seinem schwächeren Zweibundpartner ausüben konnte und musste.

Damit gerät schließlich die Verschränkung von Außen- und Innenpolitik in den Blick. Denn die Reaktion von Militärs und Politikern in Berlin auf die Julikrise ähnelte einer "Flucht nach vorn" (Wolfgang J. Mommsen). Die wilhelminische Führungsschicht sah die Krise als letzte Chance zur Verteidigung ihrer Weltmachtstellung. Vor allem in der Schlussphase der Juli­krise stand deshalb das Bemühen im Vordergrund, Russland als den Aggressor hinzustellen. Denn nur so ließ sich die Zustimmung der traditionell antizaristisch eingestellten SPD zur Kriegspolitik gewinnen.

Der Weg der Eliten Europas auf dem Weg in den Krieg glich weniger dem von "Schlafwandlern" (Christopher Clark), vielmehr war gerade für Kanzler Bethmann Hollweg die Risikopolitik in der Julikrise ein "Sprung ins Dunkle", den er hellwach und mit offenen Augen vollzog.

Prof. Dr. Benjamin Ziemann lehrt als Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien. Er war Gastwissenschaftler an der University of York, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik –, die Militär- und Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege sowie die Historische Friedensforschung. Er ist Mitglied der Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Biografie von Martin Niemöller.

Jüngste Buchveröffentlichungen

Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014;

Encounters with Modernity. The Catholic Church in West Germany, 1945–1975, New York/Oxford 2014;

Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013;

Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M./New York 2009;

mit Bernd Ulrich (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008;

mit Thomas Mergel (Hg.), European Political History 1870–1913, Alders­hot 2007.