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Ursachen von Kriminalität

Heribert Ostendorf

/ 11 Minuten zu lesen

Das Kriminalitätsbild ist sehr vielschichtig, denn es reicht vom Fahren ohne Fahrerlaubnis bis hin zum Mord. Es gibt verschiedene Theorien, die den Ursachen von Kriminalität nachspüren.

Kriminalität lässt sich nicht mit einer einzigen Theorie erklären. Dafür ist das Kriminalitätsbild zu vielschichtig. Unter Kriminalität fallen sowohl das Fahren ohne Fahrerlaubnis, die Trunkenheit im Straßenverkehr, die Verkehrsunfallflucht, die Sachbeschädigung, der Diebstahl in unterschiedlichsten Formen und die Steuerhinterziehung als auch der Raub, die Vergewaltigung oder der Mord bis hin zum millionenfachen Massenmord im "Dritten Reich". Straftaten werden sowohl von 14-Jährigen als auch von 80-Jährigen begangen – es bedarf also verschiedener Zugänge zum Thema. Wir folgen heute einem Mehrfaktorenansatz, um Kriminalität zu erklären. Häufig sind mehrere Ursachen/Begründungen für die einzelne Straftat heranzuziehen. Im Folgenden werden verschiedene Theorien zu den Ursachen von Kriminalität auf vereinfachte Weise dargestellt.

Mit Hilfe der Zwillingsforschung sollte auch die "Theorie vom geborenen Verbrecher! belegt werden. Bildbericht in der Berliner Illustrirten Zeitung vom 27. Juli 1930 (© bpk)

Lehre vom "geborenen Verbrecher"

Der Anfang der Kriminologie, die Lehre von den Ursachen der Kriminalität, ist mit dem italienischen Arzt Cesare Lombroso (1835–1909) verbunden, der die Theorie vom "geborenen Verbrecher" aufstellte. Grundlegend hierfür waren die Vererbungsgesetze des österreichischen Naturforschers und Augustinerpaters Gregor Johann Mendel (1822–1884). Lombroso glaubte, den typischen Verbrecher von Geburt an aufgrund von Äußerlichkeiten feststellen zu können. So wurden die Länge der Nase, der Abstand der Augenbrauen und die Größe der Ohren gemessen. In den 1930er-Jahren wurde dieser biologisch-anthropologische Ansatz für die Erklärung von Kriminalität auf Zwillings- und Sippenforschung gestützt.
Auch heute gibt es vereinzelte Stimmen, die Chromosomenabweichungen in der genetischen Ausstattung als Ursache von Verbrechen heranziehen; ganz überwiegend werden aber diese Lehren in der Wissenschaft verworfen. In der Bevölkerung sind derartige Ansichten jedoch nach wie vor weit verbreitet: Den Glauben, dass der Sohn des Totschlägers wieder gewalttätig wird, gibt es noch immer. Das Sprichwort "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" drückt diese Ansicht aus.
Verbrecher werden vielfach in Comics und einigen Kinderbüchern mit fliehender Stirn, Hakennase und zusammengekniffenen Augenbrauen dargestellt, um so ihre angebliche böse Natur zu verdeutlichen. Wenn heute der erbbiologische Ansatz in der Kriminologie ganz einhellig abgelehnt wird, so werden damit keineswegs unterschiedliche erbliche Anlagen beim Kind geleugnet. Nur entwickeln sich diese Anlagen nach überwiegender Auffassung verschieden, je nach individuellem Werdegang und sozialem Kontext. Forschungen über die zum Teil ganz unterschiedlichen Lebensläufe bei eineiigen Zwillingen und damit bei gleichen Erbanlagen haben dies bestätigt.
Auch geistige und psychische Erkrankungen führen nicht automatisch zu Kriminalität. Sicherlich gibt es auch – gerade bei Tötungsdelikten – geistig behinderte und psychisch kranke Straftäter, deshalb muss mit Hilfe eines psychiatrisch oder psychologisch ausgebildeten Sachverständigen deren Schuldfähigkeit besonders geprüft werden. Die meisten Straftaten werden aber von sogenannten Normalen begangen. Gerade Tötungsdelikte in der Familie, im sozialen Nahraum "erwachsen" häufig aus Alltagskonflikten, die im Laufe der Zeit eskalieren.

QuellentextWarum begeht jemand schwere Verbrechen

[…] [D]as Potenzial, andere zu beschränken, ihnen zu schaden, wehzutun, das steckt […] in jedem Menschen.
Nur wann genau dunkle Ideen, Gefühle und Wünsche zu einer Tat werden, die andere als falsch, böse oder verwerflich betrachten, das ist die Frage. […]
Bei den meisten Menschen, auch jenen mit schlimmen Kindheitserfahrungen, werden aggressive Impulse in Schranken gehalten. Durch die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die Fähigkeit zum Mitgefühl und durch die Akzeptanz moralischer Grundsätze. Wenn aber eine oder sogar alle drei dieser Fähigkeiten versagen, dann steigt das Risiko, Gewalt wiederholt zum eigenen Vorteil einzusetzen.

Experten unterscheiden bei Intensivstraftätern drei Typen, bei denen diese Schranken nicht zuverlässig funktionieren. Instrumentelle Täter, sie machen etwa 30 Prozent aus, sehen Gewalt als Strategie, um Konflikte zu lösen. Sie sind in einem Umfeld aufgewachsen, das sie gelehrt hat: Gewalt ist überlebenswichtig, effektiv und wird belohnt. Das ist zum Beispiel in Kriegsgebieten oft der Fall.

Die zweite Gruppe besteht aus impulsiven, chronischen Gewalttätern. Sie leiden an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, fallen schon als Kinder auf, weil sie stehlen, soziale Regeln missachten oder das Eigentum anderer zerstören.
Sie wissen, dass ihre gewaltsamen Ausbrüche ihnen langfristig eher schaden als nützen, ändern aber ihr Verhalten trotz harscher Konsequenzen nicht. Etwa 60 Prozent aller Intensivstraftäter fallen in diese Kategorie. Sie fühlen sich schnell bedroht, rasten schnell aus, schlagen schnell zu. Ihr Mitgefühl mit anderen hält sich in Grenzen, ihr Selbstwert ist leicht angreifbar.
[Der Gerichtspsychiater] Reinhard Haller glaubt, dass gerade diese Verwundbarkeit bei den impulsiven Tätern starke Aggressionen triggern kann. Fast allen Verbrechen, glaubt er, liegt eine tiefe Kränkung zugrunde. […]

Neben einer problematischen Kindheit finden sich bei diesen Menschen häufig noch andere Auffälligkeiten – und zwar im Gehirn. Neurowissenschaftler konnten zeigen, dass impulsive Gewalttäter Veränderungen in der Anatomie und Funktion des präfrontalen Kortex, einem Areal hinter der Stirn, aufweisen.
Anders als bei anderen Menschen hemmt das Areal bei ihnen aggressive Impulse nicht. Darüber hinaus ist bei diesen Tätern die Stressverarbeitung gestört: Der Mandelkern, für die emotionale Bewertung von Reizen zuständig, ist hyperaktiv. Das führt dazu, dass sich das Gefühl, bedroht zu werden, viel schneller einstellt als bei anderen Menschen.

Und schließlich ist das Lernen aus Erfahrung eingeschränkt, wie Niels Birbaumer vom Universitätsklinikum Tübingen herausfand. Der Forscher zeigte dazu Schwerverbrechern menschliche Gesichter und klemmte gleichzeitig einen ihrer Finger ein.
Eine Kombination, die die Gesichter eigentlich schnell unsympathisch werden lassen sollte – aber nicht bei diesen Tätern. Sie lernten aus ihrer schmerzlichen Erfahrung nicht, sagt er.

Kein Lernen nach Bestrafung oder auch Belohnung, eine Unempfindlichkeit gegenüber sozialen Sanktionen oder Bestärkungen, das ist auch typisch für die dritte Tätergruppe: die Psychopathen. Sie sind mit zehn Prozent die kleinste, aber gefährlichste Gruppe.
Auch bei ihnen gibt es Auffälligkeiten im präfrontalen Kortex, wie bei den impulsiven Tätern. Eines aber ist bei ihnen anders: Ihr Mandelkern, das Furchtzentrum, ist nicht hyperaktiv, sondern völlig still.

Psychopathen empfinden so gut wie keine Angst. Obwohl sie sehr risikofreudig sind, gehen sie daher meist sehr viel planender vor als die zweite Gruppe. Auch sie fallen bereits früh auf, im Grundschulalter. Sie sind manipulativ, gefühlskalt, lügen viel, und fühlen weder Reue noch Scham. […]
Doch eine genetische Vorbelastung allein reicht nicht, um einen Menschen zum Schwerverbrecher zu machen, wie der Psychologe Avshalom Caspi von der Duke University nachwies. Denn Kinder mit der MAOA-L Variante [Tätertyp 2] werden nur dann eher aggressiv als andere, wenn Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch in der Kindheit dazukommen. Ansonsten bleiben sie völlig unauffällig.

Das gilt für alle neurobiologischen Befunde, davon sind Experten mittlerweile überzeugt: Genetische Vorbelastungen und veränderte Hirnfunktionen allein machen niemanden zum Mörder, Vergewaltiger oder Amokläufer. Eine sichere Bindung und ein warmes, förderndes Umfeld in der Kindheit können also effektiv gegensteuern, und zwar bei allen Tätertypen. […]

Fanny Jiménez, "Warum manche Menschen mörderisch böse werden", in: Die Welt vom 16. Februar 2015

Entwicklungstheorie

Regelverletzungen sind insbesondere bei Jugendlichen weit verbreitet. Es ist häufig so, dass im kindlichen und jugendlichen Alter Straftaten leichter bis mittlerer Art begangen werden, da Normen/Regeln, wie vieles andere auch, erst erlernt werden müssen. Diese Häufung jugendlicher Straftaten kann nicht primär mit Besonderheiten erklärt werden, sie ist vielmehr gerade durch die Entwicklungsphase des Menschen bedingt. Strafrechtliche wie sonstige Verhaltensnormen werden nicht in einem intellektuellen Vorgang, sondern in einem Erfahrungsprozess, vor allem durch Reaktionen der sozialen Umwelt in der Form von Lob und Tadel, übernommen. "Learning by doing" gilt auch hier.

Vormalige biografische Untersuchungen bei Strafgefangenen, in denen regelmäßig auch frühere Straftaten und eine kriminelle Karriere festgestellt wurden, haben das große Feld derjenigen, die nicht ertappt bzw. deren Taten nicht geahndet wurden, außer Acht gelassen. Heute ist in kriminologischen Untersuchungen vielfach nachgewiesen, dass Kinder- und Jugendkriminalität nicht automatisch zum "Gewohnheitsverbrecher" führt. Diese Auffassung hat sich auch in der offiziellen Begründung zum Ersten Änderungsgesetz zum Jugendgerichtsgesetz von 1989 niedergeschlagen: "Für einen nicht unerheblichen Teil der leichteren Jugendkriminalität stellt das abweichende Verhalten junger Menschen eine eher normale Erscheinung dar, die nicht als Symptom einer beginnenden oder möglichen kriminellen Verwahrlosung beurteilt wird und die keinerlei über die Entdeckung der Tat und über den Kontakt mit Polizei, Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft hinausgehende Folgen nach sich ziehen muss. Der Interventionsbedarf erscheint in solchen Fällen wesentlich geringer als bisher (üblicherweise) noch angenommen wird."

Sozialisationstheorien

Sich wiederholende Kriminalität ist häufig eine Folge misslungener Sozialisation von den ersten Kindheitsjahren an. In dieser Zeit wird die Entwicklung des Menschen maßgeblich bestimmt. Fehlentwicklungen, die auch in Kriminalität einmünden können, sind häufig hier bereits angelegt. Kriminalität ist nach der Sozialisationstheorie die Folge von Sozialisationsdefiziten, die insbesondere dann auftreten, wenn in der Kindheit eine dauerhafte Bezugsperson fehlte und kein Urvertrauen hergestellt worden ist. Die Gewissensbildung, also die Verinnerlichung von Recht und Unrecht, kann aber auch bei Inkonsequenz, bei falschen Erziehungsmethoden, bei Hartherzigkeit der Erziehungspersonen oder auch bei überzogener Verwöhnung ver- beziehungsweise behindert werden.

Eine Sozialisation wird insbesondere auch durch äußeren sozialen Druck gefährdet, durch beengte Wohnverhältnisse und/oder Dauerarbeitslosigkeit der Eltern, durch Armut. Positive emotionale Beziehungen, die für die Entwicklung des Kindes notwendig sind, können in solchen sozialen Notsituationen häufig nur erschwert aufgebaut werden. Es ist in schwierigen sozialen Verhältnissen nur schwer möglich, notwendige Verhaltensbeschränkungen so zu vermitteln, dass sie auch verstanden werden.

Lerntheorien

Dass Kriminalität auch gelernt wird, erscheint plausibel, da wir nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Handlungskompetenzen wie beispielsweise Fahrradfahren, Fußballspielen oder Ballett erlernen müssen. Gelernt wird Kriminalität zunächst am schlechten Vorbild: Wenn Vater oder Mutter stehlen, "färbt" dies sicherlich ab, ebenso wenn ein Elternteil das andere regelmäßig körperlich misshandelt. Gerade Kindheitserfahrungen mit selbst erlittener und miterlebter Gewalt sind nach empirischen Untersuchungen ein bedeutsamer Faktor für spätere Gewalttätigkeiten. Gelernt wird aber auch aus dem Verhalten der Gesellschaft. Positive ethische Werte wie Empathie und Solidarität werden bei dem heutigen Konkurrenzdenken, zum Beispiel im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, vielfach der Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn Kriminalität selbst von gesellschaftlich herausgehobenen Persönlichkeiten vorexerziert wird, beeinflusst auch dies das Rechtsbewusstsein nachteilig.

Einige Vertreter dieser Lerntheorien sprechen angesichts einer zum Teil aggressiven Werbung ("Greifen Sie zu"), welche die angepriesenen Gegenstände wegnahmebereit ausbreitet, schon von Verführung zur Kriminalität. Die weitverbreitete Diebstahlskriminalität in Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden wird nach ihrer Auffassung durch diese Verkaufspolitik faktisch begünstigt. Gleichwohl wäre es keine Lösung, deshalb diese Verkaufsform an sich in Frage zu stellen, zumal die meisten Menschen diesen Verlockungen widerstehen. Bei vielen jungen Menschen muss eine entsprechende Widerstandskraft jedoch erst wachsen.

Eine verführerische Wirkung muss auch von Gewaltdarstellungen in den Medien, in Videos, im Film, im Fernsehen und im Internet befürchtet werden. Wenn sie auch selten zu unmittelbarer Nachahmung führen, so bewirken sie doch eine Gewöhnung an Brutalität sowie den Verlust von Mitleid. Wird Gewalt als normale Konfliktlösungsstrategie dargestellt, bei der zum Teil der Gewalttätige auch noch der Sieger, der Erfolgreiche bleibt, wird Sexualgewalt als Lustgewinn vermittelt, können solche Verhaltensweisen – bewusst oder unbewusst – übernommen werden. Moralische Hemmschwellen werden gesenkt.

Kinder und Jugendliche lernen vor allem auch in ihren Spiel- und Jugendgruppen. Gruppenbildungen sind für Jugendliche in ihrer Ablösung vom Elternhaus, in ihrem Prozess des Selbstständigwerdens und bei ihren Konflikten mit der Erwachsenenwelt normal. Der Schritt von der Legalität zur Kriminalität fällt Jugendlichen in der Gruppe leichter, da Verantwortung an die Gesamtgruppe, zum Teil an den Anführer abgegeben werden kann. Es gibt Gruppenzwänge, die bis hin zu kriminellen Mutproben führen können. Gerade in Großstädten haben sich kriminalitätsbereite Jugendbanden gebildet: Streetgangs, fanatische Fußballfans, rechtsradikale Banden und linksautonome Gruppierungen, in denen zum Teil Sozialprotest geäußert wird, in denen aber auch Gewalt als "action", als "fun", als "kick" ausgeübt wird. Da mit strafrechtlichen Reaktionen (Verfahren und Sanktionierung) allein keine sozialen Probleme gelöst werden können, ist hier vorgreifende Sozialarbeit wie zum Beispiel der Einsatz von Streetworkern gefordert.

Frustrations-Aggressions-Theorie

Für Gewaltkriminalität wird neben der Lerntheorie auch die Frustrations-Aggressions-Theorie herangezogen: Gewaltkriminalität ist hiernach eine Folge von Ohnmacht und Frustrationen.
Wir alle wissen von uns selbst, wie schwer Ärger und Enttäuschungen zu verarbeiten sind. Ein unbedachtes, falsches Wort führt dann häufig zu Fehlreaktionen, die sonst nicht passieren würden. Ärger wird nicht selten an Schwächeren, zum Beispiel an Kindern und Frauen, ausgelassen; es werden Sündenböcke gesucht. Flüchtlinge und Zugewanderte, insbesondere mit niedrigem sozialem Status, haben ebenfalls solche Aggressionen anderer auszuhalten, wie sie auch selbst vermehrt Frustrationen in ihrer Arbeits- und Lebenswelt erfahren. Die statistisch hohe Gewaltkriminalität jugendlicher und heranwachsender Migranten findet hier eine Ursache. Begünstigt wird die Gewaltreaktion aufgrund von Frustrationen, wenn die Fähigkeit fehlt, Konflikte mit Worten zu bereinigen. Die Sprachlosigkeit in solchen Situationen, die auch mit dem Bildungsgrad zusammenhängt, kann dazu führen, in der Gewalt die einzige Konfliktlösungsmöglichkeit zu sehen.

Anomie-Theorie

Auch Mittellosigkeit kann ein Grund für Eigentumskriminalität sein, das heißt nicht die Armut als solche, sondern der Gegensatz von Arm und Reich. Nach der sogenannten Anomie-Theorie klafft gerade bei Arbeitslosen, aber auch bei Auszubildenden und finanziell Schlechtgestellten zwischen den gesellschaftlichen Leitbildern und den zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln eine Lücke, die von einigen mit ungesetzlichen Mitteln, mit Schwarzarbeit oder mit Diebstählen ausgefüllt wird. Dabei bejahen sie Zielsetzungen in der Gesellschaft, verneinen jedoch die Begrenzung ihrer Mittel. Die Diebstahlkriminalität Jugendlicher und Heranwachsender, die noch nicht über die aus ihrer Sicht nötigen finanziellen Mittel verfügen, aber mit ungesetzlichen Mitteln gesellschaftliche Ziele wie Reichtum und Wohlstand erreichen wollen, wird mit dieser Theorie aus der amerikanischen Soziologie erklärt. Der Name ist aus dem Griechischen entlehnt: "a nomos" bedeutet "ohne Gesetz".

Falsch wäre es aber, einen unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang (Kausalität) zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität herzustellen. Zwar steigen die Gesamtarbeitslosigkeit und die Quote arbeitsloser Straftäter im Bereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität in der Regel gleichmäßig an, aber schon vorübergehende Rückgänge in der Arbeitslosigkeit wirken sich nicht auf die Kriminalitätsrate aus. Vor allem kommt es auf die individuelle Situation von Arbeitslosen an: Entscheidend ist, wie sie mit ihrer Situation umgehen, wie sie in ihrem sozialen Umfeld, von der Familie "aufgefangen" werden, und welche Perspektiven und Hilfen ihnen von außen angeboten werden.

Etikettierungsansatz

Der Etikettierungsansatz zur Erklärung von Kriminalität geht nicht von der Täterpersönlichkeit und ihrem Umfeld aus, sondern versucht, Kriminalität aus der Definitionsmacht des Staates und seiner strafverfolgenden Kontrollorgane zu erklären: Kriminalität wird zugeschrieben (Labeling approach = Definitions- oder Etikettierungsansatz). Gesetze, Strafgesetze fallen nicht aus einem "Gerechtigkeitshimmel", sie werden von Menschen gemacht und sind das jeweilige Produkt von Staaten. Wenn neue Straftatbestände geschaffen werden, werden neue Straftäter verfolgt; werden Straftatbestände gestrichen, so nimmt zwangsläufig auch die offizielle Kriminalität ab.

Als Beispiel soll hier der unterschiedliche staatliche Umgang mit dem Drogenkonsum genannt werden. Der Erwerb und der Besitz von sogenannten kulturfremden Drogen wie Heroin, Kokain oder Cannabis werden in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Betäubungsmittelgesetz bestraft. Dadurch werden, bedingt durch den vorhandenen Schwarzmarkt und das strafrechtliche Risiko, die Preise in die Höhe getrieben. Wegen der hohen Preise kommt es häufig zu einer sekundären Beschaffungskriminalität in Form von Einbrüchen, etwa in Apotheken (direkte Beschaffungskriminalität), sowie in Form von Raubüberfällen (indirekte Beschaffungskriminalität). Selbst Tötungsdelikte werden aus der Sucht nach Drogen heraus begangen. Die Rolle des Strafrechts zur Lösung – besser zur Eindämmung – dieser Problematik ist umstritten. Nicht umstritten ist, dass bei Konsumenten, insbesondere Abhängigen, das Strafrecht zugunsten von Therapiemaßnahmen zurückzutreten hat. Das Betäubungsmittelgesetz (§§ 35–38) räumt ausdrücklich der Therapie Vorrang vor der Strafe ein.

Obwohl der Genuss von Alkohol, einer in vielen Kulturen geläufigen Droge, in unserer Gesellschaft nicht bestraft, sondern gesellschaftlich anerkannt wird, ist auch er in vielfältiger Weise Kriminalitätsursache. Dies gilt unmittelbar für die Trunkenheitsdelikte im Straßenverkehr, häufig verbunden mit fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung. Alkoholgenuss ist auch oft der Grund für die strafbare Unfallflucht. Darüber hinaus ist Alkohol wie auch andere Drogen oftmals Ursache für eine soziale Verelendung, aus der heraus Eigentumsdelikte begangen werden. Schließlich ist die enthemmende Wirkung von Alkohol Tatauslöser oder Motivationsverstärker bei vielen anderen Delikten. Die polizeilichen Angaben hierzu schwanken; bei der Gewaltkriminalität, insbesondere bei den Tötungsdelikten, liegt der Anteil der alkoholisierten Täterinnen und Täter bei über einem Drittel bis zu 50 Prozent.

Wer viel trinkt, schadet nicht nur sich selbst, sondern oft auch anderen (© bpb, Deutsches Krebsforschungszentrum)

Die beschriebene Theorie will ebenfalls deutlich machen, dass neben primären Ursachen wie sozialen, kulturellen, psychologischen und psychopathologischen Faktoren auch sekundäre Ursachen für Kriminalität bestehen, je nachdem wie von staatlicher Seite und gesellschaftlich reagiert wird. Wegen einer Straftat Verurteilte werden nicht nur einmal im Gerichtssaal bestraft, sie werden vielfach auch auf Dauer als Kriminelle abgestempelt und entsprechend gesellschaftlich ausgegrenzt. Es wird ihnen eine Rolle zugeschrieben, die der oder die Verurteilte oft nur schwer wieder ablegen kann, und es besteht die Gefahr, dass die Rolle am Ende sogar in das eigene Selbstbild übernommen wird. Das beispielsweise immer so bezeichnete "schwarze Schaf" in der Familie entwickelt sich häufig auch tatsächlich zum Außenseiter.

Stigmatisierungswirkungen haben insbesondere Freiheitsstrafen. Wer einmal im Gefängnis war, dem wird es hinterher – trotz vielfacher Bemühungen von zahlreichen Gefangenenhilfsorganisationen, die sich um Arbeit, Wohnung und Entschuldung von entlassenen Strafgefangenen kümmern – schwer gemacht, wieder Fuß zu fassen, Arbeit und Wohnung zu finden. Diese Menschen werden vielfach an den sozialen Rand gedrängt, von dem sie nicht oder nur sehr schwer wegkommen. Erneute Straftaten gerade aufgrund dieser Stigmatisierung sind zu erwarten. Man spricht insoweit von einer sekundären Straffälligkeit als Folge justiziellen Handelns.
Hierbei entwickelt sich häufig ein Teufelskreis, beginnend mit den ersten Taten und der ersten Sanktionierung, die nicht die gewünschten Wirkungen zeigt. Bei erneuter Straffälligkeit wird dann härter reagiert. In der Praxis der Strafgerichte hat sich vielfach ein Strafverschärfungsautomatismus herausgebildet. Bei der Beurteilung von Kriminalität ist nach dieser Theorie die delinquente Entwicklung eines Menschen als prozesshaftes Geschehen zu verstehen, an dem auch die Strafjustiz maßgeblichen Anteil haben kann ("Teufelskreismodell").

Zusammenfassung

Die Ausführungen haben gezeigt, dass eine Vielzahl von Erklärungsansätzen von der gesellschaftlichen Abhängigkeit der Kriminalität ausgeht. Die Theorien wollen Kriminalität aber lediglich erklären, nicht rechtfertigen. Lern- und Aggressionstheorie können Gewaltkriminalität verdeutlichen, Lern- und Anomietheorie vermögen den Anstieg bei der Eigentums- und Vermögenskriminalität verständlich zu machen, Sozialisationstheorie und Etikettierungsansatz können Begründungen für Wiederholungstaten abgeben. Die hiermit sichtbar gemachte gesellschaftliche/staatliche Verantwortung schließt aber die Eigenverantwortlichkeit nicht aus. Diese Eigenverantwortlichkeit muss von der Justiz eingefordert werden, die gesellschaftliche/staatliche Verantwortlichkeit von den Bürgerinnen und Bürgern.
Die Neigung zu strafbaren Regelverletzungen ist potenziell in allen Menschen angelegt, auch wenn schwere Delikte nur von einer Minderheit verübt werden. Die Menschen einschließlich der Jugendlichen sind heutzutage nicht schlechter, als sie es früher waren. Es gibt allerdings mehr Gefährdungen, mehr Gelegenheiten zur Kriminalität und weniger Hilfen und Schutz durch die Einbindung in ein festes Sozialgefüge, insbesondere die Familie. Hinzu kommt, dass die Freiräume für Jugendliche vor allem in den Städten immer enger geworden sind.

Auch die "Ausländerkriminalität" beweist, wie Kriminalität durch gesellschaftliche Umstände gefördert werden kann. Zugewanderte Menschen sind nicht als solche krimineller. Sie sind aber zusätzlich zu dem Kulturkonflikt, in den zumindest die erste und zweite Generation geraten ist, oft erheblich gesellschaftlich benachteiligt. Aus kriminalpolitischer Sicht kann ihre Integration Kriminalität verringern. Wer sich mit der Gesellschaft identifiziert, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit Straftaten gegen sie begehen.

Gesellschaftliche Veränderungen sind nicht im Gerichtssaal durch ein Strafurteil herbeizuführen. Die Strafjustiz kann aber ihren Teil dazu beitragen, indem Kriminalitätsursachen ernst genommen und Kriminalitätsgefährdungen mit Sanktionen nicht noch vergrößert werden. Dazu ist Verständnis erforderlich sowie die Vermeidung von unnötigen Stigmatisierungen. Kriminalität kann auch ein Seismograph für gesellschaftliche Missstände sein, die es zu beseitigen gilt. Bereits der Strafrechtsreformer Franz von Liszt (1851–1919, siehe auch S. 21) war der Ansicht, die beste Kriminalpolitik sei immer noch eine gute Sozialpolitik.

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, war nach dem Studium viereinhalb Jahre als Richter, vornehmlich als Jugendrichter, tätig. Anschließend lehrte er acht Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Professor Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" sowie sein Kommentar "Jugendgerichtsgesetz" sind in der 9. bzw. 10. Auflage erschienen und gelten als Standardwerke.