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Funktionsweisen des EP | Wahlen zum Europäischen Parlament | bpb.de

Wahlen zum Europäischen Parlament Editorial 40 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament Funktionsweisen des EP Kompetenzen im Praxistest: die Wahlperiode von 2014 bis 2019 Die EP-Wahlen 2019 als Richtungswahlen Terminplan Europawahl Literaturhinweise Impressum

Funktionsweisen des EP

Nicolai von Ondarza Felix Schenuit Nicolai von Ondarza und Felix Schenuit

/ 18 Minuten zu lesen

Unterschiedliche Wahlsysteme, eine komplexe Verteilung der Sitze auf Staaten und Fraktionen, mehrere Gesetzgebungsverfahren und informelle Koalitionen ohne "Regierung" und "Opposition": Das Einmaleins des Europäischen Parlaments mag auf den ersten Blick verwirren, doch steckt dahinter ein ausgewogenes System, durch das sich eines der weltweit größten Parlamente erfolgreich trägt.

Wahlkampf-Endspurt: Am 24. Mai 2014, einen Tag vor der Europawahl, werben Parteien auf dem Frankfurter Römerberg um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. (© picture-alliance/dpa, Frank Rumpenhorst)

Wahlbestimmungen und Beteiligung

Das EP ist das einzige direkt vom Wähler bzw. der Wählerin legitimierte Entscheidungsorgan der Union und damit Vehikel für deren sogenannte Input-Legitimation: Gemäß EU-Vertrag haben alle Bürgerinnen und Bürger ergänzend zu ihrer nationalen Staatsbürgerschaft die Unionsbürgerschaft, und damit unter anderem das aktive Wahlrecht – also bei den Europawahlen abzustimmen – und das passive Wahlrecht – also bei den Europawahlen als Kandidat bzw. Kandidatin für das Europäische Parlament anzutreten. Dabei spielt die einzelne Nationalität keine Rolle. Ein in Deutschland lebender Italiener, Franzose oder Pole kann daher als EU-Bürger genauso an der Europawahl teilnehmen wie dessen deutsche Mitbürger; gleichermaßen kann eine in Spanien, Tschechien oder Schweden lebende Deutsche dort für die Europawahlen kandidieren.

Europawahlen in Deutschland 1979–2014 (© Bundeswahlleiter)

Von der Stimme zum Mandat (© picture-alliance, dpa-infografik; Quelle: Bundeswahlleiter)

Dennoch wird das EP auch weiterhin nicht einheitlich gewählt: Zwar gilt in allen EU-Staaten für die Europawahlen das Verhältniswahlrecht, jenseits dieser gemeinsamen Regeln variieren die Wahlbestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten jedoch deutlich. Die Unterschiede beginnen am Tag der Abstimmung: Die Europawahlen finden vom 23. bis 26. Mai 2019 statt, je nachdem, an welchem Wochentag in den jeweiligen EU-Staaten traditionell gewählt wird. So sind die Europawahlen in den Niederlanden bereits donnerstagabends abgeschlossen, lange bevor am Sonntag in Deutschland die Wahlkabinen öffnen. Weitere Unterschiede gibt es in den Berechnungsmethoden für die Sitzverteilung, bei Prozenthürden oder den Altersgrenzen für die Wahlen.

Beispielsweise darf in Österreich und Malta bereits ab 16 Jahren gewählt werden, in allen anderen Mitgliedstaaten liegt das aktive Wahlrecht hingegen bei 18 Jahren. Das passive Wahlrecht liegt in 14 Staaten bei 18 Jahren, in neun Staaten bei 21, in drei Staaten bei 25 und in einem Land bei 23 Jahren. Hinsichtlich der Prozenthürde reichen die Unterschiede von 0 bis fünf Prozent. Insgesamt haben 13 Staaten landesweite Sperrklauseln und bei zwei weiteren ergeben sich Sperrklauseln aus dem angewendeten Sitzzuteilungsverfahren. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht vor den Europawahlen 2014 die Prozenthürde gekippt; nach Änderungen im europäischen Wahlrecht soll eine Sperrklausel für größere Länder bei den Europawahlen eingeführt werden. Dies wäre frühestens ab 2024 der Fall. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Verankerung einer Wahlpflicht, die in vier Ländern (Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern) besteht.

Die genannten Unterschiede sind ein wichtiger Indikator dafür, dass die Europawahlen noch immer als eine Aneinanderreihung von 28 nationalen Wahlen gelten müssen. Gewählt werden von den Bürgerinnen und Bürgern schließlich weiterhin nur nationale Parteien. Diese schließen sich zwar im EP zu europaweiten Fraktionen zusammen, doch haben Letztere keine eigene Verknüpfung zur Bevölkerung. Um diese Verbindung zu stärken, können Mitgliedstaaten 2019 erstmals auch die Namen der zugehörigen europäischen Parteien mit auf den Wahlzettel schreiben. Dies ist aber nur freiwillig und wird von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich gehandhabt.

QuellentextEuropawahlrecht

Grundlage der Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten der EU ist der sogenannte Europa-Direktwahlakt, der den EU-Staaten einige Vorgaben für das Wahlsystem macht, insbesondere:

  1. Die Wahl hat nach einem Verhältniswahlsystem zu erfolgen,

  2. auf Grundlage entweder von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen (single transferable vote, STV).

  3. Es können Vorzugsstimmen zugelassen werden. Damit sind Stimmen gemeint, mit denen die Reihenfolge auf den Listen verändert werden kann.

  4. Die Unterteilung des Wahlgebietes in Wahlkreise ist erlaubt, solange das Verhältniswahlsystem dadurch nicht in Frage gestellt wird.

  5. Es darf eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe festgelegt werden, die jedoch landesweit nicht mehr als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen betragen darf. Am 13. Juli 2018 hat der Europäische Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments eine Änderung des Direktwahlakts beschlossen, die u. a. eine obligatorische Prozenthürde von 2 bis 5 % enthält. Die Mindestsperrklausel gilt für Wahlkreise mit mehr als 35 Sitzen und ist damit vor allem für Deutschland und Spanien relevant. Die Mitgliedstaaten müssen diese Verpflichtung spätestens bis zur zweiten Wahl nach dem Inkrafttreten der Änderung umsetzen, bei einem reibungslosen Ratifizierungsverfahren also zur Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2024. Die Änderung des Direktwahlakts muss noch von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, in Deutschland bedarf es dazu einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder in Bundestag und Bundesrat.

Externer Link: www.wahlrecht.de/ausland/europa.htm (© www.wahlrecht.de/ausland/europa.htm)

Angesichts der bestehenden Defizite der Europawahlen ist die Wahlbeteiligung sukzessive gesunken. Von knapp 62 Prozent bei den ersten Europawahlen 1979 auf zuletzt 42,61 Prozent in 2014 (siehe Grafik). Auch bei der Wahlbeteiligung gab es in der Vergangenheit erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. 2014 etwa erreichten Belgien oder Luxemburg (mit Wahlpflicht) eine Wahlbeteiligung von 89,6 bzw. 85,6 Prozent, während in der Slowakei (13,05 %) oder Tschechien (18,2 %) nur ein Bruchteil der Wahlberechtigten Gebrauch von ihrem Stimmrecht machte. In Deutschland lag die Wahlbeteiligung 2014 bei 48,1 Prozent, was der höchste Wert seit 1994 war. Beigetragen hierzu hatte auch die vergleichsweise höhere Bekanntheit der beiden wichtigsten Spitzenkandidaten, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz. Die deutsche Wahlbeteiligung liegt damit eher auf dem Niveau von Landtags- oder Kommunalwahlen. Bundestagswahlen erreichten hingegen in den letzten beiden Jahrzehnten eine Wahlbeteiligung zwischen 70 und 80 Prozent.

Externer Link: www.europarl.europa.eu/elections2014-results/de/turnout.html (© TNS/Scytl in Zusammenarbeit mit dem Europaparlament)

Wahlbeteiligung im Vergleich: die letzten Wahlen zum EP und zu den Nationalparlamenten (© Europäisches Parlament (Hg.), Review of European and National Election Results, S. 16)

Die Legitimationskraft des EP bleibt damit weiterhin begrenzt und würde – wenn die Wahlbeteiligung bei zukünftigen Wahlen noch geringer ausfallen sollte – weiterhin sinken und das Problem eines demokratischen Defizits der EU eher verstärken als reduzieren. Eine zentrale Frage vor den Europawahlen 2019 ist daher, ob die höhere Polarisierung europäischer Themen und die vielen politischen Debatten etwa über die Eurozone und Migration dazu beitragen, dass erstmals die Wahlbeteiligung wieder steigt.

Inwieweit stimmen Sie der folgenden Aussage zu oder nicht zu? (© Standard-Eurobarometer 90 – Herbst 2018, S. 11)

Kompetenzen

Bislang wurden Kompetenzen des EP als Reaktion auf eben dieses Demokratiedefizit der EU bei jeder Vertragsänderung immer mehr ausgeweitet. Noch immer ist das Parlament aber nicht bei allen Entscheidungen der EU gleichermaßen beteiligt. Vielmehr gibt der EU-Vertrag für jeden Politikbereich vor, inwieweit das Parlament neben dem Rat und der Kommission mitentscheiden kann.

Das wichtigste Gesetzgebungsverfahren in der EU ist das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Durch dieses Verfahren ist das Parlament seit dem Vertrag von Lissabon, der seit dem 1. Dezember 2009 in Kraft ist, an immer mehr Entscheidungen beteiligt. Beispielsweise wird die EU-Gesetzgebung zum Binnenmarkt nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet. Im Rahmen dieses auch Mitentscheidungsverfahren genannten Vorgehens entscheiden die drei wichtigsten EU-Institutionen – Kommission, Rat und Parlament – gemeinsam über die EU-Gesetzgebung. So werden dann entweder EU-Verordnungen beschlossen, die direkt rechtsverbindlich sind, oder EU-Richtlinien, die verbindlich von den Mitgliedstaaten innerhalb einer Frist umgesetzt werden müssen.

Gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren wird ein Rechtsakt durch die Kommission initiiert, indem diese einen Vorschlag vorlegt. Danach berät das Parlament darüber und verfasst eine Stellungnahme und gegebenenfalls Änderungsvorschläge (sogenannte 1. Lesung). Im Anschluss daran befassen sich im Rat der Europäischen Union (Ministerrat) die Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Regierungen mit dem Vorschlag der Kommission und der Stellungnahme des EP.

Wenn der Rat mit den Änderungen des EP nicht einverstanden ist, geht das Dokument zurück an das Parlament (sogenannte 2. Lesung). Jetzt kann das EP den Änderungen des Rates entweder folgen und damit das Gesetzgebungsverfahren abschließen oder es durch komplette Ablehnung beenden. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, weitere Änderungsvorschläge an den Rat zu richten.

So kommt ein europäisches Gesetz zustande (© infochart.de/Peter Diehl)

An diesem Punkt des Verfahrens nimmt die Kommission erneut Stellung zu den vorgeschlagenen Änderungen des Parlaments. Wenn der Rat diese nun akzeptiert, ist das Gesetz beschlossen. Andernfalls wird ein Vermittlungsausschuss einberufen, der sich ähnlich wie deutsche Vermittlungsausschüsse, in denen Vertretungen aus Bundestag und Bundesrat verhandeln, aus Vertreterinnen und Vertretern von EP und Rat zusammensetzt. Dieser wird von der Kommission beratend unterstützt. Einigt sich dieser auf eine Lösung, wird der Gesetzentwurf in dritter Lesung im EP beschlossen.

Dieses Verfahren ist komplex und relativ zeitintensiv. In der politischen Praxis haben sich daher die sogenannten Triloge etabliert. Ein Trilog ist ein informelles Gremium bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der EU-Kommission, der jeweiligen rotierenden Präsidentschaft des Rates sowie dem Europäischen Parlament, also quasi ein Vermittlungsausschuss.

Anstatt aber bis zur dritten Lesung und dem Vermittlungsausschuss zu warten, bilden die EU-Institutionen mittlerweile direkt nach dem Vorschlag der Kommission und vor der ersten Lesung einen solchen Trilog, um einen Kompromiss zu finden. Dies spart viel Zeit und verbessert die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen. Der gefundene Kompromiss kann dann direkt in erster Lesung von Parlament und Rat verabschiedet werden.

Das Trilog-Verfahren steht jedoch auch in der Kritik, weil der formelle Prozess umgangen wird und die Trilog-Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Dennoch hat es sich etabliert – in der laufenden Legislaturperiode wurden fast 90 Prozent aller Mitentscheidungsverfahren durch die Triloge in erster Lesung abgeschlossen, in die dritte Lesung kam kein einziges. Wichtig für das EP ist: Ob in erster Lesung oder dritter, ohne Zustimmung des Parlaments kann beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren keine EU-Gesetzgebung verabschiedet werden.

Innerhalb der europäischen Verträge gibt es noch einige weitere mögliche Arten von Entscheidungsprozessen. Diese sehen jeweils eine andere Rolle des Europäischen Parlaments vor. Bei der Entscheidung über den regulären EU-Haushalt ist das EP ebenfalls voll beteiligt. Dies gilt seit dem Lissabonner Vertrag ohne Ausnahme. Wie in nationalen Parlamenten kann in der EU also kein Haushalt ohne Zustimmung der Parlamentarier verabschiedet werden. Über dieses Haushaltsrecht hat sich das EP in der Vergangenheit auch immer wieder zusätzliche Mitspracherechte erkämpft.

Mitwirkungsrechte des EP (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 715 422)

Es gibt jedoch auch Ausnahmen, bei denen die Beteiligungsrechte des Parlaments eingeschränkt sind. Dies ist etwa das Zustimmungsverfahren, bei dem – wie der Name sagt – die Zustimmung des Parlaments erforderlich ist, das Parlament selbst aber keine Änderungen einbringen kann. Dies gilt beispielsweise für internationale Verträge der EU, etwa im Handelsbereich oder bei der Aufstellung des mehrjährigen Finanzrahmens. In Ausnahmefällen, zum Beispiel in Teilen der Innen- und Justizpolitik, gilt weiterhin das Anhörungsverfahren, bei dem das Parlament zwar zwingend vom Rat angehört werden muss, aber nicht mitentscheiden kann.

Die wichtigsten EU-Institutionen im Überblick (© picture-alliance / dpa-infografik; Quelle: Europäisches Parlament)

In der Praxis nutzt das Parlament dann aber regelmäßig andere Hebel, um seine Interessen durchzusetzen. Beispielsweise hat die EU 2011 in insgesamt sechs EU-Rechtsakten die Haushaltskontrolle in der Eurozone verschärft. Das EP hatte jedoch nur in zweien davon Mitentscheidungsrechte, bei den anderen sollte es nur angehört werden. Über die Verknüpfung der sechs Rechtsakte haben die Europa-Abgeordneten aber erreicht, bei allen sechs voll beteiligt zu sein. Zuletzt gibt es aber, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch immer noch EU-Entscheidungen, bei denen das Parlament weder beteiligt noch angehört werden muss und von den nationalen Regierungen im Rat alleine entschieden werden.

Wichtig bleibt ein zentraler Unterschied zu nationalen Parlamenten festzuhalten, der auf das Parlament in allen unterschiedlichen Gesetzgebungsprozessen zutrifft: Die EP-Abgeordneten haben – anders als ihre nationalen Kolleginnen und Kollegen – kein Initiativrecht für neue Gesetzesvorhaben. Dieses Initiativrecht liegt einzig bei der Europäischen Kommission.

Zusammensetzung

Die Zusammensetzung des EP ist seit jeher Gegenstand intensiver Debatten. Umstritten ist vor allem die Anzahl der Sitze, die jeder Mitgliedstaat zugeteilt bekommt, sowie das Prinzip, nach dem die Sitze auf die einzelnen Nationalstaaten verteilt werden. Im Parlament sind zwar die Bürgerinnen und Bürger der EU direkt vertreten (Art. 14 EUV). Auf Grund des besonderen Charakters der Europäischen Union als Bund von souveränen Nationalstaaten wird jedoch darauf geachtet, dass die Bevölkerungen aller Mitgliedstaaten ausreichend vertreten sind.

Das Europäische Parlament (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 714 050)

Das Europa der 28 (© Eurostat; Stand: Januar 2018)

Daher beruht die Sitzverteilung auf dem sogenannten "Prinzip der degressiven Proportionalität", das in Art. 14, 2 des EU-Vertrags festgelegt wurde. Ziel dieses Prinzips ist auf der einen Seite eine möglichst gleichmäßige Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger der EU. Auf der anderen Seite soll auch eine Mindestrepräsentation der kleineren Staaten sichergestellt werden. Um beide Ziele bestmöglich zu erreichen, sind jeweils eine Ober- und Untergrenze an Sitzen vertraglich festgelegt. So bekommt jeder Mitgliedstaat mindestens sechs Sitze, höchstens aber 96 Sitze zugesprochen. Die Aufteilung wird ausgehend von diesen Grenzen gemäß der jeweiligen Bevölkerungsgrößen festgelegt. In der Folge werden in einem Mitgliedstaat wie Malta (ca. 476.000 Einwohner) sechs EU-Abgeordnete gewählt, in Deutschland mit einer Bevölkerung von etwa 82,9 Millionen "nur" 96 Abgeordnete. Dementsprechend repräsentiert ein deutscher Abgeordneter mehr als 860.000 Bürgerinnen und Bürger im Parlament, ein maltesischer hingegen nur knapp 80.000. Bislang konnten sich die EU-Institutionen trotz intensiver Bemühungen nicht auf eine mathematische Formel zur Berechnung der Sitzverteilung einigen. Daher dominierten die Neuregelung im Rahmen des Beitritts Kroatiens umfangreiche politische Aushandlungsprozesse und Absprachen.

Sitzverteilung im EP bis 2019 und nach dem Brexit (© bpb, Nicolai von Ondarza / Felix Schenuit)

Für die nächste Wahlperiode gilt eine – durch den geplanten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, notwendig gewordene – vorläufige Lösung. Die Anzahl der Abgeordneten wird von bisher 751 auf 705 reduziert und 27 der bisherigen britischen Mandate werden auf andere Mitgliedstaaten neu verteilt (siehe Tabelle). Die verteilten Sitze dienen vor allem dazu, Ungleichheiten in der bisherigen Repräsentation zu korrigieren, beispielsweise dass französische EP-Abgeordnete je mehr als 900.000 Bürgerinnen und Bürger repräsentieren, deutsche EP-Abgeordnete jedoch "nur" etwa 860.000, trotz der höheren Bevölkerungsgröße der Bundesrepublik. Zwar wird das grundlegende Problem der Sitzverteilung dadurch nicht gelöst, zumindest aber können sich verändernde Bevölkerungsgrößen in den EU-Mitgliedstaaten neu berücksichtigt werden.

Die übrigen 46 britischen Sitze entfallen nach dem Prinzip "kleinere EU, kleineres Parlament" vorläufig und können später für mögliche EU-Erweiterungen oder einen sogenannten EU-Wahlkreis freigehalten werden. Sollten die Brexit-Verhandlungen wider Erwarten verlängert oder der Brexit sogar rückgängig gemachten werden, würde die bisherige Sitzverteilung bis auf Weiteres bestehen bleiben.

Transnationale Listen

Im Jahr 2018 bekam der Vorschlag eines EU-Wahlkreises – der politisch auch unter dem Namen "transnationale Listen" debattiert wird – durch die zur Vorbereitung des Brexits notwendig gewordene Reformierung der EP-Zusammensetzung neue Aufmerksamkeit. Bei dem Vorschlag geht es darum, einen Teil der EP-Abgeordneten nicht entlang ihrer Nationalitäten zu wählen, wie es die bisherige Zusammensetzung und nationale Wahlgesetze zu den Europawahlen vorsehen.

Die genaue Verankerung und Ausgestaltung dieses Vorschlags ist umstritten. Die grundlegende Idee wurde von dem ehemaligen britischen EP-Abgeordneten Andrew Duff konkretisiert und später dann insbesondere vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron aufgegriffen. Duffs Vorschlag entsprechend – der 2011 auch schon einmal im EP eingebracht wurde, aber keine Mehrheit fand – würden 25 Abgeordnete über EU-weite Wahllisten in das EP gewählt, die von den europäischen Parteien entworfen werden. Die Wählerinnen und Wähler hätten demnach dann mit einer zweiten Stimme bei den Europawahlen die Möglichkeit, über die Sitzanteile der Parteien aus einem neu eingerichteten EU-Wahlkreis abzustimmen. Dieses Verfahren würde dem Wahlsystem bei Bundestagswahlen ähneln: Eine Stimme wird für den eigenen Wahlkreis vergeben, in diesem Fall für die Listen der Parteien im jeweiligen Mitgliedstaat. Die zweite Stimme erhielte eine übergeordnete Liste der Parteien, im Falle eines europäischen Wahlkreises eine von den europäischen Parteien aufgesetzte, transnationale Liste.

Die europäischen Parteien bekämen damit insgesamt einen wesentlich stärkeren Zugriff auf das EP, da die Kompetenz der Listenaufstellung bislang den nationalen Parteien vorbehalten war und sie erstmals direkt sichtbar miteinander um Stimmen kämpfen würden. Ein EU-weiter Wahlkreis wird daher vor allem als Reform gesehen, den europäischen Parteien – denen im Vergleich zu nationalen Parteien eher wenig Bedeutung zukommt – im politischen System der EU mehr Kompetenzen und mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Mit den 46 durch den Brexit frei gehaltenen Sitzen und der auf die nächste Wahlperiode verschobenen Neuordnung der Zusammensetzung könnte sich für diesen Reformvorschlag ein politisches Zeitfenster öffnen. Für die Europawahlen 2019 wurde der Vorschlag im Europäischen Parlament abgelehnt, für die Wahlen 2024 stehen transnationale Listen aber weiter zur Diskussion.

Quellentext„Ich bin Europäer“

[…] Meris Sehovic […] leitet das Büro eines Luxemburger Abgeordneten im Europaparlament, Fraktion der Grünen. Dass er das mit gerade mal 25 Jahren tut, ist bemerkenswert; noch bemerkenswerter ist allerdings, dass er es schon seit vier Jahren tut.

"Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa", das war in den 80er-Jahren ein böser Spruch, aber nicht völlig daneben. Damals war das Europäische Parlament noch ein Altersheim für Politiksenioren, die daheim nicht ganz so dringend gebraucht wurden. Der Spruch stimmt heute nicht mehr, die EU hat mehr Macht, die EU hat mehr Anziehungskraft. Heute beginnen politische Karrieren in Brüssel, und es ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht, wenn sie dort auch enden. Das gilt für die Abgeordneten genauso wie für die etwa 60.000 Beamten und Mitarbeiter der europäischen Institutionen. Für alle Bewohner der Brüsseler Blase.

Das mit den Karrierechancen, sagt Meris Sehovic, 25, Büroleiter, sei schon richtig. Aber da sei eben noch was, das gehöre auch dazu: "Du kommst nicht nach Brüssel, wenn du nicht an Europa glaubst."

[…] [Für] Meris Sehovic [ist] […] Europa ein Job […] und eine Mission. […] [Sein Arbeitsplatz] besteht aus Gängen und Büros, die überall gleich ausschauen, ob im Parlament, in der Kommission, in den anderen Behörden. Gleich grau, gleich eng. Gleiche Topfpflanzen. Überall wackeln die Drehstühle, überall hängen mysteriöse Kabel aus der Wand. An den Büros prangen komische Nummern und Buchstabenkürzel, für die man eine dieser Dechiffriermaschinen aus dem Zweiten Weltkrieg bräuchte. Wenn die Franzosen kein Poster vom Eiffelturm aufgehängt hätten und die Spanier keinen Wimpel von Real Madrid – man hätte nicht den geringsten Schimmer, wer drinnen sitzt. […] Hier arbeiten Menschen, […] die dieses Europa, über das immer alle reden, zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht haben.

Meris Sehovic ist in Belgrad geboren, in Luxemburg aufgewachsen, hat in München Politik studiert. "Das Land war nie mein erster Referenzpunkt", sagt er. "Ich bin Europäer." Und wie zum Beleg erzählt er die Geschichte, die sie hier fast alle erzählen. Der Morgen nach dem Brexit-Referendum, ungläubiger Blick aufs Handy, noch im Bett, Schock: Die Briten wollen raus. Im Büro Tränen, Arm in Arm mit den Kollegen, Verzweiflung: Was soll nun werden aus unserem Europa?

[…] Es ist etwas zu Ende gegangen damals, das sieht Sehovic jetzt klar. Aber es hat auch etwas begonnen. Die alte Gewissheit sei weg, sagt er, die Überzeugung, dass die Einheit Europas eine unerschütterliche Bestimmung ist. "Wir spüren ein Gefühl von Zerbrechlichkeit. Es kann etwas passieren, das alles infrage stellt."

Das Brexit-Votum, sagt Sehovic, sei für viele im Herzen der EU ein Moment der Erkenntnis gewesen: Sie mussten lernen, dass über ihre Zukunft nicht allein hier in Brüssel entschieden wird. Und dass sie deshalb "nicht einfach so weitermachen können". Es gebe nun, und das sei eben auch neu, eine tiefe Solidarität, eine "echte Entschlossenheit". Wenn jemand Europa bedroht, dann nehmen das die jungen Begeisterten in Brüssel persönlich. […]

Es ist Freitag, das Ende einer roten Woche im Europäischen Parlament, kaum jemand ist unterwegs auf den Gängen des Gebäudes Altiero Spinelli. In einer roten Woche tagt das Parlament in Straßburg, und auf die rote Woche folgt diesmal eine grüne, die verbringen die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen. Aber [Charlotte] Nørlund-Matthiessen [halb Belgerin, halb Dänin] sitzt im neunten Stock, Zimmer G 114, zwölf Quadratmeter, direkt vor ihr der Schreibtisch der Kollegin, direkt neben ihr der Schreibtisch des Praktikanten. Sie ist Referentin eines liberalen Abgeordneten und geht gerade noch die Änderungsanträge zu einem Gesetzesbericht durch. E-Autos, Emissionen, komplexes Zeug. Die Verteidigung des europäischen Gedankens ist manchmal ein mühsames Geschäft.

"Schon wieder eine Cocktailparty, Charlotte", sagt die Kollegin und hebt eine Einladungskarte in die Höhe. Es gibt es schon, das süße Brüsseler Leben, es wird nicht nur getagt, es wird auch getrunken. Jeden Abend ist man von irgendwem eingeladen, von der französischen Chemieindustrie, den schottischen Fischern, dem Bundesverband Güterkraftverkehr und Entsorgung. Aber auch das sei ja Arbeit, sagt Nørlund-Matthiessen. Eine Cocktailparty ist am Ende auch nur eine ganz vorzügliche Gelegenheit, Visitenkarten zu verteilen. An diesem Abend hat Nørlund-Matthiessen eh keine Zeit, sie klopft auf den Stapel Papier neben sich. Da muss sie noch durch.

Wenn der durchschnittliche Deutsche, Spanier oder Slowake an die EU denkt, dann denkt er nicht an eine junge Belgo-Dänin, die in einem stickigen Büro Überstunden macht, damit E-Autos besser und billiger werden. Dann denkt er eher an einen alten Eurokraten, der mal schnell den deutschen Bauern den Maximalumfang ihrer Zuckerrüben vorschreibt, bevor er auf Steuerzahlerkosten gestopfte Entenleber speisen geht.

Das ist ja der Vorwurf an die Bewohner der Brüsseler Blase: dass sie vom wirklichen Leben in Europa nichts mitbekommen. Aus der Blase kann man nicht so leicht herausschauen, da ist sicher was dran. Wahr ist aber umgekehrt auch: Man kann nicht so leicht hineinschauen in die Blase. Wenn man es tut, erledigt sich manches Vorurteil.

Manches bestätigt sich auch. Wenn junge Begeisterte mit Journalisten über ihre Begeisterung reden wollen, müssen einige erst mal bei ihren Vorgesetzten "Ethikanfragen" stellen. Die Mauern sind hoch […].

[…] Anfang des Jahres [2017] gab es eine ernüchternde Umfrage der Tui-Stiftung: Nur 35 Prozent von 6000 befragten Europäern zwischen 16 und 26 Jahren gaben an, zufrieden zu sein mit der EU. Klar, die Jugend Europas hat es nicht überall leicht. In Spanien spricht man von einer "Generación Zero", null Jobs, null Chancen. Aber es ist eben auch die Jugend, die am stärksten profitieren kann von den Freiheiten Europas: grenzenloses Reisen, grenzenloses Studieren, grenzenloses Arbeiten. Grenzenloses Lieben übrigens auch.

Jarek Świerczyna […] und Matilda […], Schwedin, 27 Jahre alt. Er, Pole, 26 Jahre alt. Sie haben sich bei ihrem Erasmus-Aufenthalt in der Wallonie kennengelernt, sie haben sich in Brüssel ein gemeinsames Leben aufgebaut. Hier geht das einfacher als anderswo. Das beginnt bei der Sportgruppe, Amtssprache Englisch. Das geht weiter beim Job, Matilda schreibt eine Doktorarbeit, er arbeitet in der Kommission.

Für seine Verwandten und Freunde daheim in Opole, sagt Świerczyna, war die EU-Kommission immer ein gesichtsloses Wesen. Jetzt hat sie ein Gesicht bekommen: seines. […]

Jarek Świerczyna […] hadert natürlich mit dem, was gerade in Polen passiert, die Attacke auf den Rechtsstaat, es ist ihm bange um sein Land. Er erzählt lieber seine eigene europäische Geschichte, die Geschichte seiner beiden Großväter: Der eine hat im Zweiten Weltkrieg die polnische Uniform getragen, der andere die deutsche. Und jetzt sitzt er, ihr Enkel, hier in Brüssel. Jarek Świerczyna sagt, er sei ein zuversichtlicher Mensch. […]

Roman Deininger / Pia Ratzesberger, "Jugend forsch", in: Süddeutsche Zeitung vom 5. August 2017

Arbeitsweise

www.europarl.europa.eu/committees/de/about-committees.html (© Europäisches Parlament)

Wie der Deutsche Bundestag wird auch das EP als sogenanntes Arbeitsparlament bezeichnet. In Parlamenten dieser Art wird die meiste Arbeit bereits in den Fachausschüssen geleistet. Das Plenum aller Abgeordneten debattiert und beschließt einzelne Gesetzgebungsvorhaben erst, nachdem die Ausschüsse ihre Arbeit und Abstimmungen abgeschlossen haben. In der Wahlperiode von 2014 bis 2019 teilen sich die Abgeordneten auf 20 Ausschüsse sowie zwei Unterausschüsse auf. Die Ausschüsse behandeln alle wichtigen Themen der EU, wie etwa Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Handel, Wirtschaft und Währung, Auswärtige Angelegenheiten, Umweltfragen, Haushalt, Recht oder Kultur und Bildung. In diesen Ausschüssen werden Gesetzgebungsvorschläge ebenso wie Resolutionen des Europäischen Parlaments vorbereitet, Anhörungen durchgeführt und Stellungnahmen verabschiedet. Die Ausschussvorsitzenden werden nach Anzahl der Sitze an die im Parlament vertretenden Fraktionen verteilt und sind eine wichtige Machtressource für die großen Fraktionen, weil sie damit die Debatten im Parlament steuern können.

Eine wichtige Rolle in der Arbeit des Europäischen Parlaments nehmen auch die sogenannten Berichterstatter (Rapporteure) ein. Jedem Entscheidungsprozess im Parlament ist ein Berichterstatter zugewiesen, der beispielsweise die ersten Entwürfe einer Beschlussvorlage entwickelt, die Verhandlungen mit den anderen EU-Institutionen im Trilog bzw. Vermittlungsausschuss führt und sich mit den anderen Fraktionen koordiniert. Auch die Berichterstatterpositionen werden je nach Größe an die verschiedenen Fraktionen verteilt. Die anderen Fraktionen ernennen dann jeweils "Schattenberichterstatter", die den Gesetzgebungsprozess von ihrer Seite begleiten.

Auf Grund des Fokus auf die Ausschüsse ist das EP bei den meisten Sitzungen im Plenum nur schwach besetzt. Zunehmend setzt das Parlament aber auch auf regelmäßig stattfindende Großdebatten, um auch mit Blick auf die europäische Öffentlichkeit zentrale politische Themen Europas zu diskutieren. Hierzu gehören beispielsweise die jährlich im September stattfindende Rede des EU-Kommissionspräsidenten zur "Lage der Union" oder Debatten mit Staats- und Regierungschefs über die Zukunft der Europäischen Union. Beispielsweise hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im November 2018 zum Plenum des EU-Parlaments über die weitere Entwicklung der Europäischen Union gesprochen.

QuellentextIn Unterschiedlichkeit vereint: Impressionen aus dem parlamentarischen Alltag

Es ist noch früh am Morgen, und sie sind alle in die gleiche Richtung unterwegs. Wie ein riesiger Magnet zieht das Europäische Parlament die Menschen in sein Inneres. Man muss nur hinhören, während sie auf den Eingang zulaufen: Französisch. Finnisch. Griechisch. Ungarisch. Rumänisch. 24 Sprachen, 28 Länder, 751 Abgeordnete. Es gibt kein anderes Parlament auf der Welt, in dem so viele Nationen vertreten sind und das von den Bürgern direkt gewählt wird. Ein solches Parlament könnte den Menschen ganz nahe sein. Doch immer mehr von ihnen verstehen nicht, was die Abgeordneten hier machen. Das ist eines der großen Probleme Europas […].

Eine junge Frau steuert mit den anderen auf das Parlament zu. Julia Reda […] wird nicht viel Zeit haben im Büro im fünften Stock, sie muss in den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Imco nennen sie den hier, kurz für Internal Market and Consumer Protection. In Brüssel liebt man Abkürzungen. Vier Stockwerke über Redas Büro macht sich György Schöpflin fertig […]. Er geht nun in die Sitzung des Afco-Ausschusses, zuständig für konstitutionelle Fragen. […] Seit dreizehn Jahren ist er EU-Parlamentarier. Julia Reda seit drei Jahren […]

György Schöpflin steigt in den Aufzug. Er ist Ungar, 77 Jahre alt, er war noch ein Kind, als in seiner Straße Bomben fielen. Schöpflin ist Mitglied der Fidesz-Partei des ungarischen Premiers Viktor Orbán, in Brüssel gehört er zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Manche seiner EVP-Kollegen würden die nationalpopulistische Partei am liebsten ausschließen. […]

Auch Julia Reda steigt in den Aufzug. Sie ist Deutsche, 30 Jahre alt, aufgewachsen in einem Europa, in dem keine Bomben mehr fallen. Reda ist Mitglied in der Piratenpartei, in Brüssel gehört sie zur Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. […]

Der Saal hat sieben Reihen, Julia Reda setzt sich links in die vierte. Sie stimmen gleich ab, aber in diesem Haus ist nicht nur wichtig, was während der Reden gesagt wird, sondern auch, was davor, dazwischen, danach passiert. Reda […] sieht sich suchend um. Sie will einen Kollegen der EVP abpassen, der nicht zum "Schattenberichterstattertreffen" erschienen ist. Das Parlament hat seine eigene Sprache, Imco, Afco, Schattenberichterstatter. Auf ihrem Blog hat Reda eine Rubrik, sie heißt "Der Reda-Bericht erklärt". Es ist ihr Versuch, die EU-Sprache zu übersetzen. Reda staunt selbst manchmal noch über "diese Parallelwelt", auch wenn man ihr das nicht anmerkt, wenn sie mit festem Blick durch den Saal geht.

In dieser Parallelwelt geht es schon damit los, dass nicht das Parlament Gesetze vorschlägt, sondern die Europäische Kommission. Zu jedem Gesetzesvorschlag erstellt der zuständige Ausschuss im Parlament einen Bericht, für den ist jeweils einer der Abgeordneten verantwortlich. Dieser Berichterstatter muss mit allen Fraktionen im Ausschuss einen Kompromiss aushandeln, und dafür hat jede Fraktion einen eigenen Schattenberichterstatter.

Julia Reda ist Berichterstatterin für ein Gesetz zum Geoblocking, übersetzt: Es geht um die Frage, ob sich etwa jemand in Paris online einen ZDF-Zweiteiler ansehen kann. […] Reda wird bis zur nächsten Sitzung 27 Seiten mit Änderungsanträgen durchgehen müssen. Sie hat eine Stunde. "Da hangelt man sich eben so durch." 24 Sprachen, 28 Länder, 751 Abgeordnete. Und sehr, sehr viele Sitzungen.

[…] Vor ihr die Änderungsanträge, sie hakt ab, streicht durch. Sie starrt auf das Papier. Doch so genau sie auch liest, immer spielt der Zufall mit: Ein Wort ist falsch übersetzt. Ein Abgeordneter ist krank, bei der Abstimmung fehlt seine Stimme. Reda hat das überrascht. Letztlich, wird sie später noch sagen, gebe es drei Gruppen von Abgeordneten in diesem Haus: Die, die Brüssel als Schritt in die nationale Politik sehen. Die, die nur Europapolitik machen wollen. Und die dritte Gruppe, die hier ihren Lebensabend verbringt.

György Schöpflin sitzt in der ersten Reihe rechts, Afco-Ausschuss. Gerade sind sie bei Punkt sieben auf der Tagesordnung angekommen, es geht um die europäische Bürgerinitiative, übersetzt: Bürger sollen die Kommission auffordern dürfen, ein Gesetz vorzuschlagen. Berichterstatter ist Schöpflin, aber jetzt fehlen im Saal die Dolmetscher für die Rumänen. Die Vorsitzende stöhnt. Schöpflin lächelt, er spricht perfektes Englisch. Seine Eltern sind vor dem Krieg geflohen, nach Schweden, dann England. Er war lange Professor in London.

[…] Einer der Schattenberichterstatter sagt: Er freue sich, dass Schöpflin seinen Bericht fortführe, der nickt ihm dankend zu. Es ist gerade nicht so wichtig, dass Schöpflin […] nicht verstehen kann, warum mit dem Hochschulgesetz in Ungarn die akademische Freiheit bedroht sein soll. In den Ausschüssen geht es oft um technische Details, die Parteizugehörigkeit rückt in den Hintergrund.

Ganz Europa in einem Haus. Doch in den Gängen dieses Hauses fehlt es Julia Reda, 30 Jahre, manchmal am europäischen Bewusstsein. Und György Schöpflin, 77 Jahre, fehlt es an Verständnis für seinen Nationalstaat. Er sagt, die großen Mitgliedstaaten wollten allen ihre Werte aufdrücken, "linksliberaler Universalismus". Dann sagt er: "Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin kein Anti-Europäer." Er ist für die Europäische Bürgerinitiative, zum Beispiel. Aber er findet auch richtig, dass Ungarn an der serbischen Grenze einen Zaun baut. Dass die EU die Grenzen verstärkt, während Julia Reda keine Grenzen will.

[…] Heute noch: eine vorbereitende Sitzung, ein Treffen von Koordinatoren, der Ausschuss. Es gibt Trakte in diesem Haus, in denen sei er noch nie gewesen, sagt Schöpflin. Julia Reda geht es genauso.

Am Abend wird sie im fünften Stock die Tür schließen, Zimmer 158. György Schöpflin wird im neunten Stock die Tür schließen, Zimmer 157. Sie werden den Aufzug nach unten nehmen. Manchmal muss man lange warten, bis einer der sechs Fahrstühle kommt. Manchmal ist einer kaputt. Aber sie fahren.

Pia Ratzesberger, "Ein Haus für alle", in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Juni 2017

Fraktionen und europäische Parteien

Im EP sitzen die Abgeordneten nicht aufgeteilt nach Nationalität, sondern bilden Fraktionen entlang europäischer Parteien und ihren politischen Positionen. Diese Parteien sind von ihrem Charakter, ihrer Bindewirkung und ihrer Durchsetzungskraft weiterhin nicht mit nationalen Parteien gleichzusetzen. Zwar erkennt der EU-Vertrag Parteien auf europäischer Ebene an, welche "zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union" (Art. 10 EUV) beitragen.

Ein zentraler Unterschied zwischen nationalen und europäischen Parteien besteht jedoch darin, dass europäische Parteien keine Zusammenschlüsse individueller Bürgerinnen und Bürger, sondern europäische Dachverbände nationaler Parteien sind. Bislang sind diese europäischen Parteien in Bezug auf den Wahlkampf und programmatisch gemessen an den nationalen Mitgliedsparteien vergleichsweise schlecht aufgestellt. Sichtbar sind sie hauptsächlich durch die Arbeit ihrer EP-Fraktionen. Auch die Parteienfinanzierung auf EU-Ebene fällt deutlich geringer aus als beispielsweise in Deutschland. Trotz dieser deutlichen Unterschiede kommt den europäischen Parteien mit folgenden vier Funktionen eine im politischen System der EU nicht zu vernachlässigende Rolle zu:

Zunächst tragen die Parteien maßgeblich dazu bei, dass die Interessen unterschiedlicher Akteure im Mehrebenensystem der EU ausgeglichen werden. Beispielsweise koordinieren sich Staats- und Regierungschefinnen und -chefs in den Foren der Parteien vor den Sitzungen des Europäischen Rates. Zweitens kommt ihnen und ihren Parlamentsfraktionen eine zentrale Rolle bei der Mehrheitsbeschaffung im EP zu. Vor allem den etablierten Fraktionen gelingt es in der Regel, einheitlich im EP abzustimmen und gemeinsam Politik im Parlament zu gestalten. Drittens werden die Parteien bei der Besetzung von EU-Spitzenämtern immer wichtiger. Dies zeigte sich in dem 2014 erstmals angewandten Prinzip der Spitzenkandidaten sowie der Besetzung der Posten des Ratspräsidenten und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die bislang über den Parteienproporz geregelt wurden. Viertens bieten die Fraktionen und Parteien auf europäischer Ebene auch Ressourcen für die nationalen Parteien und Politikerinnen und Politiker. Zuletzt waren es paradoxerweise ausgerechnet die EU-skeptischen Parteien, die von den finanziellen Mitteln des EP und der dort gebotenen Bühne besonders profitiert haben.

In der Wahlperiode verteilten sich die bisher 751 Abgeordneten auf acht Fraktionen und die Gruppe der Fraktionslosen. In allen dieser Gruppen waren deutsche Abgeordnete vertreten. Da die Fraktionen sich aber aus Abgeordneten nationaler Parteien zusammensetzen und sich das Parteiensystem in vielen Mitgliedstaaten im Wandel befindet, sind Wechsel von Fraktionszugehörigkeiten vor und gerade auch nach den Europawahlen nicht auszuschließen. Dies gilt insbesondere für neue und/oder EU-skeptische Parteien, die in vielen europäischen Staaten das etablierte Parteiensystem herausfordern.

Die aktuell und nach Umfragen auch nach den Europawahlen 2019 größte Fraktion ist die der "Europäischen Volkspartei" (EVP). Die EVP ist eine christdemokratische Partei, der entsprechend aus Deutschland die CDU und CSU angehören. In den letzten Jahren ist die EVP die dominierende Partei auf europäischer Ebene gewesen, die den Kommissionspräsidenten (Jean-Claude Juncker), den Präsidenten des Europäischen Rates (Donald Tusk) sowie die Mehrheit der nationalen Staats- und Regierungschefs gestellt hat. Aktuell ist die EVP mit Mitgliedsparteien in allen EU-Staaten vertreten. Spitzenkandidat der EVP für 2019 ist der deutsche Europaabgeordnete Manfred Weber (CSU). Umstritten vor den Europawahlen ist jedoch die Mitgliedschaft der ungarischen Fidesz-Partei von Viktor Orbán in der EVP, nachdem die Mehrheit des EP, einschließlich der Mehrheit der EVP-Abgeordneten, für den Beginn eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn gestimmt hat.

Fraktionen im Europäischen Parlament (© Europäisches Parlament)

Die bislang zweitgrößte und nach der EVP bedeutendste europäische Partei ist die "‚Sozialdemokratische Partei Europas" (SPE), deren Fraktion im EP unter dem Namen "Progressive Allianz der Sozialdemokraten" (S+D) firmiert. Als einzige Partei ist die SPE bislang in allen EU-Mitgliedstaaten vertreten, in Deutschland mit der SPD. In den letzten Jahren haben ihre Mitgliedsparteien aber europaweit zum Teil deutlich an Zustimmung verloren, insbesondere in Frankreich, Italien, in den Niederlanden und auch in Deutschland. Zudem fällt mit dem geplanten Brexit die britische Labour-Partei als eine der großen Mitgliedsparteien der SPE weg. SPE-Spitzenkandidat ist der Niederländer Frans Timmermans, aktuell Vizepräsident der EU-Kommission.

Noch offen ist die Zusammensetzung des liberalen Spektrums nach den Europawahlen 2019 im Europäischen Parlament. In der bisherigen Legislaturperiode nimmt die "Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa" (ALDE) die Stellung als viertgrößte Fraktion ein. Ihr gehören die deutsche FDP sowie die Freien Wähler an; insgesamt ist die ALDE in 21 EU-Staaten vertreten. Ein großes Fragezeichen steht hinter der Positionierung der La République En Marche-Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Diese neue, proeuropäische Partei hat sich bisher keiner der etablierten europäischen Parteien angeschlossen; Macron hat jedoch eine Zusammenarbeit mit der ALDE-Fraktion sowie weiteren proeuropäischen Kräften nach den Wahlen in Aussicht gestellt. Schon in der bisherigen Legislaturperiode hat die ALDE-Fraktion häufig mit der Rolle als "Zünglein an der Waage" viele Abstimmungen im Parlament entscheidend beeinflusst. Zusammen mit Macrons Partei könnte die Bedeutung der ALDE weiter steigen. ALDE tritt nicht mit einem einzelnen Spitzenkandidaten, sondern mit einem Führungsteam bei den Europawahlen an.

Zwei kleinere Fraktionen mit klar zugeordneter Mitgliedschaft deutscher Parteien sind die Grünen und die Linken. Die Europäischen Grünen haben im EP eine gemeinsame Fraktion mit der "Freien Europäischen Allianz", eine Partei, in der sich nach regionaler Autonomie oder Unabhängigkeit strebende Parteien wie die Scottish National Party zusammengeschlossen haben. Gemeinsam ist die Grüne/FEA im aktuellen EP an fünfter Stelle, mit den deutschen Grünen als größter Mitgliedspartei. Die Europäischen Grünen gehen mit zwei Spitzenkandidaten in die Europawahlen, Ska Keller aus Deutschland und Bas Eickhout aus den Niederlanden. Die Europäische Linke (GUE/NGL) ist ebenfalls fünftstärkste Kraft, mit Mitgliedsparteien aus 14 EU-Staaten, darunter Die Linke aus Deutschland. Sie hat noch keinen Spitzenkandidaten festgelegt.

Am meisten Bewegung wird vor und nach den Wahlen im EU-skeptischen Spektrum erwartet. Schon im Europaparlament 2014–2019 konnten EU-skeptische Parteien zusammen etwa 20 Prozent der Sitze gewinnen. Aufgrund von Rivalitäten und unterschiedlicher Einstellungen gegenüber der EU haben sie sich jedoch auf drei Fraktionen aufgeteilt:

Erstens die moderat EU-skeptische, konservative Fraktion der "Europäischen Konservativen und Reformer" (EKR) als drittstärkste Fraktion im Europaparlament. Deren Mitglieder befürworten die EU an sich, streben aber eine Rückbesinnung auf den Binnenmarkt und intergouvernementale Zusammenarbeit an. Ihr gehören Abgeordnete aus 19 EU-Staaten an, aus Deutschland sind dies frühere AfD-Mitglieder wie Bernd Lucke und Olaf Henkel.

Zweitens die Fraktion "Europa der Freiheit und der direkten Demokratie" (EFDD), die mit 41 Abgeordneten aus sieben EU-Staaten die zweitkleinste Fraktion stellt. Die EFDD setzt sich aus fundamental EU-skeptischen Parteien wie der britischen UK Independence Party (UKIP) und populistischen Parteien wie der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung zusammen. Zu ihr gehört auch der einzige AfD-Abgeordnete; ursprünglich waren 2014 sieben AfD-Vertreter ins EP gewählt worden, alle anderen haben die Partei mittlerweile wieder verlassen.

Die dritte EU-skeptische, und im bisherigen EP kleinste Fraktion ist das "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF), der unter anderem die italienische Lega Nord, die österreichische FPÖ oder die französische Nationale Bewegung (früher: Front National) angehören. Ihre Mitglieder lehnen die EU in weiten Teilen grundsätzlich ab. Zur ENF gehört ein deutscher Abgeordneter, der ebenfalls 2014 für die AfD ins EP gewählt wurde und nun Mitglied der Partei "Die Blauen" ist.

Renationalisierung (© Heiko Sakurai)

Schon an der Beschreibung der EU-skeptischen Fraktionen wird deutlich, wie zersplittert diese bisher im Parlament auftreten. Zu den Europawahlen gibt es aber Bestrebungen, die verschiedenen Strömungen zu vereinen. Zum einen fallen mit dem Brexit Parteien weg, die bisher wichtige Stützen ihrer Fraktionen waren, die britischen Konservativen im EKR und UKIP in der EFDD. Da auch die italienische Fünf-Sterne Bewegung erklärt hat, die EFDD zu verlassen, dürfte die Fraktion nach den Europawahlen 2019 nicht fortbestehen. Zum anderen haben ENF-Parteien wie die italienische Lega Nord seit den Europawahlen deutlich an Zustimmung gewonnen. Deren Parteivorsitzender Matteo Salvini setzt sich europaweit für eine einheitliche EU-skeptische Fraktion ein. Auch die deutsche AfD hat sich noch nicht festgelegt, mit welcher Fraktion sie nach den Wahlen 2019 im EP zusammenarbeiten will.
Das europäische Parteiensystem ist vor den Europawahlen 2019 also spürbar im Fluss. Offen ist insbesondere, ob die EU-skeptischen Parteien weiterhin zersplittert bleiben oder ob sie eine gemeinsame Fraktion bilden. Diese könnte dann zur zweitgrößten oder sogar größten Fraktion im Parlament werden.

Koalitionen und Abstimmungsverhalten

Nationale Parteien im Europäischen Parlament (© Europäisches Parlament)

Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (© Europäisches Parlament)

Anders als in nationalen Parlamenten gibt es im Europäischen Parlament keine feste Koalition und damit keine Aufteilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Zwar hat eine "informelle Große Koalition" aus EVP und S+D zu Beginn der Legislaturperiode Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten gewählt. Es gibt aber keinen festen Koalitionsvertrag und auch die informelle Zusammenarbeit wurde im Laufe der Legislaturperiode von der S+D aufgekündigt. Stattdessen bilden sich im EP je nach Sachverhalt wechselnde Mehrheiten zwischen den Fraktionen.

Dominiert wird das Europäische Parlament in der Legislaturperiode von 2014 bis 2019 von EVP, S+D und ALDE, die jeweils bei über 85 Prozent der Abstimmungen in ihrem Sinn entscheiden konnten. Bemerkenswerterweise gelang es S+D und ALDE (mit 88,6 bzw. 88,5 %) sogar noch häufiger als der EVP (mit nur 86 Prozent Abstimmungen) ihre Anliegen durchzubringen, obwohl die EVP die meisten Abgeordneten stellt. Die ALDE nimmt hier eine zentrale Rolle ein – bei Wirtschaftsthemen stimmt sie häufiger zusammen mit der EVP und dem EKR, während bei Fragen wie Verbraucherschutz oder Bürgerrechten häufiger S+D, ALDE, Grüne und Europäische Linke eine Mehrheit bilden.

Von den EU-skeptischen Parteien beteiligt sich im aktuellen Parlament nur die EKR-Fraktion konstruktiv mit eigenen Berichten an der Parlamentsarbeit, etwa in der Wirtschaftspolitik der EU. EFDD und ENF-Abgeordnete hingegen wirken bisher nur wenig an der Parlamentsarbeit mit und sehen sich in einer Oppositionsrolle. Bei Abstimmungen in der laufenden Legislaturperiode werden die beiden Fraktionen nicht nur am häufigsten überstimmt, ihre Abgeordneten haben auch die niedrigste Beteiligungsrate aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier, wie Erhebungen auf Grundlage von VoteWatch.EU, das alle Abstimmungsprotokolle des EU-Parlaments auswertet, belegen.

Große Unterschiede zeigen sich auch darin, wie einheitlich die Fraktionen auftreten. Die etablierten europäischen Parteien erreichen hier in der Regel eine hohe Fraktionsdisziplin und treten als einheitlicher Akteur im EU-Parlament auf, obwohl sie sich aus den verschiedensten nationalen Parteien bilden. Die höchste Rate an gemeinsamen Abstimmungen erreicht in der bisherigen Legislaturperiode die Grüne/FEA-Fraktion, auch EVP, S+D und ALDE stimmen fast immer gemeinsam ab. Anders sieht es im EU-skeptischen Lager aus. Die EKR-Fraktion stimmt immerhin noch zu zwei Dritteln einheitlich ab, während die ENF und vor allem die EFDD nicht mehr als ein Zweckbündnis ist. Letztere stimmt in kaum einer Abstimmung gemeinsam ab und ist häufig in der Mitte gespalten.

QuellentextNeuorientierung und neue Mehrheiten: Weichenstellungen für das künftige Europaparlament

[…] Im kommenden Jahr [2019] könnte […] eine große Neusortierung im Europaparlament anstehen. So bereiten sich rechte Kulturkämpfer, liberale Reformer und kritische, linke Europäer auf einen Wahlkampf vor, bei dem stärker als zuvor zwei grundverschiedene Vorstellungen von Europa aufeinanderprallen werden: Idealtypisch treffen die Verfechter eines Rückzugs in autoritär formierte Gesellschaften hinter nationalen Grenzen auf die – politisch heterogenen – Befürworter verstärkter europäischer Zusammenarbeit und freiheitlicher Lebensweisen. […]

Jedoch [stehen] die Rechten […] vor einem altbekannten Problem. Ihre Feindbilder sind zwar länderübergreifend dieselben: Flüchtlinge und Muslime, emanzipierte Frauen und sexuelle Minderheiten sowie das Establishment in der jeweiligen Hauptstadt und in Brüssel. Aber wenn es ernst wird, treten die ideologischen Gemeinsamkeiten oft hinter nationale Konkurrenz zurück: Dann kämpft jeder Nationalist dafür, dass sein Land keine Flüchtlinge vom Nachbarn übernimmt, auch wenn die dortige Regierung gleichgesinnt sein mag. Dann werden auch schon mal Grenzregionen beansprucht, selbst wenn das die Bruderpartei von nebenan verärgert.

Doch nun bietet sich eine Gelegenheit zur Sammlung in einer mächtigen Allianz. Denn mit dem Brexit verlieren zwei der drei bestehenden rechten Fraktionen ihre stärkste Kraft und ihr politisches Gravitationszentrum. Das gilt für die bislang drittgrößte politische Gruppe im EP, die rechtskonservative ECR um die britischen Tories und die polnische PiS sowie für die kleinere, rechtspopulistische EFDD um die UK Independence Party und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung. Letzterer dürfte es 2019, nach dem Ausscheiden der UKIP, kaum gelingen, den Fraktionsstatus zu halten, für den sie mindestens 25 Abgeordnete aus wenigstens sieben Ländern benötigt. Einzig die rechtsextreme ENF um Marine Le Pens Rassemblement National und Matteo Salvinis Lega wird durch den Auszug der Briten nicht geschwächt. Eine Neuordnung im rechten Lager steht also ohnehin auf der Tagesordnung. Darin wittern nationalistische Strategen eine Chance, endlich dessen Zersplitterung zu beenden. […]

[…] [V]iel [spricht] dafür, dass die PiS eine Neugruppierung der ECR als erneut drittstärkste Kraft anstrebt. Sie ist dazu bereits ein Bündnis mit den rechten Schwedendemokraten eingegangen. Vor allem aber könnte die ENF um Salvini und Le Pen beträchtlich zulegen und von der kleinsten zur viertstärksten Fraktion aufsteigen, noch vor Linken und Grünen. Das wäre zwar noch keine neue Internationale der Nationalisten, aber durchaus ein veritabler Machtfaktor: Solcherart gestärkt könnten beide Fraktionen nicht nur mit mehr Ausschussposten, sondern insbesondere mit erheblichen Finanzmitteln rechnen.

Wer bei alldem bislang außen vor bleibt, ist der prominenteste Vorkämpfer der autoritären Wende: Ungarns Premierminister Viktor Orbán. Seine Fidesz ist trotz teils fundamentaler politischer Differenzen nach wie vor Mitglied der christdemokratischen EVP und gedenkt dies auch zu bleiben. Erst bei einem möglichen Ausschluss werde man auf Salvini zugehen und versuchen, eine Sperrminorität zu erreichen, drohte jüngst der Fidesz-Europaabgeordnete György Schöpflin. […]

[…] Viele […] Mitgliedsparteien [der EVP] sind selbst stark nach rechts gerückt […]. Da andere auf liberalem Kurs bleiben, wirken Europas Christdemokraten derzeit wie eine […] Zweckgemeinschaft […]. […]

[…] [D]ie neuen Allianzen von Emmanuel Macron und Yanis Varoufakis […] wollen mit – durchaus unterschiedlichen – Visionen von verstärkter europäischer Zusammenarbeit eine Aufbruchstimmung erzeugen, die in grundlegende EU-Reformen münden soll. Beide scheuen allerdings derzeit den Eintritt in eine bestehende Fraktion.

So dürfte sich Macrons "Europe en Marche" nicht den europäischen Liberalen anschließen. Die ALDE-Fraktion ist für die Ansprüche des französischen Präsidenten schlicht zu klein. Zudem begegnen einige ihrer Mitglieder seinen Plänen für eine Reform der Eurozone mit Skepsis (wie die niederländische VVD um Regierungschef Mark Rutte) oder gar Ablehnung (wie die tschechische ANO um Premierminister Andrej Babis). Macron peilt daher – wie schon in Frankreich – offensiv eine "Neuordnung der Parteigrenzen an", die zu einer "Fraktion progressiver europäischer Kräfte" führen soll, die im Mai 2019 Platz zwei erobern kann. Das läuft auf eine bewusste Spaltung bestehender Parteien oder Fraktionen hinaus. […] Sollte daraus eine starke Liste erwachsen, könnte sie den Reformvorschlägen des französischen Präsidenten in Brüssel größeren Rückhalt verschaffen. Sie würde aber auch Christ- und Sozialdemokraten, Grüne und Liberale schwächen – und damit bisherige oder potentielle Verbündete Macrons verärgern.

Vor deutlich größeren Schwierigkeiten steht der "Europäische Frühling" um Varoufakis. Er hat zwar Benoît Hamon gewonnen, der 2016 Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten war – wenn auch mit historisch schwachem Ergebnis – und dessen neue Partei ins grüne Milieu ausstrahlt. Auch verfügt der "Europäische Frühling" über die Unterstützung von jungen osteuropäischen Parteien, darunter die tschechischen Piraten, mit knapp 11 Prozent drittstärkste Kraft des Landes, und die slowenische Levica, die mit 9 Prozent die Minderheitsregierung in Ljubljana stützt. Es fehlt aber an weiterem Rückhalt in bevölkerungsreichen Ländern – auch weil der Wunschpartner Podemos absagte.

Das verweist auf die Verwerfungen innerhalb der europäischen Linken, für die sich das Jahr 2015 als Wegscheide erweist. Sie ist sich uneins, was die damalige Niederlage von Syriza verursacht hat: War es die konfrontative Strategie der Griechen oder aber, dass sie diese nicht konsequent genug verfolgt hat? Und sie streitet seither verstärkt darüber, ob die EU noch reformierbar oder doch strukturell neoliberal ist. Jean-Luc Mélenchon, der auf Konfrontation mit der EU setzt, hat über diesen Zwist eine neue Allianz gegründet, die den Kurs der – aus seiner Sicht zu europafreundlichen – Linksfraktion (GUE/NGL) […] grundlegend ändern soll. Unterstützt wird er darin u.a. von Podemos und dem portugiesischen Linksblock, die lange proeuropäisch waren, aber zunehmend bezweifeln, dass ein Richtungswechsel in Brüssel noch möglich ist. […]

Wie Liberale und Christdemokraten steht also auch die Linke vor einer politischen Neusortierung. Die Teilung in kritische Europäer und Linksnationale dürfte sich dabei weiter verfestigen. Im schlimmsten Fall sitzen ab Mai 2019 also zwei Allianzen links von der Sozialdemokratie im Europäischen Parlament, die einander spinnefeind sind. […]

Steffen Vogel, "Kampf um Europa: Bannon vs. Macron und Varoufakis", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2018, S. 17 ff.

ist promovierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: nicolai.vonondarza@swp-berlin.org

ist Politikwissenschaftler und promoviert am Centre for Globalisation and Governance der Universität Hamburg. Bis Ende 2018 war er Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: felix.schenuit@uni-hamburg.de