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Kompetenzen im Praxistest: die Wahlperiode von 2014 bis 2019

Nicolai von Ondarza Felix Schenuit

/ 6 Minuten zu lesen

Im Gesetzgebungsalltag oftmals auf Augenhöhe mit den Regierungen, aber auch vielfach nicht eingebunden, wenn es um die Kernbereiche nationalstaatlicher Souveränität geht? Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments sind von starken Kontrasten geprägt. Seine Erfolgsbilanz fällt daher auch nach Jahrzehnten europäischer Integrationsgeschichte gemischt aus.

Wahlkampf auf europäisch: Fernsehdebatte zwischen den fünf Kandidaten für den Posten der EU-Kommissionspräsidentschaft: Alexis Tsipras (Europäische Linke), Ska Keller (Europäische Grüne Partei), Martin Schulz (Sozialdemokratische Partei Europas), Jean-Claude Juncker (Europäische Volkspartei) und Guy Verhofstadt (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) (v. l. n. r.), Mai 2014 (© European Union 2014 – Source : EP / Eve VAN SOENS)

Spitzenkandidaten und Postenvergabe

Den ersten großen Machtkampf in der Legislaturperiode 2014–2019 gab es direkt zu Beginn, als es um die Wahl des Präsidenten der EU-Kommission ging. 2014 fand eine Neuerung des Lissabonner Vertrags erstmals Anwendung, die dem Europäischen Parlament die Kompetenz zuspricht, den Präsidenten der EU-Kommission zu wählen sowie dem Kollegium der Kommissare als Ganzes zuzustimmen (Art. 17 (7) EUV). Die großen europäischen Parteien sind 2014 daher erstmals mit eigenen "Spitzenkandidaten" im Wahlkampf aufgetreten, mit dem Versprechen, dass die Europawahlen auch direkten Einfluss auf die Besetzung der EU-Kommission haben sollen.

Allerdings sagt der EU-Vertrag auch, dass der Vorschlag für die Wahl zum Kommissionspräsidenten von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat gemacht wird, welche den Ausgang der Europawahlen lediglich "berücksichtigen" sollen. Nachdem bei den Wahlen 2014 die EVP als stärkste Fraktion bestätigt wurde, drängte die Mehrheit im EU-Parlament darauf, folglich auch deren Spitzenkandidaten, Jean-Claude Juncker, zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Mehrere Staats- und Regierungschefs, insbesondere David Cameron aus Großbritannien – dessen Konservative die EVP 2009 verlassen hatten – und Viktor Orbán, EVP-interner Kritiker von Jean-Claude Juncker – lehnten es aber ab, Junckers Nominierung im Europäischen Rat zuzustimmen. Weil das Europäische Parlament aber das Letztentscheidungsrecht über die Wahl des Kommissionspräsidenten hat, konnte es sich letztlich auch gegen Teile des Europäischen Rats durchsetzen, und Juncker wurde zum Kommissionspräsidenten gewählt. Damit wurde das Parlament deutlich gestärkt und die Bindung der Kommission an die Parlamentsmehrheit vertieft.

Vor den Wahlen 2019 ist es noch offen, ob sich diese Sichtweise auf die Wahl des Kommissionspräsidenten wiederholt. Zwar haben EVP, S+D, Grüne und EKR wieder Spitzenkandidaten aufgestellt, die europaweit in den Wahlkampf ziehen wollen. Außer dem EKR haben diese Fraktionen zudem angekündigt, nur jemanden zum Kommissionspräsidenten bzw. zur Kommissionspräsidentin zu wählen, der als Spitzenkandidat/-kandidatin die Wahlen bestritten hat. Allerdings haben die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat auch festgelegt, dass sie "keinen Automatismus" bezüglich ihres Vorschlagsrechts für das Amt des Kommissionspräsidenten akzeptieren. Zudem lassen Umfrageergebnisse in den EU-Staaten ein fragmentiertes und damit weniger handlungsfähiges Parlament nach den Wahlen 2019 erwarten. Ein erneuter Machtkampf um die EU-Kommission zwischen Parlament und Mitgliedstaaten ist daher möglich.

Beispiele für Handlungsfelder des Europäischen Parlaments

Das EP hat in den vergangenen fünf Jahren im Rahmen einzelner Entscheidungen viel Aufmerksamkeit erfahren; insbesondere auch, weil diese den Verlauf und das Ergebnis von Gesetzgebungsprozessen maßgeblich beeinflussen konnten. Zwei Beispiele sind in dieser Legislaturperiode besonders hervorzuheben:

CETA-Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada: Die Handelspolitik fällt in die Gruppe von Politikfeldern, in denen der EU allein zuständig ist. Dadurch haben die EU-Institutionen hier einen besonders großen Gestaltungsspielraum. Nachdem das Handelsabkommen mit den USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) in einigen Mitgliedstaaten und unter den EP-Abgeordneten lautstarke Proteste provozierte, geriet auch das verhandelte Abkommen mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) in die Kritik. Ein zentraler Kritikpunkt bestand in dem Umgang mit sogenannten Investor-Staat-Klagen.

Diese Klagen boten Investoren in Freihandelsabkommen Gelegenheiten, sich in den jeweiligen Partnerländern an etablierten politischen und juristischen Prozessen vorbei Marktzugänge zu verschaffen. Abgeordnete im EP und Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft sahen darin eine grundlegende Gefährdung der Demokratie. Um diesen Konflikt zu lösen, verhandelten die EU und Kanada einen eigentlich bereits abgeschlossenen Vertragstext nach und reformierten die Regelung von Investor-Staat-Klagen.

Dass derartige Konflikte im Kontext des CETA-Abkommens künftig vor einer ständigen Investor-Schiedsgerichtsbarkeit ausgetragen werden und nicht, wie bisher, von ad-hoc einberufenen Gerichten verhandelt werden, stärkt die Unabhängigkeit dieser Verfahren deutlich. Die Auflösung dieses zentralen Konflikts durch die beschriebene Reform geht maßgeblich auf politische Initiativen aus dem Parlament zurück.

Jedes EU-Handelsabkommen bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments, bevor es in Kraft treten kann. Da die EU aktuell weitere Freihandelsabkommen aushandelt, etwa mit Australien, Neuseeland, Mercosur (dem Gemeinsamen Markt Südamerikas) oder perspektivisch nach dem Brexit mit Großbritannien, wird das EP hier auch in der kommenden Legislaturperiode eine wichtige Rolle spielen.

Datenschutzgrundverordnung (DSGVO): Ein weiterer Fall besonderen Einflusses des Europaparlaments stellt die Datenschutzgrundverordnung dar. Die komplexen Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen dauerten insgesamt vier Jahre. Das große Interesse unterschiedlichster Akteure an dieser Reform spiegelte sich auch in den 4000 Änderungsanträgen wider, die durch den deutschen Europaabgeordneten (bis 2.7.2018) Jan-Philipp Albrecht als Berichterstatter im Parlament im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens in den endgültigen Kompromiss eingearbeitet wurden.

Auf die Impulse aus dem Europäischen Parlament wird unter anderem zurückgeführt, dass sich die DSGVO – entgegen starker Lobbybemühungen von Unternehmen wie Facebook und Google – stark an den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher orientiert. Dass das Parlament eine Gesetzgebung für EU-weite Standards, die durch den globalen Charakter des Internets auch weltweit Wirkung entfalten, maßgeblich mitprägen konnte und öffentlich als Vertreter der Verbraucherinnen und Verbraucher wahrgenommen wurde, ist ein weiteres Beispiel für den Bedeutungszugewinn der EU-Abgeordneten. Auch in Zukunft wird das EP bei der weiteren Regulierung des digitalen Binnenmarkts eine wichtige Rolle spielen, etwa beim Daten- oder Urheberrechtsschutz oder der Regulierung von künstlicher Intelligenz in Europa.

Zuschauer bei Krisen und in der Außenpolitik: Allerdings war das EP bei sehr zentralen und richtungsweisenden Entscheidungen der EU nicht oder nur begrenzt beteiligt. Insbesondere bei der Bewältigung akuter Krisen gaben die nationalen Regierungen im Rat oder die Kommission in den vergangenen Jahren häufig den Ton an.

Dies zeigt sich erstens in der Eurokrise. Die kurzfristig beschlossenen Hilfs- und Reformpakete für Griechenland, Portugal, Irland und Zypern unterlagen ebenso wenig der Kontrolle des Europäischen Parlaments wie der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) insgesamt. Denn die Mittel hierfür kamen jeweils aus den nationalen Haushalten, sodass hier die nationalen Parlamente wie der Bundestag Kontrollinstrumente innehaben. Auch die in den krisengeschüttelten Staaten sehr einflussreiche sogenannte Troika zwischen der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank arbeitete nur indirekt unter der Kontrolle des EP, indem es die zuständigen Kommissare kontrolliert. Eine mitentscheidende Rolle hat das Parlament jedoch bei der Rechtssetzung zur Bankenunion sowie bei der Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.

Zweitens war das EP auch auf der Höhe der sogenannten Migrationskrise im Jahr 2015 vergleichsweise wenig bedeutend. Einer der zentralen Bausteine der damaligen Krisenbewältigung, die Vereinbarung zwischen der EU und dem türkischen Präsidenten Erdogˇan, wurde maßgeblich durch die Kommission und Vertreter des Rats (insbesondere der deutschen Regierung) ausgehandelt. Auch bei der hoch umstrittenen Entscheidung zur Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU musste das EU-Parlament nur angehört werden, die Entscheidung hat der Rat aber alleine treffen können. Das Parlament hat allerdings eine mitentscheidende Rolle bei der langfristigen Reform der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik, etwa beim Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex oder der Überarbeitung des Dublinsystems, die jeweils mit voller Beteiligung des Parlaments entschieden werden.

Ähnlich fällt die Bewertung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik aus. Zwar konnte das Parlament mit Berichten und Beschlüssen zu einzelnen Ländern, wie zum Beispiel der Türkei oder Russland, vereinzelt außenpolitische Akzente setzen. Noch stärker als auf nationaler Ebene sind außen- und sicherheitspolitische Fragen auf EU-Ebene aber in der Hand der Regierungen. Weder bei konkreten diplomatischen Reaktionen auf Krisen noch bei Sanktionen oder zivilen und militärischen EU-Missionen/-Operationen kann das EP verbindlich mitbestimmen. Über die Kommission kontrolliert es aber die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie den Haushalt, etwa für zivile EU-Missionen, die EU-Nachbarschaftspolitik oder die Entwicklungszusammenarbeit.

Zwischenfazit: die Rolle des EP zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Ein Blick auf die formalen und tatsächlichen Kompetenzen zeigt eine gewisse Diskrepanz. So ist das Parlament zwar an mehr Gesetzgebungsprozessen beteiligt als früher und kann diese auch substanziell beeinflussen. Bei einigen hochpolitischen Fragen – insbesondere in politisch brisanten Krisensituationen – scheinen der Rat und die Kommission jedoch weiterhin deutlich relevanter zu sein.

Diese Diskrepanz führt schließlich dazu, dass die Entwicklung des Parlaments nur in Teilen als Erfolgsgeschichte eingeordnet werden kann. Mit dem Vertrag von Lissabon konnte das EP zwar einen deutlichen Bedeutungszuwachs verzeichnen, allerdings lassen zentrale Politikfelder und Momente der Krisenbewältigung noch parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene vermissen.

Wie sich die Kompetenzen des EP in Zukunft entwickeln hängt einerseits davon ab, ob in den nationalen Regierungen und der Kommission langfristig der Wille besteht, das Parlament stärker einzubinden. Andererseits könnte auch die Zusammensetzung des zukünftigen Parlaments maßgeblich darüber mitentscheiden.

ist promovierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: nicolai.vonondarza@swp-berlin.org

ist Politikwissenschaftler und promoviert am Centre for Globalisation and Governance der Universität Hamburg. Bis Ende 2018 war er Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: felix.schenuit@uni-hamburg.de