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1933-1945: Verdrängung und Vernichtung | bpb.de

1933-1945: Verdrängung und Vernichtung

Prof. em. Dr. Arno Herzig Arno Herzig

/ 22 Minuten zu lesen

Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933. Die Herrschaft der Nationalsozialisten bedeutet für die deutschen Juden von Anfang an eine antisemitische Politik der Diskriminierung und Verdrängung. (© Bundesarchiv, Bild 183-R70355 / Fotograf: o.A. / CC-BY-SA)

Akzeptanz des staatlichen Antisemitismus

Mit Hitler und den Deutschnationalen waren 1933 Politiker an die Macht gekommen, deren Programm auch auf dem Antisemitismus entscheidend aufbaute. Der Glaube, dass durch die Herauslösung der Juden aus der "Volksgemeinschaft" alle Probleme gelöst würden, hatte einen fast pseudoreligiösen Charakter. Zwar war es nicht in erster Linie der Antisemitismus, mit dem Hitler 1933 fast die Hälfte der deutschen Wählerinnen und Wähler gewann, sondern seine Agitation gegen den "Versailler Schandfrieden". Dennoch hatte die jahrhundertealte antijüdische Tradition dafür gesorgt, dass in der allgemeinen politischen Kultur des Bürgertums der Antisemitismus nicht als verabscheuungswürdig galt. Widerstand leisteten dagegen nur einzelne Persönlichkeiten. Aktionen des so genannten Radauantisemitismus, etwa der Geschäftsboykott am 1. April 1933 unter dem Motto "Kauft nicht bei Juden", stießen auf keinen großen Protest in der Bevölkerung. Die Mehrheit folgte dem Boykottaufruf zwar nicht und kaufte dennoch in Geschäften von jüdischen Inhabern ein, eine aktive Solidarisierung mit jüdischen Mitbürgern gab es aber praktisch nicht. Das widerrechtlich erlassene "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, das 5000 jüdische Beamte aus ihrer Stellung vertrieb, sahen die Kollegen der Betroffenen, wenn auch vielfach mit Bedauern, so doch als völlig legal an. Lediglich Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs erhielten durch die Intervention des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg einen Aufschub. Dem nichtjüdischen arbeitslosen akademischen Nachwuchs verhalf das Gesetz zu gesicherten Planstellen.

Mit den Erfolgen der NS-Außen- und Wirtschaftspolitik, die den allgemeinen Aufwärtstrend der Weltwirtschaft nutzte, was vor allem zu positiven Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt führte, wuchs der Konsens in der deutschen Bevölkerung auch im Hinblick auf die judenfeindlichen Maßnahmen des Regimes, zumal von 1934 bis 1937 die Aktionen des Radauantisemitismus nachließen.

Verdrängung aus Wirtschaft, Kultur und Öffentlichkeit

Auch für viele jüdische Bürger mochte diese Phase als eine "Schonzeit" gelten, doch war der Verdrängungsprozess im Wirtschafts- und Kulturleben nicht zu verkennen. Die durch die Wirtschaftskrise 1930 betroffenen 50000 jüdischen Arbeitslosen fanden auch in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs keine Arbeit. Die NS-Wirtschaftsbehörden auf lokaler bzw. Gau-Ebene setzten alles daran, jüdische Einzelhändler zur Aufgabe und Veräußerung ihrer Geschäfte zu zwingen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass über 60 Prozent der jüdischen Erwerbstätigen im Warenhandel beschäftigt waren, diese Maßnahme also erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Existenz der jüdischen Minderheit hatte. Bis Mitte 1935 hatten die NS-Behörden damit bei einem Viertel der jüdischen Einzelhändler Erfolg; bis Mitte 1938 waren es 70 Prozent.

Ähnliches galt für Ärzte und Rechtsanwälte mit ihren Praxen. In den betreffenden Berufsverbänden wurde 1933 der "Arierparagraph" eingeführt, der "nichtarische" Mitglieder ausschloss. Dies betraf bis 1935 auch so genannte Vierteljuden. Zu dieser Gruppe zählten alle, die einen jüdischen Großelternteil hatten. Ausschlaggebend für diese Kategorisierung war die Religionszugehörigkeit der zwei Großelternpaare, um als "Viertel"- (bei einem Großelternteil) oder „Halb“- (bei zwei) bzw. „Volljude“ (bei drei und vier) eingestuft zu werden. Trotz aller NS-Propaganda, die für ihren Rassismus von einer angeblichen (natur-)wissenschaftlichen Begründung ausging, gab es kein anderes Kriterium als die Religion der Großeltern. Das bedeutete aber auch, dass jeder/jede gemäß der Religionszugehörigkeit seiner/ihrer Großeltern als Jude galt, auch wenn er/sie konvertiert oder aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten war.

Ab Januar 1935 erhielten "nichtarische" Ärzte keine Approbation (= staatliche Zulassung) mehr, "nichtarische" Studenten wurden von den Prüfungen ausgeschlossen. Durch das Berufsbeamtengesetz verloren über 1000 Künstler, die an öffentlichen Bühnen tätig waren, ihre Stellung. Nicht-staatliche Unternehmen wie die Deutsche Grammophon-Gesellschaft verschlossen sich ebenfalls "rassisch und ideologisch unerwünschten Elementen". Das Reichsschriftleitergesetz vom Oktober 1935 verbot Juden, sich als Redakteure von politischen Zeitungen zu betätigen. Aus der Reichskulturkammer, die alle kulturellen Bereiche bestimmte, waren alle Juden bis zum Februar 1935 ausgeschlossen worden. Für zahlreiche Jüdinnen und Juden bedeuteten die NS-Gesetze zu dieser Zeit also existenzbedrohende Berufsverbote.

QuellentextVerdrängung jüdischer Wissenschaftler

2. Mai, Donnerstag: Am Dienstagmorgen, ohne alle vorherige Ankündigung - mit der Post zugestellt zwei Blätter: a) Ich habe auf Grund von § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ... Ihre Entlassung vorgeschlagen. Entlassungsurkunde anbei. Der kommissarische Leiter des Ministeriums für Volksbildung. b) "Im Namen des Reiches" die Urkunde selber, unterzeichnet mit einer Kinderhandschrift: Martin Mutschmann. Ich telefonierte die Hochschule an; dort hatte man keine Ahnung. Göpfert, der Kommissar, gibt sich nicht damit ab, das Rektorat um Rat zu fragen. Erst war mir abwechselnd ein bißchen betäubt und leicht romantisch zumut; jetzt ist nur die Bitterkeit und Trostlosigkeit fühlbar.
Meine Lage wird eine überschwere. Bis Ende Juli soll ich noch das Gehalt bekommen, die 800 M, mit denen ich mich so quäle, und danach eine Pension, die etwa 400 betragen wird.
Ich ging am Dienstag nachmittag zu Blumenfeld, der inzwischen den Ruf nach Lima endgültig erhalten hat, und ließ mir die Adresse der Hilfsstellen geben. Mittwoch, am "Festtag der nationalen Arbeit" [1. Mai, Red.], in den es hineinschneite, korrespondierte ich stundenlang. Drei gleichlautende Briefe an die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland", Zürich, an den "Academic Assistance Council", London, an das "Emergency Committee in aid of German Scholars", New York City. [...] Überall betone ich, daß ich auch deutsche Literatur, auch vergleichende Literatur lesen könne [...], daß ich in französischer und italienischer Sprache sogleich (!), in spanischer Sprache in kurzem (!) vortragen könnte, daß ich das Englische "lese" und in ein paar Monaten nötigenfalls auch sprechen würde.
Aber was hilft all diese Geschäftigkeit? [...] Die Chance ist nicht größer als die aufs große Los, wenn man Lotterie spielt.

Victor Klemperer, Das Tagebuch 1933-1945. Eine Auswahl für junge Leser, Berlin 1997, S. 38 f.

An den Höheren Schulen wurden jüdische Schüler nicht mehr zugelassen oder verdrängt. Durch die anpasserische Haltung zahlreicher Lehrkräfte bedingt wurden jüdische Schüler drangsaliert. Auch viele Mitschüler taten sich darin hervor. Die antijüdischen Aktionen verliefen lokal sehr unterschiedlich: Es gab - von den Nürnberger Gesetzen abgesehen - kein einheitliches "Anti-Juden-Gesetz", sondern circa 2000 Erlasse, die den diversen Schikanen lokaler NS-Machthaber viel Raum ließen.

Die Nürnberger Rassengesetze

Die Nürnberger Gesetze, die auf dem dortigen Parteitag der NSDAP am 15. September 1935 verkündet wurden, sollten das Verhältnis zwischen "Nichtariern" und "Volksgenossen" grundsätzlich regeln. Sie bedeuteten letztlich die Aufhebung der Errungenschaften der Emanzipation. Die Nürnberger Gesetze bestanden aus mehreren Einzelgesetzen, darunter das Reichsflaggengesetz, das Juden verbot, die "Reichsfarben" (Schwarz-Weiß-Rot) zu zeigen. Dies war wohl nur noch für den Reichsverband jüdischer Frontkämpfer (RjF) von Interesse, der weiterhin an seiner nationalen Tradition festzuhalten versuchte. Gravierender war das "Reichsbürgergesetz", das Juden die Gleichberechtigung nahm und entscheidend in die ökonomische und soziale Lebensgestaltung eingriff: Zu den "Verordnungen zum Reichsbürgergesetz" zählten Maßnahmen, die Juden aus manchen Berufsgruppen (Notare, Beamte, Ärzte, Rechtsanwälte) und dem öffentlichen Leben verdrängten sowie später auch unmittelbare finanzielle Repressalien, etwa der Einzug des Vermögens jüdischer Auswanderer. Zudem schuf das Gesetz zwei Klassen von Bürgern: "arische Reichsbürger" und "nichtarische Staatsangehörige" mit minderen politischen Rechten.
Wer ein jüdisches Großelternteil hatte, konnte als "Vierteljude" mit gewissen Einschränkungen in die deutsche "Volksgemeinschaft" aufgenommen werden. "Voll"- oder "Halbjuden" durften nur Juden heiraten. Dass die so genannten Vierteljuden nicht aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen wurden, lag im Interesse der Wehrmacht, die bei einer angenommenen Zahl von circa 308000 "Vierteljuden" einen großen Substanzverlust unter den Soldaten befürchtete. Zur Kategorie "Volljude" zählten auch die so genannten Geltungsjuden. Das waren "Vierteljuden", die mit Juden verheiratet waren und sich zur jüdischen Religion bekannten. Diese menschenverachtenden Bestimmungen gaben ab 1941, als die Verfolgungspolitik drastisch verschärft wurde, den Ausschlag über Leben und Tod.
Im Olympiajahr 1936 sahen die NSDAP und ihre Organisationen von spektakulären antijüdischen Aktionen ab. Die Olympischen Spiele bedeuteten für das NS-Regime einen internationalen Prestigegewinn. Dieser sollte nicht durch solche Aktionen beeinträchtigt werden. Schilder, die Juden den Zugang zu Schwimmbädern oder olympischen Anlagen verboten, wurden entfernt. Juden sollten zwar aus der deutschen Nationalmannschaft ausgeschlossen werden, doch durfte die Fechtmeisterin Helene Mayer am Olympischen Turnier teilnehmen, während die Hochspringerin Gretel Bergmann eine Absage erhielt. Der Verdrängungsprozess ging nach den Olympischen Spielen weiter. Der SS-Sicherheitsdienst (SD) und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) legten ab September 1937 eine detaillierte Judenkartei an. Im zu Deutschland gehörenden östlichen Teil Oberschlesiens, das von 1922 an unter dem geltenden Minderheitenschutz der Genfer Konvention des Völkerbundes stand, wurden nach dessen Auslaufen 1937 alle jüdischen Einwohner aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen. Für Ärzte und Rechtsanwälte wurden die Zulassungen eingeschränkt, sie durften nur noch jüdische Patienten behandeln bzw. für jüdische Klienten juristisch tätig werden. 1938 erfuhr diese Ausgrenzungspolitik eine Verschärfung, die in der Phase bis 1941, bis zum Beginn der Deportationen, die Juden fast völlig aus dem öffentlichen Leben verbannte.

Haltung der Kirchen und Gewerkschaften

Da die Konfessionszugehörigkeit der Betroffenen bei diesen Bestimmungen nicht im Vordergrund stand, sondern eine angenommene "rassische" Zugehörigkeit zum Kriterium erhoben wurde, gab es unter den solchermaßen Diskriminierten viele, die als Christen oder Konfessionslose in keiner Beziehung mehr zu den jüdischen Gemeinden standen. Auch in den christlichen Kirchen blieben sie isoliert. Die Kirchen akzeptierten die Nürnberger Gesetze, obwohl diese sich auch gegen das eigene Selbstverständnis - die Gleichheit aller Christen - richteten.
Der katholische Episkopat unter dem Breslauer Kardinal Bertram betrieb eine Doppelstrategie: Zwar verurteilte er die Anwendung des "Arierparagraphen" auf kirchliche Ämter, folgte aber den Bestimmungen der Nürnberger Gesetze, katholische Paare nicht zu trauen, von denen ein Partner jüdischer Herkunft war. Fehlte es schon an Solidarität gegenüber den Christen jüdischer Herkunft, so unterblieb von Seiten der katholischen Amtskirche in Deutschland eine Intervention zugunsten der jüdischen Gemeinden. Wenn sie auch nicht in Opposition zur NS-Diktatur trat, so gelang es der katholischen Kirche zumindest, rassistisches Gedankengut aus ihrer Lehre fernzuhalten. Dies traf für die Deutschen Christen (DC) in der evangelischen Kirche nicht zu. Die DC hatten sich schon 1932 in einer Denkschrift für den NS-Rassismus ausgesprochen und dominierten seit 1933 die neu gebildete Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche. Dagegen sprach sich 1934 die Bekennende Kirche (BK) für ein Christentum aus, das "für alle Völker ohne Unterschied der Rasse" zugänglich sein sollte. Im "Arierparagraphen" sah sie eine "Verletzung des Bekenntnisstandes", doch setzte auch sie sich nicht entschieden für ein Verbleiben "nichtarischer" evangelischer Pastoren in ihrem Amt ein. Hilfe kam den Christen jüdischer Herkunft nur von mutigen Einzelpersönlichkeiten zu, wie der Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz. Als ab 1941 auch die Christen jüdischer Herkunft deportiert wurden, wie die Karmeliternonne Edith Stein, die 1998 heiliggesprochen wurde, gab es von Seiten der Kirchen keinen Widerstand.
Auch die Gewerkschaften mit ihrem Dachverband, dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB), vertraten nach der Machtübernahme eine nicht gerade oppositionelle Haltung gegenüber der NSDAP und schätzten das Regime falsch ein. Sie huldigten einem Organisationsfetischismus, der sie hoffen ließ, ihre Gewerkschaftsarbeit weiterzuführen, "gleichviel, welcher Art das Staatsregime ist", wie der Bundesvorstand des ADGB am 20. März 1933 erklärte. Die Kündigung der traditionellen Zusammenarbeit mit der SPD wurde Hitler durch den Vorsitzenden Theodor Leipart am 29. März 1933 mitgeteilt. Doch half das alles nichts. Am 2. Mai 1933, einen Tag, nachdem Hitler den 1. Mai zum Tag der Arbeit erklärt hatte, wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, die Gewerkschaftsvermögen beschlagnahmt und die Führungsspitze "in Schutzhaft" genommen. Am 10. Mai 1933 trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF) an die Stelle der Gewerkschaften, allerdings nicht als unabhängige Vertretung der Arbeiterinteressen, sondern als NS-Einheitsverband von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Anbiederung an Hitler stellt ein unrühmliches Kapitel der Gewerkschaftsgeschichte dar, in der auch Juden eine wichtige Rolle gespielt hatten. Das von den Gewerkschaften auch nach 1945 wieder aufgegriffene Konzept einer Wirtschaftsdemokratie hatte 1928 Fritz Naphtali entwickelt. Er wanderte kurz nach der "Machtergreifung" nach Palästina aus und wirkte nach 1948 im jungen Staat Israel als Politiker, unter anderem als Minister.

Die Reichsvertretung der Deutschen Juden

Konnte sich unter diesen Umständen noch jüdisches Leben entfalten? Trotz aller Bedrängnisse bewiesen die deutschen Juden Kraft und Stärke und behaupteten ihre jüdische Identität gegenüber der NS-Ausschließungspolitik. Vereinzelt schlossen sich Juden den linken Widerstandsgruppen an. Trotz divergierender Zielsetzungen innerhalb des Judentums kam es am 17. September 1933 mit der Gründung der "Reichsvertretung der Deutschen Juden" (RV) zu einer gemeinsamen jüdischen Organisation auf Reichsebene. Vor 1933 waren alle Anläufe in diese Richtung gescheitert, da die Organisation jüdischen Lebens weitgehend bei den Gemeinden und ihren Landesverbänden gelegen hatte. Auch die politischen Formationen, der CV, die Zionistische Vereinigung und der Reichsverband jüdischer Frontkämpfer, taten sich schwer bei dem Zusammenschluss zu einer gemeinsamen Organisation, da sie unterschiedliche Strategien der Selbstbehauptung betrieben: vom Konzept einer Akkulturation trotz aller Schwierigkeiten bis zur ultimativen Forderung der Emigration reichten die Vorschläge. Nur die ultraorthodoxen Verbände sowie der ultrakonservative "Verband nationaldeutscher Juden" schlossen sich der RV nicht an. Obgleich von Staatsseite offiziell zunächst nicht anerkannt, wurde die Reichsvertretung unter ihrem Präsidenten Leo Baeck zur wirksamen Vertretung gegenüber dem Staat und zur effektiven Organisation jüdischen Lebens in dieser harten Zeit.
Bis 1938 konnte die Reichsvertretung recht erfolgreich arbeiten. Unter dem Zwang des NS-Staates wurde sie im Juli 1939 per Gesetz zur "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" umgewandelt. Aus dem bisherigen freiwilligen Zusammenschluss wurde nun eine vom NS-Regime befohlene Zwangsvereinigung, der sich alle jüdischen Organisationen und Gemeinden anzuschließen hatten. Die Leitung der Reichsvereinigung wurde von den NS-Behörden ernannt und war der Kontrolle der Gestapo unterworfen. Sie diente nun gleichsam als Durchsetzungsinstanz der staatlichen Vorgaben. Zwangsmitglieder waren nun alle Juden nach der Definition der Nürnberger Gesetze, also auch die Orthodoxen und die Gruppe, die sich nicht zum jüdischen Glauben bekannte. Die Letztere machte ungefähr 8,5 Prozent der Gesamtgruppe aus.

Jüdische Selbstbehauptung

Die RV konzentrierte sich nach ihrer Gründung auf die Kulturarbeit, die Sozialaufgaben sowie die Auswanderungsprobleme. Einen wichtigen Akt jüdischer Selbstbehauptung stellte die Gründung des Kulturbundes dar. Die durch das Berufsbeamtengesetz arbeitslos gewordenen Künstler schufen im Juli 1933 "mit Genehmigung der Regierungsbehörden" in Berlin den "Kulturbund deutscher Juden". Ab Mai 1935 unterstand er dem Reichspropagandaministerium, das im Ausland die Einrichtung des Kulturbundes als "humanitären Akt" anpries. Mit der Gründung des Kulturbundes wollten dessen Institutionen einmal den von den deutschen Bühnen ausgeschlossenen Künstlern eine Wirkungsstätte schaffen und zum anderen als Alternative zu den immer stärker durch die NS-Propaganda bestimmten Bühnenrepertoires einen Bezug zu jüdischen Themen bieten. Die jüdische Bevölkerung nahm dieses Angebot mit Begeisterung an. Man wurde per Abonnement Mitglied. Im Januar 1934 waren es bereits 20000, die vor allem in Berlin das Theater-, Opern- und Konzertangebot wahrnahmen. Neben Berlin entstanden in anderen Großstädten analoge Organisationen, die auch in der Provinz Vorstellungen anboten. Die begeisterte Aufnahme des explizit auf das Judentum bezogenen Kulturbundangebots zeugt von der Besinnung auf die jüdische Kulturtradition, denn noch waren (bis 1938) Besuche von öffentlichen und allgemeinen Bühnen- und Kinovorstellungen für Juden nicht verboten.
Im Repertoire des Kulturbundes waren primär die Stücke klassischer sowie ausländischer jüdischer Autoren. Nach dem Pogrom 1938 wurden für die Aufführungen des Kulturbundes "arisch"-deutsche Autoren und Komponisten verboten. Gespielt werden durften nur noch jüdische oder ausländische Autoren und Komponisten. Bis zur offiziellen Schließung im August 1939 waren auf den Bühnen des Kulturbundes 56 Autoren aufgeführt worden, davon waren knapp zwei Drittel Nichtjuden. Ab Juli 1939 war der Kulturbund organisatorisch der Reichsvereinigung unterstellt, bevor er im September 1941 durch die Gestapo aufgelöst wurde. Noch im Winter 1940/41 bot der Kulturbund acht große Konzerte reichsweit an, die 18-mal aufgeführt wurden. Von einer Besinnung auf das Judentum zeugt auch der zahlreiche Besuch von Vorträgen zur jüdischen Geschichte und Kultur, die in fast allen jüdischen Gemeinden abgehalten wurden, ferner das breite Angebot jüdischer Verlage zu jüdischen Themen, vor allem zur Geschichte. Bis Ende 1941 förderte die Reichsvertretung die Forschungen zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in Deutschland, die in der Reihe "Germania Judaica" publiziert wurden.
Eine große Leistung jüdischer Selbsthilfe stellte die Beschulung jüdischer Kinder dar. Zwar durften diese bis 1938 noch die öffentlichen Schulen besuchen, waren dort aber dem psychischen Druck von Lehrern und Mitschülern ausgesetzt. Deshalb sorgten jüdische Eltern, die bis dahin den Besuch öffentlicher Schulen ihrer Kinder befürwortet hatten, für die Schaffung jüdischer Schulen, in denen ihre Kinder ungestört lernen und sich entfalten konnten. Die Behörden bzw. die einzelnen Schulleiter halfen der Verdrängung jüdischer Schüler aus den öffentlichen Schulen nach, um ihre Schulen "judenfrei" zu bekommen. Besuchten 1933 noch 75 Prozent der jüdischen Kinder öffentliche Schulen, so waren es Ende 1937 nur noch knapp 40 Prozent. Ab 1939 durften jüdische Schüler nur noch jüdische Schulen besuchen.
Die Lehrplan-Vorgaben durch die Reichsvertretung waren zunächst auf eine Erziehung in zwei Kulturkreisen, dem deutschen wie dem jüdischen, abgestellt; doch wurden die Bestimmungen im Lauf der Zeit immer stärker auf das Ziel ausgerichtet, die Kinder als bewusste Juden zu erziehen, "mit allem Stolz und aller Entbehrung, die damit verbunden sind". Mit insgesamt 167 Schulen, etwa 1200 Lehrern und 23 670 Schülern erreichten 1937 die jüdischen Schulen ihren Höhepunkt. Bedingt durch die Emigration reduzierte sich trotz des Verbots, öffentliche Schulen zu besuchen, das alle jüdischen Kinder zum Besuch jüdischer Schulen zwang, Anfang 1939 die Zahl auf 19800. Im Oktober 1939 waren es dann nur noch 9521. Am 30. Juni 1942 mussten die letzten jüdischen Schulen geschlossen werden.
So bedeutend der Bereich Bildung und Kultur nach 1933 für die jüdische Selbstbehauptung war - die noch größeren Leistungen wurden im Bereich Wohlfahrt und Auswanderungsvermittlung erbracht. Die Sozialversorgung bedeutete eine ungeheure Belastung, da über 66 Prozent der noch in Deutschland lebenden Juden über 45 Jahre alt waren und weitgehend von Ersparnissen, Sozialrenten und Wohlfahrtsunterstützung ihren Unterhalt bestreiten mussten. Zur Sozialversorgung gehörte auch die Förderung der Kleinbetriebe, deren wirtschaftliche Existenz immer unsicherer wurde. Sie sollten vor allem jüdische Arbeitslose beschäftigen. Durch ein Arbeitsvermittlungsinstitut der Reichsvereinigung konnten etwa 27000 Stellen vermittelt werden. Da insbesondere die Jüngeren auswanderten, stieg die Zahl der hilfsbedürftigen Alten, die durch die Zentralwohlfahrtsstelle, aber auch durch die noch existierenden Sozialeinrichtungen der Gemeinden versorgt werden mussten. Für die jüdische Winterhilfe mussten deshalb alle jüdischen Lohn- und Gehaltsempfänger zehn Prozent der Lohnsteuer entrichten. Zusammen mit Spenden erbrachte dies 1935 die Summe von etwa 3,7 Millionen Reichsmark. 1937/38 waren ungefähr 21 Prozent der Juden hilfebedürftig. Spenden ausländischer Juden wurden vor allem in der Ausbildung für Auswanderer verwendet.

Auswanderung mit Hindernissen

Die Frage: auswandern oder bleiben? wurde für viele zur lebensentscheidenden Frage. Für die Auswanderer gab es drei Organisationen, die bis 1939 104000 Auswanderungswillige berieten. Am besten organisiert war die zionistische Emigration, die primär auf Palästina ausgerichtet war. Doch wurde die Auswanderungsmöglichkeit nach dort durch die britische Mandatsmacht eingeschränkt, die im Auftrag des Völkerbundes die Region verwaltete. Wegen der wachsenden Konflikte im Mandatsgebiet wollte Großbritannien die Einwanderung gering halten, so dass ein Drittel der Anträge abgelehnt wurde. Insgesamt gelang zwischen 1933 und 1940 55000 Auswanderern aus Deutschland die Einreise nach Palästina. 23000 kamen über ein so genanntes Arbeitszertifikat, das die erhielten, die einen für Palästina wichtigen Beruf ausübten, etwa in der Landwirtschaft. 20000 Auswanderer waren so genannte Kapitalisten: Das bedeutete, sie verfügten über ein Kapital von 1000 Pfund (=12000 RM). Für beide Zertifikate existierte eine Quote zur Begrenzung. Eine besondere Einwanderergruppe bildeten die 5300 Jugendlichen, die ohne Eltern kamen. Sie waren weitgehend in Deutschland auf Arbeitshöfen, so genannten Hachschara-Lehrgütern, auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet worden.
Schon seit 1931 gab es in Deutschland Bestimmungen, die einen freien Kapitalverkehr von Deutschland ins Ausland verhinderten. Nachdem, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, zahlreiche Kredite aus dem Ausland, die in Deutschland festgelegt worden waren, zurückgefordert wurden, führte die Regierung Brüning eine Devisenzwangswirtschaft ein. Diese sollte verhindern, dass auch in Deutschland festgelegtes Privatkapital ins Ausland transferiert würde. Die NS-Regierung behielt nach 1933 die Devisenzwangswirtschaft bei und baute sie noch weiter aus. Das bedeutete, dass die von der britischen Mandatsmacht geforderten 12000 RM nicht ohne Weiteres nach Palästina transferiert werden konnten. Der Jewish Agency, der Vertretung der Juden in Palästina, gelang es, mit der deutschen Regierung ein Transfergeschäft, das so genannte Ha'avara-Abkommen, auszuhandeln: Die Auswanderer zahlten ihre Summe auf ein Sonderkonto ein, für deren Gegenwert die deutsche Wirtschaft Waren nach Palästina lieferte. In Palästina wurde dann die entsprechende Summe an die Einwanderer ausgezahlt. Der Transferverlust, der durch die deutsche Regierung bestimmt wurde, betrug bis 1936 15 Prozent, von 1936 bis 1939 jedoch 70 Prozent. Für andere Auswanderungsländer machte er bereits 1934 60 Prozent aus, 1939 lag der Satz bei fast 100 Prozent. Das heißt, die Auswanderer bekamen im Zielland 15 bzw. 70 Prozent weniger, als sie in RM eingezahlt hatten. Nach 1938 kam für alle Auswanderer, die über 50000 RM besessen hatten, die so genannte Fluchtsteuer in Höhe von einem Viertel des Vermögens hinzu.

Nach Schätzungen emigrierten circa drei Fünftel der Juden, die 1933 im "Altreich", das heißt im Reichsgebiet ohne das 1938 angeschlossene Österreich, wohnten. Das beliebteste Zielland, soweit sich die Möglichkeit eröffnete, waren die USA. Diese nahmen bis 1941 113 260 jüdische Auswanderer aus Deutschland und aus Österreich auf; Palästina folgte mit etwa 70000 bis 80000, Großbritannien mit rund 50000, darunter 10000 Kinder, die 1938 ohne Eltern einreisen durften. Etwa 40000 bis 60000 emigrierten in die südamerikanischen Staaten.

1938 verschärfte sich die NS-Politik gegenüber den Juden. Nach dem "Anschluss" Österreichs im März des Jahres wurde in diesem neuen Reichsteil in wenigen Wochen die totale gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung der dort lebenden Juden herbeigeführt. Noch vor dem Novemberpogrom im Reich kam es in Österreich zur fast vollständigen "Arisierung" der Betriebe, wovon in erster Linie die Großkonzerne IG Farben und Flick profitierten. Jüdische Großunternehmer wurden als "Faustpfand" in Haft genommen, um sie zum Verkauf ihrer Firma zu zwingen. Die österreichischen Juden reagierten auf diese Gewaltmaßnahmen mit einer forcierten Auswanderung: Die Hälfte der circa 110000 Auswanderer flüchtete in die USA, die ihre Einreisebedingungen gelockert hatten, etwa 15000 nach Shanghai, für das kein Einreisevisum vonnöten war und das auch für viele jüdische Flüchtlinge aus dem "Altreich" bis 1941 zum letztmöglichen Fluchtziel wurde.
Auch aus dem "Altreich" nahm in diesem Jahr die Fluchtbewegung stark zu. Viele gingen in die Tschechoslowakei, die allerdings nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939 von den Deutschen annektiert wurde. Damals lebten dort 118000 Juden, von denen sich bis Juni 1940 über 25000 retten konnten. Noch drängten die NS-Behörden auf Auswanderung der deutschen Juden bei weitgehender Einbehaltung ihres Kapitals, das sie im April 1938 detailliert angeben mussten. Der Nettokapitalertrag ergab die Summe von rund sieben Milliarden RM, die der "deutschen Volkswirtschaft" zugute kommen sollte und offensichtlich für die Wiederaufrüstung verplant wurde. Alle noch existierenden "jüdischen Betriebe" wurden registriert, jüdische Ärzte und Rechtsanwälte wurden in ihrer Berufsausübung auf die Behandlung bzw. Vertretung ausschließlich von Juden beschränkt. Alle Juden erhielten in ihren Pässen ein "J" als Vermerk, ab 1939 mussten sie ihrem Vornamen je nach Geschlecht den Namen Israel bzw. Sara hinzufügen.

Das Novemberpogrom

Am 28. Oktober 1938 verfügte die deutsche Regierung die Ausweisung der im Reich lebenden 18000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, da die polnische Regierung die Grenzen für diese Bevölkerungsgruppe zu schließen drohte. Für 8000 dieser gezwungenen Rückwanderer blieb die polnische Grenze verschlossen. Sie mussten bei Regen und Kälte im Niemandsland dahinvegetieren, notdürftig versorgt von polnischen jüdischen Hilfsorganisationen. Dies veranlasste den 17-jährigen in Paris lebenden Herschel Grynszpan, dessen Eltern sich unter dieser Gruppe befanden, in der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath zu verüben. Dessen Tod nutzte Propagandaminister Goebbels, um zur Vergeltung dieser Tat am 9. November 1938 zum Pogrom in Deutschland aufzurufen. SA- und SS-Mitgliedertruppen zündeten über 1000 Synagogen und Häuser jüdischer Einrichtungen an und verschleppten circa 30000 Juden in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Dass es bei diesem Pogrom dem NS-Staat auch darum ging, sich den noch verbliebenen Besitz der Juden anzueignen, zeigten der Prozess der erzwungenen "Arisierung" der jüdischen Betriebe, die Einbehaltung der Versicherungsleistungen für die verursachten Brandschäden sowie die 1,2 Milliarden RM "Sühneleistungen", die die deutschen Juden zu entrichten hatten. Das Vermögen der über 110000 Juden, die 1938/39 auswanderten, wurde vom Staat beschlagnahmt. Bei den Auswanderern handelte es sich vielfach um Inhaftierte des Novemberpogroms, die nur freikamen, wenn sie sich zur Auswanderung verpflichteten. Viele, die kein Visum bekommen konnten, versuchten vor allem, ihre Kinder zu retten. Großbritannien hatte sich bereit gefunden, 10000 Kinder aufzunehmen.
Die nichtjüdische Bevölkerung hatte - von Einzelpersönlichkeiten abgesehen - das Novemberpogrom protestlos hingenommen, viele hatten die Zwangsarisierungen begrüßt. Die NS-Regierung befürchtete jedoch Beunruhigung unter den "arischen" Verwandten der etwa 20500 in "Mischehen" lebenden nichtjüdischen Ehepartner, da diese seit den Nürnberger Gesetzen wie Juden behandelt worden waren. Göring unterschied deshalb im Dezember 1938 durch Erlass zwischen "privilegierten" und "nicht-privilegierten Mischehen". Unter die "Nicht-privilegierten" fielen alle Paare mit jüdischem Ehemann, die keine Kinder hatten bzw. deren Kinder jüdisch erzogen worden waren. Als "privilegiert" galten alle Ehepaare, bei denen die Frau jüdisch war, die Kinder aber nicht jüdisch erzogen worden waren. Die "privilegierten Ehepaare" konnten ihr Vermögen durch dessen Überschreibung auf den nichtjüdischen Partner behalten; sie wurden 1941 von der Verpflichtung ausgenommen, einen Judenstern zu tragen. "Großzügig" bot Göring den "deutschblütigen Frauen" an, sich scheiden zu lassen und in den "deutschen Blutsverband" zurückzukehren.
Mit dem Novemberpogrom 1938 setzte eine neue Phase der NS-Judenpolitik ein. Mit ihren Zwangsmaßnahmen forcierte die Politik die endgültige "Arisierung jüdischen Besitzes", ferner die Auswanderung bei weitgehendem Verlust des Eigentums sowie die Konzentration der noch verbleibenden Juden in "mauerlosen Ghettos". In den Städten wurden die noch verbliebenen Juden in "Judenhäuser" "umgesiedelt", wo sie auf engstem Raum leben mussten und vielfach von NS-Hauswarten schikaniert wurden. Zudem wurden die Lebensmittelzuteilungen für Juden gekürzt.
Nach dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940 diskutierten die NS-Machthaber kurzzeitig den "Madagaskar-Plan": die Deportation der europäischen Juden auf die Insel Madagaskar. Vom Auswärtigen Amt und der SS wurden dafür detaillierte Pläne erstellt. Doch scheiterte die Realisierung dieses Planes. Ob es sich dabei um eine ernsthaft erwogene Option gehandelt hatte, ist in der historischen Forschung mehr als umstritten.

Vernichtung der Juden

Nach der Abkehr vom Madagaskar-Plan richtete die NS-Regierung "Reservate" im besetzten Polen ein, so im Distrikt Lublin, wohin bereits im Februar 1940 1000 Stettiner Juden deportiert worden waren. Eine planmäßige Ermordung war zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht vorgesehen, aber ein "schleichender Völkermord" durchaus ins Kalkül gezogen. Einen Führerbefehl zur Ermordung der Juden hat es nicht gegeben, zumindest wurde bisher keiner gefunden. Eine mögliche mündliche Willenserklärung Hitlers zur Ermordung wurde von der NS-Führung bereitwillig aufgenommen und ausgeführt, als nach dem Sieg über Polen und dem Angriff auf die Sowjetunion Millionen von Juden in den nationalsozialistischen Machtbereich gerieten. Die Deutsche Wehrmacht ließ die SS bei der Liquidierung der Juden bereitwillig gewähren, teilweise waren Wehrmachtssoldaten direkt beteiligt.

Die Wannsee-Konferenz

Im Oktober 1941 begann die Deportation von 53000 Juden aus dem Reich in die Ghettos der Städte Lodz, Minsk, Kowno und Riga in den besetzten osteuropäischen Staaten. 6000 wurden nach der Ankunft vor den Massengräbern, die sie zuvor selbst ausheben mussten, erschossen. Auf der Berliner Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 legten Vertreter von einzelnen Ministerien und NS-Bürokratie Strategien fest, die die Koordination und Organisation der "Endlösung der Judenfrage", wie die Nationalsozialisten ihre Vernichtungspolitik verharmlosend bezeichneten, betrafen.

Nachdem die SS-Mordtruppen zunächst die Ermordungen durch Erschießungen bzw. durch Kohlenmonoxidvergiftungen in mobilen Gaswagen durchgeführt hatten, richteten sie im Herbst 1942 die ersten Gaskammern in Auschwitz-Birkenau ein, in denen sie nun mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B mordeten. Weitere Vernichtungslager waren in Belzec und Chelmno entstanden, ferner in Sobibor (ab Mai 1942), Treblinka (ab Juli 1942) und Majdanek, die im Zuge der "Aktion Reinhardt" errichtet wurden. Dies war der Tarnname für das Vorgehen der NS-Regierung, alle in dem von Deutschland besetzten Polen lebenden Juden und Roma zu ermorden. Der Aktion fielen etwa zwei Millionen Juden und 50000 Roma zum Opfer. Sie erbrachte dem Deutschen Reich zudem große Vermögenswerte in Höhe von circa 18 Millionen Reichsmark aus dem Besitz der Ermordeten - Bargeld, Schmuck, Kleider und Zahngold.
In die deutschen Vernichtungslager im besetzten Polen wurden auch Juden aus dem Reich deportiert. Vielen dieser Deportierten war ihr Schicksal bewusst, die meisten verdrängten es jedoch und glaubten die SS-Lüge von den "Arbeitslagern". Auch in den Konzentrationslagern, die nicht als Vernichtungslager, sondern als angebliche Arbeitslager eingerichtet worden waren, wurden Juden durch schwere Arbeit - wie etwa in den Steinbrüchen des KZ Mauthausen - bewusst getötet. Dies entsprach der in der Wannseekonferenz festgelegten "natürlichen" Vernichtung durch Arbeit. In Mauthausen zum Beispiel kamen über 110000 jüdische Menschen ums Leben. In den Vernichtungslagern wurden die Ankommenden durch SS-Ärzte "selektiert", über 80 Prozent von ihnen gleich nach ihrer Ankunft unter dem Vorwand, in Duschräume geführt zu werden, in den Gaskammern ermordet. Zwischen 3000 und 4000 deutsche Juden begingen vor der Deportation Selbstmord, um diesem Schicksal zu entgehen.

Anfang 1943 gab es im "Altreich" noch circa 51000 Juden. 15000 von ihnen wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt und blieben zunächst mit ihren Familien von der Deportation ausgenommen. Doch nur für kurze Zeit. Die Deportationen liefen bis zum Frühjahr 1945. Auch in den Ghettos, wie in Lodz, mussten die Juden für die Wehrmacht arbeiten. Als angebliches Altersghetto richteten die NS-Machthaber in der tschechischen Stadt Terezin/Theresienstadt ein KZ ein. Es galt als "Vorzeigeghetto", als Stadt, die der Führer den Juden "geschenkt" hatte, wie es in einem NS-Propaganda-Film hieß. Hierher wurden ab Mitte 1942 über 65-jährige Juden sowie "prominente Juden" aus dem Reich deportiert. Ein jüdischer "Ältestenrat" "verwaltete" das Ghetto, was nichts anderes für ihn bedeutete, als die Befehle der NS-Machthaber auszuführen, so auch die Zusammenstellung der Listen derjenigen Inhaftierten, die in das Vernichtungslager Auschwitz verbracht wurden. Das betraf im September und Oktober 1944 18400 Menschen. Zu den KZ-Häftlingen in Theresienstadt gehörte auch Leo Baeck, der, von allen geschätzt und geehrt als Rabbiner, Kranke trösten und Sterbende bis zum Tod begleiten konnte. Nur ein Zehntel der in Theresienstadt Inhaftierten erlebte die Befreiung.

Todesmärsche

Mit der herannahenden Front folgte für die Überlebenden in den deutschen Konzentrationslagern im besetzten Polen ein neues tragisches Kapitel, die so genannten Todesmärsche. Diese "Verlegung" kostete viele das Leben.
Als die Rote Armee zu Beginn des Jahres 1945 in die Nähe von Auschwitz vorstieß, wurde am 17. Januar die Evakuierung der Gefangenen beschlossen. Im Lager Auschwitz waren die Gefangenen auch aus den anderen Vernichtungslagern zusammengefasst worden. 58000 Gefangene wurden aus dem Lager weggeführt. Tausende starben auf diesen Märschen durch Entkräftung oder wurden vom SS-Bewachungspersonal erschossen. Manchen gelang auch die Flucht. Die Gefangenen sollten in die KZ, die im Reich lagen, so in Buchenwald, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Groß Rosen und Mauthausen, eingewiesen werden. Da die beiden letzten Lager und ihre Nebenlager überfüllt waren, wurden die Gefangenen nach Dachau, Dora-Mittelbau, Ravensbrück und Bergen-Belsen, zum Teil in offenen Güterwaggons, weitertransportiert. Mit heranrückender Front wurden auch aus den im Deutschen Reich liegenden KZ die Häftlinge auf Todesmärsche geschickt, darunter waren nicht nur jüdische Häftlinge. Man schätzt, dass von den 741000 KZ-Häftlingen, die es Ende 1944 gab, etwas über 200000 durch die Todesmärsche ums Leben kamen.
Im Holocaust wurden ungefähr 160000 deutsche Juden ermordet, ungefähr 8500 wurden aus den Konzentrationslagern befreit, 15000 haben in Verstecken bzw. als Partner in "Mischehen" oder als Kinder aus diesen Ehen überlebt. Ein weiteres Leben im Land der Mörder schien danach für viele von ihnen unvorstellbar.

Dimensionen der Vernichtung

Lebten 1939 über neun Millionen Juden in Europa, so waren es 1945 nur noch weniger als 3,5 Millionen. Das bedeutet, dass fast 5,7 Millionen Juden ihr Leben durch die Verfolgung und die Morde der Nationalsozialisten verloren hatten. Die größten Verluste erlitt die jüdische Bevölkerung Polens mit fast drei Millionen Ermordeten. Diese statistischen Angaben sagen nichts über das ungeheure persönliche Leid der Betroffenen aus. In der Bevölkerung der besetzten Länder Europas, etwa in den Niederlanden, Belgien, Norwegen, Finnland, Bulgarien und Italien, gab es zahlreiche Menschen, die Mitleid mit den verfolgten Juden bewiesen und mit Protesthandlungen und der Rettung jüdischer Verfolgter ihr eigenes Leben riskierten. Auch in Ländern, in denen es einen Antisemitismus gab, fanden sich Menschen in der Bevölkerung, die Juden retteten, wie aus der Memorienliteratur bekannt ist. Es gab zahlreiche Klöster, die jüdische Kinder versteckten und sie so vor der Ermordung bewahrten. Andererseits kamen beispielsweise beim Warschauer Ghetto-Aufstand, bei dem im April 1943 Ghettobewohner unter Führung von Mordechai Anielewicz der Waffen-SS fünf Wochen lang Widerstand leisteten, polnische Widerstandskämpfer den Juden nicht zu Hilfe. 7000 Menschen wurden bei diesem Aufstand getötet.
Wichtig ist die Feststellung, dass die antisemitische Ideologie und die opportunistische Komplizenschaft in West- und Osteuropa - wenn auch nicht im gleichen Ausmaß und vor dem Hintergrund unterschiedlich brutaler Besatzungsregimes - den Nationalsozialisten in die Hände spielten. Das Verhalten dieser Täter, die mit der SS mordeten, bedeutet für Deutsche keine Entschuldigung für die unter Anleitung der Deutschen begangenen Mordtaten. Deutsche haben den Holocaust herbeigeführt und mit diesem eine menschliche Brutalität begangen, die in der Geschichte keine Parallele hat.

Fussnoten

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lehrte am Historischen Seminar der Universität Hamburg Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Zahlreiche Forschungsprojekte und Veröffentlichungen, u. a. zur deutsch-jüdischen Geschichte, zur Reformationsgeschichte und zur Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit sowie zur Geschichte Schlesiens. Professor Herzig ist u. a. im Kuratorium der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts und Mitglied der Historischen Komission für Schlesien. Kontakt: arno.herzig@uni-hamburg.de