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Versammlungsfreiheit: 40 Jahre Brokdorf-Beschluss | Hintergrund aktuell | bpb.de

Versammlungsfreiheit: 40 Jahre Brokdorf-Beschluss

Redaktion

/ 5 Minuten zu lesen

Mit dem Brokdorf-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht am 14. Mai 1985 Demonstrationsverbote gegen einen AKW-Bau aufgehoben und das Versammlungsrecht in Deutschland bis heute gestärkt.

Proteste gegen den Bau des AKW in Brokdorf im Februar 1977 (© picture alliance / Klaus Rose | Klaus Rose)

Ab 1976 demonstrierten in Brokdorf in Schleswig-Holstein immer wieder teils Tausende Menschen gegen ein geplantes Atomkraftwerk (AKW). Dabei kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Versuche, die Demonstrationen zu verbieten, waren teils erfolgreich, teils wurde ihnen gerichtlich widersprochen. Am 28. Februar 1981 verhängte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg wegen der Gefahrensituation erneut ein Demonstrationsverbot für die ganze Region. Die Demoveranstalter legten noch am selben Tag Verfassungsbeschwerde beim Bundeverfassungsgericht ein. Ein Urteil in der Hauptsache fällte das höchste deutsche Gericht am 14. Mai 1985. Im sogenannten Brokdorf-Beschluss hob Karlsruhe die Demonstrationsverbote gegen den AKW-Bau auf und stärkte damit die Versammlungsfreiheit grundsätzlich. Die Auswirkungen des Brokdorf-Beschlusses sind bis heute spürbar.

Was ist in Brokdorf passiert?

Ab 1976 demonstrierten in Brokdorf in Schleswig-Holstein immer wieder teils Tausende Menschen gegen ein geplantes Atomkraftwerk (AKW). Dabei kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Am 22. Januar 1981 hob ein Gericht einen rund vier Jahre andauernden Baustopp des AKW auf. Für den 28. Februar riefen deshalb AKW-Gegnerinnen und -Gegner zu einer Großdemonstration auf, die am 23. Februar offiziell beim Landratsamt angemeldet werden sollte.

Der Landrat des zuständigen Kreises Steinburg erließ jedoch am selben Tag eine Allgemeinverfügung, die ein Verbot aller gegen das Kernkraftwerk gerichteten Demonstrationen am Baugelände sowie der weiteren Umgebung des AKW für den Zeitraum vom 27. Februar bis zum 1. März vorsah. Die Verfügung sollte sofort vollzogen werden. Das Landratsamt argumentierte, dass bisher keine Anmeldung gemäß dem Versammlungsgesetz erfolgt sei. Zudem sei davon auszugehen, dass es zu Gewalt kommen werde. Die Behörden begründeten ihre Einschätzung unter anderem mit Erfahrungen mit früheren Protestkundgebungen.

Daraufhin gingen die Ausrichter der geplanten Demonstration rechtlich gegen das Verbot vor. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht gab den Klägern am 27. Februar in weiten Teilen Recht und legte fest, dass das Verbot nicht für das gesamte Gebiet gelten dürfe. Doch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg verhängte am 28. Februar erneut ein Demonstrationsverbot für die ganze Region. Das Gericht argumentierte, es bestehe tatsächlich eine Gefahrensituation. Zudem sei seitens des Landrats kein Ermessensfehler ersichtlich. Es sei überdies fraglich, ob eine nicht angemeldete Versammlung unter dem im Artikel 8 des Grundgesetzes verankerten Versammlungsschutz stehe.

Viele Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegner waren jedoch bereits auf dem Weg nach Brokdorf. Die Demonstration fand letztlich statt und war mit bis zu 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern die bis zu diesem Zeitpunkt größte Anti-AKW-Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwischen einem kleinen Teil der Demonstrierenden und der Polizei kam es tatsächlich zu Auseinandersetzungen, zahlreiche Protestierende und Einsatzkräfte der Polizei wurden verletzt.

Zwar legten die Demoveranstalter noch am selben Tag Verfassungsbeschwerde gegen das Demonstrationsverbot beim Bundeverfassungsgericht ein. Der Antrag auf einstweilige Anordnung blieb jedoch erfolglos. Ein Urteil in der Hauptsache fällte das höchste deutsche Gericht am 14. Mai 1985.

Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das Verbot der Demonstrationen war laut Bundesverfassungsgericht nicht rechtens. Die Richterinnen und Richter betonten in ihrem Urteil die immense Bedeutung des Demonstrationsrechts für die politische Willensbildung. Demnach habe der Staat die Aufgabe, überwiegend friedliche Versammlungen zu schützen.

Zwar dürfe das Versammlungsgesetz grundsätzlich genutzt werden, um Demonstrationen zu verbieten. Die Behörden dürften Demonstrationen jedoch nicht automatisch verbieten, nur, weil diese nicht angemeldet sind.

Das Verfassungsgericht legte fest, dass bei sogenannten Spontandemonstrationen, die sich aus einem aktuellen Anlass augenblicklich bilden, keine Anmeldepflicht besteht. Eine Auflösung und ein Verbot darf dem Urteil zufolge nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Versammlungen können beispielsweise aufgelöst werden, wenn diese unfriedlich sind oder in sonstiger Weise die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden.

Der Argumentation, dass im Brokdorf-Fall die Gefahrenlage ein Verbot der Demonstration rechtfertigte, folgte das Bundesverfassungsgericht nicht. Dem Höchsten Gericht zufolge bleibt das Recht zur freien Versammlung für die friedliche Mehrheit eines Demonstrationszugs selbst dann bestehen, wenn mit Ausschreitungen einer Minderheit zu rechnen ist. Wenn der Veranstalter versucht, vertrauensvoll mit Polizei und Behörden zusammenzuarbeiten, liegt die Schwelle für ein behördliches Eingreifen in Demonstrationen in diesem Zusammenhang noch höher als ohnehin schon. Das Verbot einer Demonstration ist aber beispielsweise dann gerechtfertigt, wenn der Veranstalter Gewalt anstrebt oder billigt.

Zudem müssen die Verwaltungsgerichte laut Brokdorf-Beschluss bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ein mögliches Demonstrationsverbot prüfen, weil ein sofortiges Demonstrationsverbot die Grundrechte endgültig einschränkt.

Der Brokdorf-Beschluss gilt als eine zentrale Leitentscheidung zur Versammlungsfreiheit, die bis heute gilt. Das oberste deutsche Gericht betont die zentrale Bedeutung des Demonstrationsrechts für die konkrete Ausgestaltung der Meinungsfreiheit und damit auch für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Diskurses.

Schlaglichter aus der Geschichte des Versammlungsrechts

Die Versammlungsfreiheit wurde von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes an prominenter Stelle geregelt. In Artikel 8, Absatz 1, heißt es: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ In Absatz 2 wird ergänzt, dass das Recht bei Versammlungen unter freiem Himmel beschränkt werden kann. Zwar war die Versammlungsfreiheit bereits in ähnlicher Form in der Weimarer Verfassung verankert. Auch wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Landesverfassungen festgeschrieben. Im Bewusstsein der Bevölkerung und der Justiz der Bundesrepublik spielte sie zunächst jedoch jahrelang eine untergeordnete Rolle.

Am 10. August 1953 trat erstmals ein Versammlungsgesetz in Kraft. Bei diesem stand aufgrund der damals allgegenwärtigen Angst vor einem kommunistischen Umsturz noch der Abschreckungsgedanke im Vordergrund; Verstöße gegen das Gesetz konnten hart bestraft werden.

Auch noch Ende der 1970er-Jahre war das Versammlungsrecht im Vergleich zur heutigen Gesetzeslage noch relativ strikt. Erfolgte die Anmeldung nicht 48 Stunden vor Demonstrationsbeginn, konnte die Versammlung nach Paragraf 15, Absatz 2 des Versammlungsgesetzes aufgelöst werden. Ab den 1980er-Jahren wurde die Rechtsprechung und die konkrete Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit dann auch durch den Brokdorf-Beschluss liberaler.

Da die Versammlungsfreiheit unabhängig von der politischen Ausrichtung der Demonstranten gilt, schützte sie in der Praxis auch friedliche Kundgebungen mit rechtsextremen Teilnehmenden. 2009 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Verbot des Marsches zum "Gedenken an Rudolf Heß" in Wunsiedel rechtens sei, vor allem wegen seines Gewaltpotenzials. Die Richter urteilten jedoch auch, dass die politische Ausrichtung nicht darüber entscheidet, ob man sich versammeln darf. Staatliche Behörden müssten unabhängig vom Versammlungsanliegen und den Veranstaltenden „inhaltlich neutral“ agieren.

Auszüge aus dem heutigen Versammlungsrecht

Das Versammlungsrecht wurde in den letzten Jahren beständig weiterentwickelt und verändert. Es spiegelt auch aktuelle Gegebenheiten und Debatten wieder und ist wie vieles Gegenstand von Interessensabwägungen. So hatten während der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Bundesländer zeitweise auf dem Infektionsschutzgesetz gestützte Versammlungsverbote erlassen.

Die Versammlungsgesetze der Länder

Aufgrund der Föderalismusreform von 2006 liegt die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht heute bei den Ländern. In der Hälfte der Länder gilt noch das Bundesrecht, bis es durch Landesrecht ersetzt wird. Die Länder Berlin, Bayern, Schleswig-Holstein, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben mittlerweile eigene Landesversammlungsgesetze erlassen.

Bürgerrechtsorganisationen kritisieren die aktuellen Versammlungsgesetze in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen teils scharf. Aus Sicht von Amnesty International etwa schränke das 2022 in Kraft getretene Versammlungsgesetz in NRW die Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig ein. Auf Kritik stieß etwa die verschärfte Videoüberwachung sowie das sogenannte Vermummungsverbot. Die Polizei NRW betonte hingegen, das Gesetz vermittle „klare und verständliche Regelungen“ und die Polizei erhalte dadurch „die nötigen Befugnisse, um die Freiheit friedlicher Versammlungen zu schützen“.

Anmeldung einer Versammlung

In acht Bundesländern gilt noch das Versammlungsgesetzt des Bundes. Demnach ist laut Paragraf 14 ein Veranstalter einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel verpflichtet, diese spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe bei der Versammlungsbehörde anzumelden. Die Anmeldung kann laut Bundesrecht formlos, also auch telefonisch oder per Mail, erfolgen. Es müssen jedoch bestimmte Daten wie der Name der anmeldenden Person, das Datum der Versammlung, der Ort, deren Motto und deren zeitlicher Umfang angegeben werden. Durch das Zeitfenster soll sichergestellt werden, dass die Behörden gegebenenfalls Schutzmaßnahmen oder geeignete Verkehrsregelungen erarbeiten können.

Die Versammlungsfreiheit gilt für nicht kommerzielle Kundgebungen, unabhängig von deren politischer Ausrichtung. Das Versammlungsgesetz regelt dabei zahlreiche Rechte und Pflichten für verschiedene Versammlungsarten. So muss jede Versammlung in geschlossenen Räumen einen Leiter haben, der auch störende Teilnehmende ausschließen darf. Bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel kann es zu Verboten oder Auflagen kommen, wenn diese etwa an einem Ort stattfinden, der als „Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert“. Immer verboten sind auch Versammlungen in „befriedeten Bannkreisen der Gesetzgebungsorgane“, zum Beispiel dem Bundestag.

Die Rahmenbedingungen für u.a. Gottesdienste, Hochzeitsgesellschaften und hergebrachte Volksfeste unterliegen aber zum Beispiel anderen Regeln.

Flashmobs und Sitzblockaden

Versammlungen umfassen nicht nur klassische Demonstrationen, sondern etwa auch Flashmobs oder friedliche Sitzblockaden: 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Sitzblockade nicht zwangsläufig als Gewalt anzusehen ist. Wenn eine solche politisch motiviert und friedlich ist, ist sie durch das Grundgesetz gedeckt. Dies wird von Fall zu Fall geprüft. Die Sitzblockaden der „Letzten Generation“ auf vielbefahrenen Straßen werden beispielsweise öffentlich und juristisch kontrovers diskutiert. Einige deutsche Gerichte argumentierten, dass diese nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt seien, weil infolge des Sitzens die erste Reihe der Fahrzeuge anhalten muss und für alle nachfolgenden Fahrzeuge ein Hindernis darstellt. Dies sei Gewalt im Sinne des § 240 StGB. Andere Stimmen bezweifeln dies und sprechen sich für eine Reform des Gewaltbegriffs aus.

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