Der Völkermord von Srebrenica gilt als das größte Kriegsverbrechen auf europäischen Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten unter Führung des Militärchefs Ratko Mladić die Stadt Srebrenica ein. Sie töteten in den darauffolgenden Tagen Tausende Bosniaken - muslimische Bosnier -, vor allem Männer und Jungen. Mittlerweile sind die Namen von 8.372 Opfern bekannt. Trotz anhaltender Bemühungen konnten bisher noch nicht alle Opfer gefunden und identifiziert werden.
Der Zerfall Jugoslawiens
Anfang der 1990er Jahre begann der Interner Link: Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien. Vier von sechs Teilrepubliken der „Sozialistischen Föderativen Republik“ erklärten sich für unabhängig: Slowenien und Kroatien (1991), Mazedonien (1991) sowie Bosnien und Herzegowina (1992). Nur Serbien und Montenegro blieben im gemeinsamen Staat Jugoslawien.
Vor allem serbische Nationalisten versuchten, den Zerfall Jugoslawiens zu verhindern, da viele Serben über das gesamte Jugoslawien verteilt lebten. Sie befürchteten, in neuen Nationalstaaten zur Minderheit zu werden. In der Folge entbrannte ein Krieg, in dem die Jugoslawische Volksarmee, die unter serbischer Kontrolle stand, gegen die Unabhängigkeitsbewegungen kämpfte. Gleichzeitig verschärften sich in den Teilrepubliken die Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, was zu weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen führte.
Die Eskalation in Bosnien und Herzegowina
Interner Link: Bosnien und Herzegowina war besonders vielfältig zusammengesetzt: laut einer Volkszählung von 1981 lebten dort vor allem bosnische Muslime (39,5 Prozent), bosnische Serben (32 Prozent) und bosnische Kroaten (18,4 Prozent).
Die meisten bosnischen Muslime befürworteten einen unabhängigen Staat. Viele der kroatischen Bosnier wollten wiederum eine Vereinigung mit Kroatien. Die bosnischen Serben lehnten dies ab. Ihre politische Führung, die Serbische Demokratische Partei (SDS), wollte entweder den Verbleib in einem serbisch dominierten Jugoslawien oder die Abspaltung serbischer Gebiete mit dem Ziel einer späteren Vereinigung mit Serbien. Im Frühjahr 1992 fand auf Initiative muslimischer und kroatischer Parteien ein Referendum über die Unabhängigkeit statt. Die bosnischen Serben boykottierten die Abstimmung auf Aufruf der SDS. Bereits im Januar 1992 hatte die SDS die Gründung einer eigenen serbischen Teilrepublik verkündet: der „Republika Srpska“.
Nach dem mehrheitlichen „Ja“ zur Unabhängigkeit eskalierte die Situation: In kurzer Zeit weiteten sich die Unruhen zu einem Bürgerkrieg aus. Serbisch-bosnische Truppen unter der politischen Führung von Radovan Karadžić, unterstützt durch die Regierung in Belgrad unter Präsident Slobodan Milošević, rückten militärisch rasch vor. Sie kontrollierten bald rund zwei Drittel Bosnien und Herzegowinas. Aus diesen Gebieten vertrieben sie Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Srebrenica, ein kleiner Ort im Osten von Bosnien und Herzegowina nahe der Grenze zu Serbien, wurde nach Ausbruch des Bürgerkriegs zur Zufluchtsstätte vor allem für bosnische Muslime. Die Vereinten Nationen hatten das Gebiet zur UN-Sicherheitszone erklärt, in der niederländische Truppen Sicherheit gewährleisten sollten.
Systematische Ermordung von mehr als 8.000 Menschen
Ab dem 6. Juli 1995 startete die Armee der Republika Srpska ihre Offensive auf Srebrenica. Am Nachmittag des 11. Juli nahmen die bosnisch-serbische Truppen unter der militärischen Führung des Generals Ratko Mladic den Ort ein.
Viele muslimische Einwohnerinnen und Einwohner versuchten, sich in der UN-Militärbasis im sechs Kilometer entfernten Dorf Potočari in Sicherheit zu bringen. Am Abend des 11. Juli drängten sich bis zu 25.000 Menschen um die Militärbasis in Potočari, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Alte. Nahrung und Wasser wurden in der erdrückenden Juli-Hitze knapp. 10.000 bis 15.000 Männer in wehrfähigem Altern versuchten, durch die Wälder in bosnisch-muslimisch kontrollierte Gebiete zu entkommen.
Währenddessen rückten die Einheiten unter der Führung von Mladić von Srebrenica nach Potočari vor. Am 12. und 13. Juli begannen die Soldaten dort, die bis zu 1.000 Männer von den Frauen und Kindern zu trennen. Sie gaben vor, nach Kriegsverbrechern zu suchen. Frauen und Kinder wurden auf Lastwagen und in Bussen abtransportiert und bis kurz vor bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet gebracht. Die zurückgebliebenen Männer, die meisten von ihnen im wehrfähigen Alter, wurden von Mladićs Männern an verschiedenen Orten hingerichtet und verscharrt. Laut dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) beobachteten niederländische UN-Soldaten in Potočari, wie bosnisch-muslimische Männer aus der Menge abgeführt und in Lastwagen verladen wurden, griffen jedoch nicht ein.
Auch die Kolonne der bosnisch-muslimischen Männer in den Wäldern wurde von bosnisch-serbischen Truppen unter Beschuss genommen. Nur ein Drittel der Männer erreichte sein Ziel. Die meisten wurden in den folgenden Tagen gefangen genommen, hingerichtet und vergraben .
Um den Massenmord an den mehr als 8.000 Menschen zu verschleiern, hoben die Täter einige Gräber später wieder aus und verteilten die menschlichen Überreste auf andere Gebiete. Das Umbetten der Leichen fand auch nach Ende des Krieges noch statt.
20 Verfahren am Strafgerichtshof
Gestützt auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurde 1993 mit Resolution 827 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) in Den Haag geschaffen. Er sollte Genozid, Kriegsverbrechen, Verstöße gegen die Genfer Konventionen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Jugoslawien-Kriege ahnden.
Mehrere tausend Zeuginnen und Zeugen berichteten vor dem ICTY fast 11.000 Prozesstage lang über schrecklichste Gräueltaten des Jugoslawien-Krieges. Das sogenannte Jugoslawien-Tribunal wurde Ende 2017 nach seinem letzten Urteil geschlossen. Bis dahin wurde gegen 161 hochrangige Politiker, Militärs und Polizeiangehörige der verschiedenen Parteien des Bürgerkriegs Anklage erhoben. 93 von ihnen wurden verurteilt.
20 der 161 Angeklagten wurden auch wegen Verbrechen in Srebrenica vor Gericht gestellt, darunter der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević. Der herzkranke Politiker starb jedoch im März 2006, bevor ein Urteil gefällt werden konnte. Radislav Krstić, General bei den bosnisch-serbischen Truppen, wurde wegen Beihilfe zum Völkermord zu 35 Jahren Haft verurteilt. 2016 verurteilte das Tribunal den bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić zu 40 Jahren Haft – im Berufungsverfahren wurde das Strafmaß auf lebenslänglich erhöht. Karadžić verbüßt derzeit seine Haftstrafe in Großbritannien.
Der serbische General Mladić, der als Hauptverantwortlicher des Massakers gilt, wurde Ende 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im Gegensatz zu den Urteilen des ICTY , die sich gegen Einzelpersonen richteten, gab es auch einen Gerichtsprozess zwischen Staaten: Bosnien und Herzegowina klagte 1993 vor dem Internationalen Gerichtshof (ICJ) gegen Serbien (als Nachfolgestaat Jugoslawiens) wegen Verstoßes gegen die UN-Völkermordkonvention. In seinem Urteil von 2007 erkannte der ICJ zwar an, dass in Srebrenica ein Völkermord begangen wurde, die Verantwortung dafür konnte jedoch nicht den staatlichen Organen Serbiens zugerechnet werden. Gleichzeitig stellte das Gericht jedoch fest, dass Serbien gegen seine Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord verstoßen habe, da es die Massaker in Srebrenica nicht verhinderte.
Mitschuld der niederländischen Blauhelmsoldaten?
Die mutmaßliche Mitschuld niederländischer Blauhelmsoldaten am Massaker wurde in den vergangenen Jahren vielfach diskutiert und von der Opferorganisation „Mothers of Srebrenica“ vor niederländischen Gerichten eingeklagt. Ein niederländisches Gericht sprach dem Staat 2014 erstmals eine Mitschuld am Tod von rund 350 muslimischen Männern zu. Das Berufungsgericht bestätigte 2017 diese Verantwortung und legte die Haftung auf 30 Prozent fest. Der Oberste Gerichtshof reduzierte diesen Haftungs-Anteil 2019 auf 10 Prozent. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande urteilte, dass die Chance gering aber nicht ausgeschlossen gewesen sei, dass der Tod von den 350 bosnisch-muslimischen Männern hätte verhindert werden können, wenn die Blauhelme ihnen erlaubt hätten, im Militärlager in Potočari zu bleiben.
Der niederländische Premierminister Mark Rutte entschuldigte sich im Jahr 2022 im Namen der niederländischen Regierung bei den Soldaten: Sie seien mit einem „unmöglichen Auftrag“ in das Bürgerkriegsgebiet in Bosnien geschickt worden. So war zum Beispiel völlig unklar , ob die niederländischen Blauhelme generell mehr hätten leisten dürfen als reine Selbstverteidigung. Im selben Jahr entschuldigte sich die niederländische Regierung erstmals auch offiziell bei den Angehörigen der Opfer von Srebrenica. Im Jahr 2021 hatte die niederländische Regierung bereits eine Entschädigungskommission für die Opfer eingerichtet. Im Juli 2024 legte die Kommission ihren Abschlussbericht vor und gab bekannt, dass 2.337 Zahlungen für die Tötung von 611 Opfern geleistet wurden.
Kontroversen um die Anerkennung des Völkermords in Srebrenica
Bis heute weigern sich politische Vertreterinnen und Vertreter der Republika Srpska, einer der beiden verfassungsmäßigen Entitäten von Bosnien und Herzegowina, sowie hochrangige serbische Politikerinnen und Politiker, die Verbrechen in Srebrenica als Genozid anzuerkennen. Wie der Externer Link: Srebrenica Genocide Denial Report 2023 des Gedenkzentrums in Potočari dokumentiert, gehört insbesondere Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, zu den prominentesten Stimmen der Genozidleugnung. Auch innerhalb der lokalen Gemeinschaft in Srebrenica wird der Völkermord weiterhin geleugnet oder relativiert, insbesondere durch den Bürgermeister von Srebrenica, Mladen Grujičić.
Für kontroverse Debatten sorgte im Mai 2024 die Abstimmung für jene UN-Resolution, mit der ein „Internationaler Tag des Nachdenkens und Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica“ beschlossen wurde. Anders als in solchen Fällen oft üblich enthielten sich 68 Länder, 19 stimmten gegen den Entwurf – darunter Serbien, Russland, China und Ungarn. 84 von 193 UN-Mitgliedstaaten votierten erfolgreich für die Einführung eines solchen Gedenktages.
Die serbische Regierung stellte sich deutlich gegen die Resolution. Präsident Aleksandar Vučić äußerte im Vorfeld die Sorge, dass sein Land kollektiv verantwortlich gemacht werde und sprach von einem „Messer in den Rücken“, das man Serbien rammen wolle. In der Resolution geht es jedoch nicht um die Schuldfrage. Weder Serbien noch die Republika Srpska werden in dem Text erwähnt. Laut Deutschlands UN-Botschafterin Antje Leendertse gehe es bei der Resolution darum, der Opfer zu gedenken, das Leugnen des Genozids und die Glorifizierung der Täter zu verurteilen. Deutschland führte gemeinsam mit Ruanda die Staaten an, die den Resolutionsentwurf in die Generalversammlung eingebracht hatten.
General Krstić gibt Genozid zu
Im November 2024 bekannte sich der frühere bosnisch-serbische General Radislav Krstić erstmals öffentlich zum Völkermord von Srebrenica. Krstić gilt als einer der wichtigsten Helfer von Ratko Mladić und ist der erste Spitzenmilitär aus Serbien oder der Republika Srpska, der diese Einordnung vornahm. In einem über seinen Anwalt veröffentlichten Brief nannte er das Massaker ein „unvorstellbares und unverzeihliches Verbrechen“ und sprach von täglicher Reue.
Parallel zur Veröffentlichung seines Briefes stellte er einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Die Präsidentin des Internationalen Residualmechanismus, Graciela Gatti Santana, lobte sein Eingeständnis, lehnte die Entlassung jedoch mit Verweis auf fehlende Resozialisierung ab. Krstić sitzt seine Reststrafe derzeit in Estland ab.
Gedenken zum 30. Jahrestag
Zum 30. Jahrestag des Massakers von Srebrenica sind weltweit Gedenkveranstaltunge n geplant. Während im UN-Hauptquartier in New York bereits am 8. Juli an den Völkermord erinnert wurde, soll am 11. Juli auch im Deutschen Bundestag der Opfer des Völkermords gedacht werden . In Bosnien-Herzegowina ist eine große Gedenkveranstaltung in Potočari geplant, zu der etwa 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem In- und Ausland erwartet werden.
Hinweis: Dieser Hintergrund-Text stammt ursprünglich aus dem Juli 2020 und wurde am 10. Juli 2025 aktualisiert. Hierbei wurde insbesondere die Schilderung der aktuellen Lage angepasst.
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