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Brexit | bpb.de

Brexit

R. Sturm

Der B. (Wortneubildung aus »British« und »exit«) beschreibt den Prozess des EU-Austritts Großbritanniens. Am 23.6.2016 stimmten im Vereinigten Königreich (UK) 51,9 % der Abstimmenden bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 % für den Austritt des Landes aus der EU. Hinter diesen Zahlen verbergen sich starke regionale Unterschiede des Abstimmungsverhaltens, Unterschiede der Präferenzen zwischen jüngeren (pro EU) und älteren Wählern sowie zwischen den Einwohnern Londons und den Menschen im Norden und auf dem Lande. Während London, Schottland und Nordirland und Gibraltar mehrheitlich für den Verbleib in der EU votierten, fanden die EU-Gegner in England und Wales eine Mehrheit.

Das B.-Referendum hatte seine Wurzeln in der innerparteilichen Auseinandersetzung der Konservativen Partei um die Europapolitik. David Cameron als Parteivorsitzender und später auch als Premierminister stand einer Konservativen Partei vor, in der es kaum noch einflussreiche Befürworter der europ. Integration gab. Die innerparteiliche Konfliktlinie verlief zwischen EU-Skeptikern und EU-Gegnern. Das Ziel, die Konservative Partei zu einen, wurde von Cameron mit Konzessionen an die EU-Gegner verfolgt. Im Januar 2013 kündigte Cameron in seiner im Hauptquartier des Medienunternehmens Bloomberg in London gehaltenen Rede die Neuverhandlung der EU-Mitgliedschaft und ein Referendum über das Verhandlungsergebnis spätestens 2017 an. Nach seinem Wahlsieg 2015 setzte Cameron sein Versprechen um. Anders als von Demoskopen vorhergesagt und von der parlamentarischen Mehrheit erwartet, siegten die EU-Gegner in einem B.-Wahlkampf, den weitgehend das Thema Einwanderung bestimmte.

Das Referendum hatte nicht die gewünschten innenpolitischen Folgen. Der Streit in der Konservativen Partei wurde zunächst nicht beigelegt. Parteiaustritte und der Rücktritt von Theresa May, der Nachfolgerin David Camerons im Amt des Premierministers, waren Stationen im Machtkampf um den Parteivorsitz der Konservativen Partei. Dieser Machtkampf wurde vorläufig beendet mit Boris Johnsons innerparteilichem Wahlsieg und seinem Amtsantritt als Premierminister. Die Konservative Partei wurde so zur B.-Partei. Bühne des Machtkampfs war das Parlament, das darauf beharrte, den B. in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu beschließen. Die Haltung der konservativen Regierungen zur Selbstbehauptung des Parlaments hat das Vereinigte Königreich in eine Verfassungskrise gestürzt. Hier gibt es keine geschriebene Verfassung, das Parlament hat das letzte Wort. Dieses Wort sollte nun nichts mehr gelten. Das Referendumsergebnis und damit »Volkes Stimme« wurde aus taktischen Gründen von den konservativen Regierungen gegen das Parlament in Stellung gebracht. Die mit dem Referendumsergebnis verknüpfte Idee der »Volkssouveränität« ist nicht mit der britischen Verfassungsdoktrin der »Parlamentssouveränität« vereinbar. Ein wichtiges Argument der B.-Befürworter war übrigens, man müsse aus der EU austreten, um die unteilbare Parlamentssouveränität wieder herzustellen, die durch Souveränitätstransfer an die EU beschädigt sei – ein Argument, das von ihnen im politischen Meinungskampf ignoriert wurde.

Aber nicht nur Regierung und Parlamentsmehrheit kamen in Konflikt. Das B.-Thema, das zum alles bestimmenden Thema der britischen Politik wurde, hat auch zu einer Spaltung der britischen Gesellschaft geführt. Hinzu kommt das Wiederbeleben regionaler Gegensätze, wie der Forderung der schottischen Regierung, um in der EU bleiben zu können, müsse Schottland unabhängig werden. Alle Experten sind sich einig, dass der B. für das Vereinigte Königreich großen Schaden anrichten wird. Die Regierung Johnson hat sich bisher geweigert, eine Kostenschätzung zu dem 2019 verhandelten Austrittsabkommen zu veröffentlichen. Vieles muss vage bleiben, weil niemand das künftige Handelsabkommen des Vereinigten Königreichs mit der EU kennt.

Obwohl es den Brexit noch gar nicht gibt, nehmen die B.-Befürworter die gegenwärtige Wirtschaftslage als Beweis für dessen positive Folgen. Ernsthaft wurde über einen »hard B.« nachgedacht, also einen Brexit ohne Konzessionen in der Handels- und der Einwanderungspolitik an die EU verbunden mit dem Vertrauen auf WTO-Regeln. Aber auch für die Welthandelsorganisation gilt, dass die selbständige Mitgliedschaft in der WTO (im Augenblick ist das Vereinigte Königreich noch Mitglied via EU, Stand: Ende 2019) komplexe Anpassungsprozesse erfordert. Ein »hard B.« würde eine Absage an die bestehenden Modelle der Kooperationsbeziehungen der EU mit anderen europ. Staaten bedeuten. Solche sind Grundlage:

1. des Modells Norwegen/Island/Liechtenstein. Das Vereinigte Königreich wäre – würde es dieses Modell präferieren – Mitglied in der europ. Freihandelszone, die wiederum durch den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit der EU verbunden ist. Damit einher ginge der Zugang zum Binnenmarkt mit Ausnahme einiger Bereiche der Finanzdienstleistungen. Großbritannien müsste aber EU-Regeln für Landwirtschaft, Fischerei, sowie Innen- und Justizpolitik nicht übernehmen. Allerdings bedeutet das Modell weiterhin die Mitfinanzierung der EU und das Beachten der Freizügigkeitsregeln für Arbeitnehmer, ohne das politische Mitspracherecht, das ein EU-Mitglied hat.

2. des Modells Schweiz. Dieses beruht auf bilateralen Verträgen der Schweiz mit der EU und schließt eine Mitfinanzierung der EU sowie das Beachten der Freizügigkeitsregeln ein.

3. des Modells Türkei. Mit der Türkei besteht eine Zollunion, die die Märkte für die verarbeitende Industrie öffnet, nicht aber für Finanzdienstleistungen.

4. des Modells Freihandelsabkommen nach dem Vorbild von CETA (EU-Kanada) und TTIP (EU-USA).

Nachdem mit dem Vereinigten Königreich der wichtigste Gegner von »mehr Europa« das politische Spielfeld verlassen will, lag es eigentlich nahe, das Ziel der »Vereinigten Staaten von Europa« mit Leben zu füllen. Jedoch kamen die europ. Föderalisten im Post-B.-Diskurs kaum vor. Deutsche Politiker wie Wolfgang Schäuble oder Ursula von der Leyen hielten zwar grundsätzlich an der Vision des geeinten Europa fest – wollten aber auch als Reaktion auf die B.-Entscheidung diese nicht zur Priorität machen. Die Brüsseler EU-Vertreter, allen voran Jean-Claude Juncker als damaliger Kommissionspräsident und Martin Schulz als ehemaliger Parlamentspräsident, sahen hingegen weiterhin in der Herausbildung einer echten europ. Regierung und eines starken europ. Zwei-Kammer-Parlaments mit erweiterten Kompetenzen das »Gegengift« gegen europ. Missverständnisse und gegen die ungenügende Umsetzung der Vorteile der europ. Integration, zum Beispiel durch eine europ. Haushaltspolitik, auch wenn Juncker einräumte, diese Ideen könnten jetzt nicht umgesetzt werden.

Politisch zeichnete sich ab, dass das engere Zusammenwirken der EU-Staaten (und das war wohl so etwas wie ein Plan-B der Kommission) auf jenen Gebieten vorangetrieben werden sollte, die möglichst vielen Mitgliedstaaten unmittelbar einleuchten wie bei der Beschaffung von Rüstungsgütern (Kostenersparnis), der Verteidigungspolitik oder der Terrorismusbekämpfung. Damit wird aber die EU nicht automatisch zusammengeführt, sondern es entsteht eine EU der Blockbildungen. Denn schart man Interessenten an bestimmten Themen um sich, fördert dies die Versäulung der EU und nicht deren Einheit. Blöcke gibt es hinsichtlich der ungelösten Flüchtlingsfrage (z. B. Visegrád-Staaten), hinsichtlich der ungelösten Staatsschuldenkrise (Südländer, einschließlich Frankreich) oder hinsichtlich der Haltung gegenüber Russland (balt. Länder und Polen).

Der B. bringt die machtpolitische Struktur der EU ins Wanken. Vielleicht hätte ein funktionierendes dt.-frz. Tandem dies überspielen können – aber Frankreich trennt im Augenblick vor allem in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr von Deutschland, als beide Länder eint. Italien und Spanien fallen ebenso wie Frankreich wegen ihrer ökonomischen Probleme als Integrations-Avantgarde aus. Instabilität in der europ. Architektur erzeugt aber nicht alleine die Ressourcenfrage bzw. ökonomischer Erfolg einzelner Mitgliedstaaten. Instabilität entsteht auch dadurch, dass der B. lose informelle Koalitionen in der EU schwächt. So war das UK quasi der Sprecher für die Rechte der Nicht-Euro Länder in der EU. Mit dem Vereinigten Königreich repräsentierten die Länder außerhalb des Euros 40 % des BIP der Euroländer – ohne UK nur noch eine Größenordnung von 16 % des BIP der Euroländer. Jetzt können die Nicht-Euroländer innerhalb der EU kaum mehr ihre Gruppeninteressen erfolgreich artikulieren. Der Deal von David Cameron zur Vermeidung des B. hätte von den nicht-EU-Staaten den Druck genommen, den Euro übernehmen zu müssen – denn in der Vereinbarung wurde anerkannt, dass die EU mehrere Währungen kennt.

Mit dem Wahlsieg Boris Johnsons im Dezember 2019 und der stabilen Mehrheit der konservativen Partei im Parlament war der Weg frei für die Ratifizierung des Austrittsabkommens, sodass der B. am 31.1.2020 wirksam wurde; in der Übergangsphase bis zum 31.12.2020 gelten zunächst die EU-Regelungen für Großbritannien weiter.

Internet

Literatur

  • P. Diamond u. a. (Hg.): The Routledge Handbook of the politics of Brexit, London u. a. 2019.

  • R. Sturm: Brexit: Das Vereinigte Königreich verlässt die EU, aber wie?, in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik (GWP), H. 3/2018, S. 341-350.

  • T. Winkelmann/T. Griebel (Hg.): Der Brexit und die Krise der europäischen Integration, Baden-Baden 2018.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: R. Sturm

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28 minus 1: Im Sommer 2016 stimmten die Menschen in Großbritannien für den EU-Austritt. Der Spicker erklärt kurz und knapp das Wichtigste zum Brexit und zu den Beziehungen Großbritanniens mit der EU.

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