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Wie werden Menschen zu Mördern? | Begleitmaterial zu „Der Balkon“ | bpb.de

Wie werden Menschen zu Mördern?

Moritz Schramm

/ 7 Minuten zu lesen

Deutsches Erschießungskommando in Kondomari (Kreta), 2. Juni 1941. (© Bundesarchiv, Bild 101I-166-0525-39)

Die Frage, wie Menschen zu Massenmördern werden, drängt sich angesichts der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg verstärkt auf. Nachdem in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch die These verbreitet war, dass die Täter der Massenerschießungen vor allem pathologische Einzelfälle gewesen seien, die mit der übrigen Bevölkerung nichts gemeinsam hatten, hat sich inzwischen das Wissen durchgesetzt, dass die Täter „ganz normale Menschen“ waren. Sie kamen aus allen sozialen Schichten der Gesellschaft und wiesen kaum psychologische Auffälligkeiten auf, wie man früher angenommen hatte. Die Frage nach der Täterwerdung wird dadurch noch dringender. Welche Mechanismen führen dazu, dass normale Menschen zu Tätern werden, und welche Mechanismen können es verhindern?

In der Forschung standen sich lange zwei Deutungsansätze gegenüber. Während die Intentionalisten davon ausgehen, dass die Täter vor allem aufgrund ihrer ideologischen Vorprägungen zu Tätern wurden, also die Taten bewusst gewollt („intendiert“) haben, legen die Situationisten stärker Wert auf „situative und soziale Dynamiken“, also auf die konkrete Lebenswelt und die unmittelbaren Erfahrungen der Soldaten zum Zeitpunkt der Massenmorde. „Vereinfacht gesagt, werden die Soldaten nach der einen These zu Mördern, weil sie Nazis, nach der anderen, weil sie Soldaten sind“, so fasst der Historiker Johannes Hürter die beiden gegensätzlichen Deutungstraditionen zusammen. Heute geht man dagegen zunehmend von Zwischenformen aus.

Demnach spielt sowohl die konkrete Situation eine Rolle, als auch die jeweils geltende gesellschaftliche Moral und die daran geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen. In der Forschung spricht man dabei von einem normativen Rahmen, oder auch Orientierungsrahmen. Dieser Rahmen kann sich, das wissen wir nicht nur aus der Zeit des Nationalsozialismus, überraschend schnell ändern. Im Laufe von wenigen Jahren kann es zu einer Verschiebung der gesellschaftlichen Moral kommen, so dass das Töten nicht nur legitimiert ist, sondern geradezu gefordert wird. In seinem Buch Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden von 2005 hat der Sozialpsychologe Harald Welzer versucht, die dahinter liegenden Mechanismen nachzuzeichnen. Demnach geht allen Völkermorden der neueren Geschichte die moralische und rechtliche Ausgrenzung der späteren Opfer voraus, die zudem häufig als Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft vorgestellt werden. Auf diese Weise ergibt sich nach und nach ein neuer „normativer Rahmen“, in dem das Töten erlaubt und sogar geboten erscheinen kann. Das Morden setzt also voraus, „dass sich die Definition dessen, was Recht und Unrecht ist, insgesamt verschoben hatte – so dass das Töten von Menschen als ‚gut‘ gelten konnte, weil es dem übergeordneten Wohl der Volksgemeinschaft diente“. Auf diese Weise kann es also „normal“ werden, Dinge zu tun, „die nach Maßgabe einer universalistischen Moral verboten sind“.

Das gilt auf ähnliche Weise auch für den Partisanenkrieg, der vom Völkermord zu trennen ist. Im Partisanenkrieg basieren die Massaker an der Zivilbevölkerung und die Geiselerschießungen weniger auf rassistischer und rechtlicher Ausgrenzung. Sie dienen vor allem der Abschreckung. Zivilisten, die nicht gegen die Besatzer kämpfen, werden getötet, damit andere Zivilisten die Partisanen aus Angst vor weiteren Morden an Kindern, Frauen und alten Menschen nicht unterstützen. Letztlich soll damit der Widerstand gegen die Besatzer gebrochen werden.

In beiden Fällen erklärt sich durch den veränderten Rahmen, weshalb die Soldaten auch dann noch morden konnten, wenn die Taten ihren eigenen Empfindungen und Gefühlen entgegenstanden. Sie mordeten, so drückt es Welzer aus, weil es ihnen in ihrer Rolle als Soldaten, also professionell, geboten schien. Dabei bestand möglicherweise sogar eine Distanz zu ihren Gefühlen: „Sie mordeten gewissermaßen nicht als Person, sondern als Träger einer historischen Aufgabe, hinter der ihre persönlichen Bedürfnisse, Gefühle, Widerstände notwendig zurückstehen mussten. Das heißt, sie mordeten mit Hilfe einer subjektiven Distanz von der Rolle, die sie ausführten“.

Verbreitet ist dabei wohl auch das Gefühl der Täter, sie seien „anständig geblieben“, selbst wenn sie fürchterliche Morde und Erschießungen zu verantworten hatten. n der Konsequenz bedeutet das, dass die Täter „sozialpsychologisch auf ein Normalmaß“ schrumpfen, was freilich, so Welzer, „nun mehr Schrecken beinhaltet als die Vorstellung, sie hätten irgendwelche Sozialisationsdefizite besessen, seien sadistisch, brutalisiert oder was auch immer gewesen“. In der Wirklichkeit sei es viel schlimmer gewesen: „Sie haben einfach das getan, von dem sie glaubten, dass es von ihnen erwartet wurde. Und wenn ihnen diese Erwartungen gegen den Strich ihres persönlichen Empfindens ging, dann haben sie sich subjektiv von der professionellen Rolle distanziert“.

Die Geschichte des Nationalsozialismus hat, genauso wie die Völkermorde zu anderen Zeiten, gezeigt, wie schnell sich moralische Vorstellungen verschieben können und wie schnell Menschen in der Lage sind, einen neuen „normativen Rahmen“ zu übernehmen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich jeweils um einen spezifischen Referenzrahmen handelte, der die Ausprägung der Gewalt beeinflusste. Und auch die Frage, warum die deutschen Soldaten auch dann noch weiterkämpften, als der Krieg für sie schon längst verloren war, lässt sich auf dieser Grundlage deuten. Welzer und Neitzel veranschaulichen das unter anderem anhand eines Vergleichs zwischen deutschen und italienischen Soldaten:

Zitat

Die Italiener interpretierten ihre Rolle als Soldaten anders als die Deutschen. Im Vergleich zu ihren Kameraden aus der Wehrmacht identifizierten sich die italienischen Soldaten deutlich weniger mit ihrem Kriegseinsatz. Und sie identifizierten sich auch deutlich weniger mit militärischen Werten wie Tapferkeit, Einsatzwille und Opferbereitschaft – Tugenden, die in der Wehrmacht im Allgemeinen kaum hinterfragt wurden.

S. Neitzel /H. Welzer: Soldaten, Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Fischer Taschenbuch: Frankfurt am Main 2011, S.355ff.

Zugleich agieren nicht alle Wehrmachtssoldaten gleich. Es gibt vielmehr erhebliche Unterschiede zwischen den Soldaten. Zwar mussten sich alle an den militärischen Werten und Normen orientieren, wenn sie nicht aus der Rolle fallen wollten, doch „nicht jeder verinnerlichte den Tugendkatalog der Wehrmacht in gleichem Maße“, so Felix Römer. In der Geschichte des Zweiten Weltkrieges gibt es durchaus Berichte von deutschen Soldaten, die die Teilnahme an den Morden verweigert haben. Die Verweigerung reicht von Sich-Entziehen bis zur aktiven Zusammenarbeit mit dem Widerstand im jeweiligen Land. Insgesamt gesehen ist eine solche Widerständigkeit allerdings selten. Aber auch unterhalb der gezielten Verweigerung oder des aktiven Widerstands gab es signifikante Differenzen:

Zitat

Der Konformitätsdruck in der Wehrnacht und die Dynamik des Krieges erklärt vieles, aber nicht alles. Gewiss war das Individuum oft ohnmächtig gegenüber dem gewaltigen Geschehen. Doch abhängig vom Kontext und ihrer hierarchischen Position blieb den Soldaten trotzdem ein Rest an eigener Entscheidungsgewalt und persönlicher Verantwortung

Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen, Piper: München 2012, S. 474f.

Und auch die Reaktionen der Vorgesetzten auf resistentes Verhalten waren durchaus unterschiedlich. Immer wieder wurden Soldaten vor Massenerschießungen wohl vor die Wahl gestellt, ob sie mitmachen oder nicht. Und es gibt sogar Erzählungen, nach denen Soldaten, die eine Teilnahme an den Morden abgelehnt haben, von ihren Vorgesetzten gegen die Anfeindungen aus der Gruppe beschützt wurden.

Die Frage, wer die Teilnahme an den Morden verweigert, ist jedoch nur schwer zu beantworten. Eine Rolle spielt sicherlich das Hinterfragen des jeweils geltenden „normativen Rahmens“, also das Nicht-Übernehmen von bestimmten, in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptierten Vorstellungen von Moral und einer angeblich historischen Notwendigkeit. Ein weiterer Faktor ist vermutlich das frühe Einüben abweichenden Verhaltens.

Zugleich kann man davon ausgehen, dass die meisten derjenigen, die verweigern, ein starkes eigenes Fundament an Werten und Normen haben, die sie vor einer Beteiligung beschützen. So zeigten sich bei manchen Soldaten „tiefer wurzelnde Vorbehalte gegen das Militär“, die wohl auf die Sozialisation zurückgehen. Gerade in der Arbeiterschaft und in den katholischen Schichten gab es demnach seit dem Kaiserreich immer wieder „Resistenz gegenüber der Staatsmacht“, die, so Felix Römer, in Teilen im Nationalsozialismus fortwirkten.

Auch wenn breite Teile dieser Schichten und Milieus sich ebenfalls in den Nationalsozialismus einordneten und den neuen Referenzrahmen übernahmen, überdauerte doch zumindest „in den harten Kernen der katholischen und sozialistischen Sozialmilieus“ einiges Widerstandspotential, „das der Identifikation mit dem soldatischen Ethos der Wehrmacht entgegenstehen konnte“. Auffällig ist dabei, dass diese Resistenz gerade bei Männern auftauchte, die eine starke Identifikation mit dem jeweiligen Milieu hatten und beispielweise, so Römer, „in Milieuvereinen oder Parteien aktiv gewesen waren und einen erhöhten Politisierungsgrad aufwiesen“.

Dennoch handelte sich auch hier nur um Ausnahmen. Die Erfahrung aus den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs belehrt uns daher, dass fast alle Menschen in bestimmten Situationen und in bestimmten Kontexten dazu bereit sind, vergleichbare Taten zu begehen. Die Annahme, dass es sich bei den Tätern um pathologische Einzelfälle handelt, hat sich nicht bestätigt. Die Täter waren normale Menschen, genau wie wir.

Quellen / Literatur

Auf der Website von Respekt für Griechenland e.V. finden Sie für die Bildungsarbeit Externer Link: ausführliches Begleitmaterial zum Film und einen Externer Link: Erfahrungsbericht zur Verwendung des Films an Schulen, in der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Johannes Hürter, „Vorwort“, in: Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen, Piper: München 2012, S. 9-15, hier: S. 12. Die vermittelnde Sicht wird gestützt durch Abhörprotokolle von deutschen Soldaten in britischer und US-amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Während Felix Römer in seinem Buch die geheimen Abhörprotokolle von deutschen Soldaten im „Joint Interrogation Center Fort Hunt“ im Staat Virginia, USA, auswertet, beziehen sich der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer in ihrem Buch Soldaten, Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Fischer Taschenbuch: Frankfurt am Main 2011 vor allem auf belauschte Gespräche unter Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft.

  2. Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Fischer: Frankfurt am Main 2005.

  3. Ebd., S. 37

  4. Ebd.

  5. Ebd., S. 38

  6. Vgl. Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Fischer: Frankfurt am Main 2010.

  7. Welzer 2005, a.a.O., S. 39

  8. Ebd.

  9. Römer, a.a.O., S. 474.

  10. So auch beim Massaker in Lyngiades: Christoph Schminck-Gustavus: Feuerrauch. Dietz Verlag: Bonn 2013, S. 171-178. Respekt für Griechenland, Begleitmaterial zum Film Der Balkon-Wehrmachtsverbrechen in Griechenland, 5. Kap.: Widerstand in Griechenland und dessen Unterstützung durch Deutsche, 2023, Karl der „Gute“ und Zwei Unterstützer der Partisanen

  11. Beispiele dazu in Stefan Ruzowitzkys Dokumentarfilm Das radikal Böse Deutschland/Österreich 2013), in dem die psychologischen Prozesse und individuellen Entscheidungsspielräume der Angehörigen der deutschen Sicherheitspolizei und des SD im Zweiten Weltkrieg untersucht werden, die ab 1941 zwei Millionen jüdische Zivilisten in Osteuropa erschossen. Siehe http://www.dasradikalboese.wfilm.de/Das_Radikal_Bose/Start.html, sowie: https://www.youtube.com/watch?v=Qosc5cqfQaU (abgerufen 27.2.2023)

  12. Römer, a.a.O., S. 150

  13. Ebd.

  14. Römer, a.a.O., S. 151

  15. Ebd.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor: Moritz Schramm
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